September 2002
Im Musée d’art contemporain in Montreal werde ich auf einen «Walk» von Janet Cardiff aufmerksam. Eine Angestellte reicht mir eine Videokamera und Kopfhörer und führt mich an den Ausgangspunkt eines filmischen Erlebnisses meiner Welt. Ich klappe den LCD-Bildschirm der Kamera auf, setze die Hörer auf und drücke den Startknopf. Cardiffs Stimme leitet mich: Öffne die Glastüre, gehe geradeaus, nicht zu schnell, stopp, jetzt links. Mein Blick wandert zwischen dem Bildschirm und den Museumsgängen, denen ich entlanggehe. Auf Video: derselbe Gang. Manchmal kreuzen Menschen meinen Weg – auf dem Monitor, in echt? Ich werde zur Autistin, meine Ohren sind abgeschirmt und auch meine Augen, und gleichzeitig schärfen sich meine Sinne. Ich versuche zu unterscheiden zwischen dem, was ich berühren könnte, wenn ich wollte, und dem, was ich durch Cardiffs Kameraaugen sehe, dank ihrer aufgenommenen Stimme höre. Wie ich jeden Raum doppelt betrete, ihn doppelt sehe, unmittelbar und mediatisiert, wie ich beide Räume, die doch eigentlich gleich sind, kurzschliesse, falle ich in ein schwarzes Loch. Plötzlich stehe ich in einer Tiefgarage, und da ist: niemand. Cardiff spricht nicht mehr, doch ich höre Schritte, von hinten, nicht meine, nicht Cardiffs, und doch bin ich allein. Ich drehe mich um, höre Cardiffs schnellen Atem, bekomme selbst kaum Luft, habe Angst. Es ist bloss ein Film, will ich mich beruhigen, doch ich bin Teil geworden. Teil einer Kunst, die Ebenen verbindet und radikal vom Publikum abhängt. Ein Publikum, das zwar nur im Befolgen der Anweisungen, im taktvollen Mitgehen also, zur maximalen Mitwirkung kommt, das aber belohnt wird mit einer äusserst sinnlichen Spiegelung, Hinterfragung und Feier der Emotionsmaschine Film.
Mai 2000
Zum ersten Mal bin ich an meinem Geburtstag allein. Ich gehe an den Ort, an dem ich mich meist heimisch fühle, an den Ort, an dem ich mich selbst oft beschenke: ins Kino. Es ist ein altes Kino mit Stil hier in Northampton, Massachusetts, samt rotem Satinvorhang. Das Programm wechselt jede Woche. Heute hat Sofia Coppolas erster Film, The Virgin Suicides (USA 1999), trotz Frühlingsflirren Dutzende Teenager angelockt, für die Popcorn zum Kinobesuch gehört wie der Donner zum Blitz. Jungfrauen, Selbstmord, zwei Themen im Titel, die direkt die Jugend ansprechen und aus ihr sprechen. Nicht gerechnet aber haben sie mit einem Vorfilm. Ratlos, manchmal kichernd, oft johlend, sehen sie Bruce Webers Kurzessay Gentle Giants (USA 1995) über die Leinwand flimmern. Wie er seinen Hunden die Liebe gesteht und gleichzeitig all den Ikonen der Fünfzigerjahre, allen voran Liz Taylor, wie der Autor selbst als Junge auf Super-8-Material zu sehen ist und sein Fanbuch mit all den sorgfältig ausgeschnittenen und eingeklebten Starporträts, wie ihm die Pin-ups schliesslich helfen, seine (Homo-)Sexualität zu finden, berührt mich, hüllt mich mit bildlicher Poesie in Wehmut – die Teenager im Saal macht es unruhig. Und so kann ich mich nicht ganz hingeben, bin irritiert über das Geraschel und Getuschel und kann gleichzeitig den Film nicht mehr bloss mit meinen Augen sehen, sondern auch mit denjenigen der zehn Jahre Jüngeren. Mann, da hat ein oller alter Typ seine Komplexe an Filmstars geheftet, was hat der nur? Er ist alt geworden und hat es erkannt, er weiss, dass auch die Stars verfettet sind oder mehrfach operiert (oder bestenfalls früh gestorben), doch in seinem Notizbuch, da sind sie jung, schön, mysteriös, begehrenswert, und da ist auch der Junge, der die Bilder hütet, bevor er sein eigenes Alter sieht, bevor er Illusionen hinterfragt. Als der Junge alt ist, sieht er das Leben in seinen Neufundländern, so voller Bewegung, so ohne Eitelkeit. Die Teenager im Kino klatschen am Ende – vor Erleichterung, dass die Auseinandersetzung mit dem Altern zu Ende ist. Wer jung stirbt, erspart sich die Melancholie des Verlorenen, doch müssen wir auch die Melancholie der Jungen, ihren Schmerz ernst nehmen. Das zeigt The Virgin Suicides – und selbst das Unverständnis der Teenager ist ernst und mein Drang, sie bewusstzurütteln für die anderen Bilder dieser Welt und für eine Vergangenheit vor ihrer Geburt, vielleicht nur arrogant.
Februar 2000
Mit einem alten Schulfreund gehe ich in After Life (Wandafuru raifu, J 1998) von Hirokazu Kore-Eda, einen Film über das Reich zwischen Leben und Tod, das hier so gar nicht einem Vakuum gleicht und auch nicht einem Fegefeuer. Bevor sie in die Ewigkeit übertreten, müssen die Bewohner zurückblicken und eine einzige Erinnerung auswählen, die sie ins Jenseits mitnehmen dürfen. Diese Erinnerung wird nachgestellt und von der Belegschaft des Zwischenraums gefilmt. Vergangenes wird vorgeführt, um eine neue, eine ewige Vergangenheit zu werden.
Japanische Filme gehe ich am liebsten mit jenem Freund schauen, denn uns beide verbindet eine Leidenschaft für alles Japanische – obwohl wir beide noch nie in Japan waren. Er hatte immerhin einmal eine japanische Freundin, und beide haben wir vergeblich (und wohl nicht ausdauernd genug) versucht, die Sprache zu lernen. Statt im Filmpodium sitzen wir plötzlich gemeinsam im Niemandsland zwischen der Filmwelt und Verknüpfungen in unserer verbundenen Geschichte, zwischen After Life und den anderen japanischen Filmen, die wir zusammen gesehen haben, zwischen der Suche nach der richtigen Sitzposition auf unbequemen Stühlen und dem Blick zurück auf unser Leben, auf das Leben der Filmprotagonisten. After Life wird mir schliesslich zur Parabel für das Kinoerlebnis, in dem der Alltag aufgehoben und uns doch vorgeführt wird – als Spiegel oder gerade im krassen Gegensatz zum Gezeigten –, wo Vergangenheit immer auf Gegenwart stösst, Zweidimensionalität auf den Körper.
Dezember 1996
Im Kino Morgental, am Stadtrand Zürichs, sehe ich in einer Pressevisionierung Fallen Angels (Duo luo tian shi, Hongkong 1995) von Wong Kar-wai. Wie ich in meiner Kritik nachlesen kann, gefiel mir der Film damals nicht, entgegen meinem heutigen Empfinden. Zu schnell war mir alles und zu wirr, ich schrieb von einer «Bilderflut». Ich war wohl auch überfordert in diesem Raum-ZeitGefüge, in dem alles zu zerfliessen scheint und doch so klar getrennt wird zwischen den Liebenden, die sich kaum treffen. Die Figuren sind fremd: sich selbst, einander, mir Westlerin. Gleichzeitig wirken sie in den durch die Weitwinkel verzerrten Räumen aufgehoben: geborgen in ihrer Auflösung. Ein Flor von Trauer und Trance umgibt sie, ein Motiv, das sich durch die Filme von Wong Kar-wai zieht wie eine Geisterstimme durch kollektives Bewusstsein. Ich habe den Film nie wieder gesehen; seine Spuren haben sich in meinem Kopf verwischt. Die so passende Verschmelzung von gegensätzlich Gedachtem, von Einsamkeit und Geborgenheit, verleiht dem Film im Rückblick eine Aura von genialer Originalität.
Drei Jahre später zog ich nach Wollishofen, um die Ecke das Morgental. Wie so oft, übersah ich das Nahe und ging nur sehr selten in dieses Studiokino. Heute gibt es das Morgental nicht mehr. Nachdem ein Holzgeschäft im ehemaligen Kinogebäude nicht zu überleben vermochte, ist eine Apotheke über die Strasse umgezogen und bietet neben Aspirin Dragees gegen Vergesslichkeit. In Zürich gibt es keine Kinos mehr in Aussenquartieren, dafür hat 2004 im Vorort Dietlikon ein Multiplex eröffnet.
Februar 1995
Im Capitol, wo man immer das Tram vorbeifahren hört, sehe ich The Thing Called Love (USA 1993). Der Regisseur Peter Bogdanovich ist zwar wie Robert Altman im New Hollywood gross geworden, an dessen Nashville (USA 1975) reicht seine Ode an die amerikanische Volksmusik aber nie heran. Es geht um den Aufstieg eines jungen Countrysängers (beim leisesten Anklingen einer Countrygitarre richten sich mir die Nackenhaare auf: Ich bin allergisch). Nicht die Musik hat mich ins Kino gelockt, auch nicht die konventionelle Liebesgeschichte – der Hauptdarsteller war es: der junge River Phoenix, der in My Own Private Idaho (Gus Van Sant, USA 1991) dem Schlafwandeln einer Generation ein Gesicht gegeben hatte. Phoenix war seit dem 31. Oktober 1993 tot, gestorben an einer Überdosis vor dem Viper Room, dem Club seines Freundes Johnny Depp. Ich war ein bisschen verknallt in River Phoenix und wehmütig, als ginge es auch um das Ende meiner Jugend. Wie unsere Eltern und Grosseltern schufen wir uns unsere Idole aus den jung Gestorbenen; ein halbes Jahr nach Rivers Tod schoss sich Kurt Cobain Schrotkugeln in den Kopf, und wir hatten neben unserem James Dean auch unseren Jim Morrison.
August 1991
Dingle ist aus zwei Gründen bekannt: Hier tummelt sich ein halb zahmer Delfin (anscheinend noch heute), und die Kleinstadt ist die am weitesten westlich gelegene in Irland. Statt den Delfin zu besuchen, gehen wir – ein Ferienfreund, eine Klassenkameradin und ich – ins Kino: The Silence of the Lambs, Jonathan Demmes grandioser Thriller (USA 1991). Ohne auf den Kannibalismus und Hautfetischismus vorbereitet zu sein, war ich zunächst vor allem davon beeindruckt, dass die Leute im Kino rauchten – mittlerweile sind in Irland sogar die Pubs zu Nichtraucherräumen erklärt worden. Eingelullt von der Dunkelheit, wusste ich meine Grimassen unbeobachtet, doch mein Aufschreien, mein Angstwimmern und endlich mein Aufatmen wurden vom Raum nicht geschluckt. Clarice Starling überlebt, doch auch Hannibal ist draussen im gleissenden Licht, mit der Absicht, einen «Freund zum Essen einzuladen». Mein Kopf brummt vor Anspannung, die Meeresluft klärt in dieser dunklen Nacht. Wir steigen auf unsere Räder und fahren ohne Scheinwerfer, ohne Nachtsichtgerät durch das unbeleuchtete Dingle ins B&B. Die Augen geschlossen, liege ich auf dem Bett und höre Walkman: Ich versuche, mich zu entspannen. Als könnte ich so einfach von einer fiktiven Welt in die nächste flüchten. Als der Ferienfreund ins Zimmer schleicht, höre ich ihn nicht – als er mich anstupst, schreie ich so laut, dass die Klassenkameradin in der Stube aufschreckt. Die Angst sass mir in den Knochen, kurz ist sie draussen: eine Anekdote, bis heute.
Jedes Mal, wenn ich den Film wieder sehe, bin ich nicht nur im Kinosaal oder auf dem Sofa, ich sitze auch vor einer verqualmten Leinwand und liege im nur vermeintlich sicheren Bett. Irgendwo lauert ein Kannibale mit Onkel-Gesicht und, wer weiss, beobachtet vielleicht gerade mich.
1977
Vierjährig wurde ich zum ersten Mal ins Kino mitgenommen. An den Inhalt des Walt-Disney-Films Pete’s Dragon (USA 1977) erinnere ich mich kaum – bloss, dass ich auch so ein nettes grünes Schmunzelmonster haben wollte wie der Waise Pete. Wie der Film selbst dämmert mir der Vorführungsort weg: Im ersten Kino, das ich je betrat, sass ich nur ein Mal, es existiert schon lange nicht mehr. Es stand in der Halle des Hauptbahnhofs Zürich; man musste in den ersten Stock steigen. Das Bahnhofskino zeigte, so mein Vater, denselben Film am laufenden Band, damit die Reisenden die Zeit zwischen zwei Zügen füllen konnten. Menschen, für die Zürich nicht nur Zwischenstation war, sahen vielleicht den letzten Drittel des Films zuerst und blieben nach dem Abspann sitzen.
Seit Ende der Siebzigerjahre sind etwa acht Kinos in Zürich eingegangen, viele wurden renoviert, vergrössert oder wechselten gar den Namen; das Sexkino Radium zeigte einst Studiofilme. Die Kinos Xenix, Riffraff und Cinemax kamen neu hinzu, und heute gibt es mehr Säle denn je und fast 10 500 Sitzplätze in Zürich.
Some Like It Hot (Billy Wilder, USA 1959) muss ich ein Dutzend Mal gesehen haben. In dieser besten aller Filmkomödien zeigt sich für mich der Kern der Trauer, die ich im Kino fast immer spüre. Als ich den Film das erste Mal sah, wusste ich allerdings wenig von Trauer und nichts von Marilyn Monroe. Weil wir einen Schwarzweiss-Fernseher besassen, hatte ich ein paradoxes Aha-Erlebnis, als ich den Film zum ersten Mal im Kino sah: Er ist ja schwarzweiss! Dabei erinnerte ich mich doch an die Farben, vor allem an diejenigen der Lippen: Jack Lemmons Mund so gross, glänzend und kirschrot, Marilyn nach stundenlangem Knutschen auf der Yacht immer noch mit perfekt geschminkten, zinnoberroten Lippen. Das Kleid, in dem sie nackt ihren Wunsch nach Liebe hauchte, muss elfenbeinfarben sein, mit goldenem Zwirn, da war ich mir immer sicher. Früh schon lernte ich also, dass Farblosigkeit die Fantasie fördert.
Monroe erhellt die Szenen nicht bloss mit ihren fast weissen, perfekt frisierten Haaren, sie scheint innerlich zu glühen. Schalkhaft spricht sie darüber, wie sie einem lausigen Saxofonspieler nach dem anderen erliegt: «I’m not very bright, I guess», als kommentiere sie ironisch das Bild, von dem sie dachte, die Öffentlichkeit habe es sich von ihr gemacht. Im Film greift sie im Leiden an den Filous zum Flachmann, und doch lässt sie sich schliesslich auf einen weiteren Saxofonisten ein, freilich einen dank Crossdressing geläuterten. Marilyn Monroe ist so lebendig, so witzig, so smart in Some Like It Hot. Marilyn Monroe ist schon lange tot. Nie wird man nur Sugar (!) sehen, immer schimmert der Weltstar durch, der sein Image zu kommentieren scheint – und sich 1962 das Leben nahm. (So will es der nüchterne Blick auf eine tablettensüchtige Frau, die ein Bild ihrer selbst erschaffen hatte, dem sie nicht mehr entsprach. Der wütende Blick allerdings – oder auch der romantisierende – sucht nach einer Verschwörung, nach einem Mord.) Selten lache ich so sehr über jede Dialogzeile, und selten mischt sich diese Freude am Wort, am Spiel, an der Geschichte so offensichtlich mit einem eingebildeten Mit-Leid – nicht mit der Ukulelenspielerin, sondern mit ihrer Verkörperung.
Da sitze ich im Kino und fiebere zum x-ten Mal der Fahrt in den Sonnenuntergang entgegen, doch gleichzeitig denke ich an die Anekdoten, wie schwierig MM aus dem Bett zu kriegen war, wie oft sie gar nicht erst auf dem Set auftauchte. Wie kann jemand so Unglückliches so unbeschwert wirken? Denn ich sehe sie ja vor mir leuchten, sie ist ja da, und doch ist sie schon tot. «Il est mort et il va mourir», schrieb Roland Barthes in La chambre claire unter Alexander Gardners Porträt eines zum Tode Verurteilten. Jedem Foto sei bereits der zukünftige Tod des Fotografierten einbeschrieben. Und doch schliesse ich im Horrorfilm meine Augen, seufze ich im Liebesfilm, und weine ich im Melodrama. Oder manchmal gar in einer Komödie: heiss und kalt zugleich, voll Leben und doch schon tot.