Paolo Poloni, Zürcher mit italienischem Pass, bezeichnet sich selbst als «Auslanditaliener». Er wurde als Sohn italienischer Eltern in Luzern geboren, hat sich nie um einen Schweizer Pass bemüht, fühlt sich jedoch nicht als Italiener, und der Begriff «Secondo» sei « für jemanden ab 40 leicht pathetisch». Viaggio a Misterbianco entstand, wie Poloni sagt, aus einem Gefühl der Pflicht: Die Reise sei nötig gewesen, um mit Italien endlich ins Reine zu kommen, um ein für allemal Klarheit zu finden in der Frage, ob das Land für ihn eine Lebensperspektive darstelle. Eine andere treibende Kraft sei die Neugier gewesen: Wie sieht Italien abseits bekannter Routen aus, im Winter?
Das einzige Kriterium sei gewesen, so unvoreingenommen wie möglich zu reisen. Sich treiben zu lassen, ist das Prinzip des Films, der weniger ein Essay ist als ein Roadmovie; was ihn bewegt und trägt, ist vordergründig nicht so sehr ein Nachdenken als vielmehr ein Beobachten. Wer zu sehr nach einem roten Faden sucht, nach einer metaphorischen Ebene, einer intellektuellen Übersteigerung, sucht vergebens; statt ums Einordnen der Reiseerlebnisse in Gedankenstränge geht es Poloni um den Überraschungseffekt und die Zufallsbegegnungen, die die nächste Wegmarke bereithält.
Gewisse kritische Stimmen warfen dem Film deshalb Unentschlossenheit, Beliebigkeit vor – was vielleicht auch von Mühe zeugt, mit der Offenheit umzugehen, die sowohl die Reise als auch den Film kennzeichnet und beider Reiz gerade ausmacht.
Der Weg soll irgendwie nach Süden führen, so Polonis Prämisse, ohne geplante Route und vor allem per Autostopp; an einzelnen Orten macht er so lange Halt, wie es ihm seine Neugier gebietet. Wie Kapitel oder Kurzgeschichten reihen sich die Erlebnisse aneinander. Von diesem Film erzählt es sich fast automatisch in Anekdotenform: Afrikaner, die in Mailand die Piazza vor einer Kirche besetzen, um auf ihre Wohnungsnot hinzuweisen. Der philosophierende Rasta-Briefträger in der Toskana, der sich im Ort überhaupt nicht auskennt und die Briefkästen alle erst suchen muss. Seine Mutter, die meint, statt dreier Kinder hätte sie besser drei Spaziergänge gemacht. Die Fischer in Anzio bei Rom, die Heimatlosen und Junkies in Neapel, das kleine Nest in der Basilicata, wo alle auswandern wollen ausser ein unglaublich verliebtes Hochzeitspaar. Italien – von Mitteleuropäern und Intellektuellen hochgejubelt, die manchmal den Anschein machen, Italien besser zu kennen als die Italiener selbst – erscheint hier als fremdes, unerwartet facettenreiches, graublau getöntes Land und entspricht überhaupt nicht den Klischees aus Filmen und Postkarten. Kein sonnengetränktes Lungomare, keine gestikulierenden, schwarzgelockten Schönheiten, weder Gelati, Sonnenbrillen noch Handys kommen vor; es herrscht der Alltag, abwechselnd spannend, öde oder leicht verrückt, weil der Film eine Art Alltagsdokumentation in Reinform ist. Diese kombiniert er zugleich mit einer narratologischen Instanz: Der Ich-Kommentar des Reisenden wurde von Poloni geschrieben und von einem Schauspieler gesprochen. Dadurch erhält der Kommentar eine gewollte Künstlichkeit, es entsteht «eine Nacherzählung, als wäre der Film eine Fiktion».
Schliesslich, in Misterbianco bei Catania, trifft der Reisende auf Wunder. Es schneit in Sizilien, und der Bürgermeister höchstpersönlich kehrt mit dem Besen das Trottoir. Hier findet Poloni zu seinem Fazit: Bei der Antwort auf die Frage, wie sich Unterwegssein und Verweilen ablösen sollen und wo dies geschieht, gibt es keine Regeln ausser die, dem eigenen Instinkt zu folgen.