LAURA DANIEL

L’ESCALIER (FRÉDÉRIC MERMOUD)

SELECTION CINEMA

Rachel ist 15 und verliebt. Das Treppenhaus wird für sie zum Ort des Geschehens. Am Tag muss sie es, als Tochter des Hausmeisterehepaars, putzen, aber am Abend trifft sie Hervé. Im Treppenhaus erleben sie ihre ersten Küsse und Zärtlichkeiten, manchmal liest er ihr aus Nietzsches Also sprach Zarathustra vor. Bald aber wird das Treppenhaus für sie zu eng und die Sehnsucht nach einem ungestörten Ort immer grösser; so schlägt Hervé Rachel eines Nachts vor, mit ihm für ein Wochenende in die Normandie auszubrechen. Alles ist organisiert, und Rachel wartet um vier Uhr morgens im Treppenhaus, wie sie es mit Hervé vereinbart hat, doch er erscheint nicht. Anstatt in der Normandie verbringt sie das Wochenende in der Wohnung der jungen Lehrerin von Hervé, die zufälligerweise im gleichen Wohnblock wie Rachel lebt und die Rachel an jenem Morgen weinend im Treppenhaus vorfindet. Ihrer Freundin Jess erzählt Rachel die Geschichte vom ersten Mal, so wie sie es sich erträumt hätte. Auf die Frage, ob sie mir Hervé zusammenbleiben wird, sagt Rachel: «Non, je préfère garder le souvenir comme ça, pure.»

Mermoud erzählt die Geschichte von Rachel und Hervé mit Sorgfalt. Mit wenigen Worten und Bildern wird so viel gesagt und gezeigt, dass sich das Publikum in die Teenagerfiguren hineinversetzen kann. Schöne Bilder tragen zum Charme des Kurzfilms bei. Bemerkenswert ist die Einheit des Ortes, die von Mermoud konsequent eingehalten wird: Das Treppenhaus wird immer wieder von Neuem in einer anderen Kadrage eingefangen. Mermoud schafft es, diesen Raum lebendig zu machen, ihn mit Geschichten und Erinnerungen zu füllen. Die Not der Teenager, die nur diesen gemeinsamen Raum haben, und die daraus entstehende Spannung treiben die Geschichte vorwärts, in der sonst nur wenig vor sich geht. Die Reaktionen und Interaktionen der Teenager in L’escalier sind gut beobachtet und subtil umgesetzt. Sowohl kompositorisch als auch schauspielerisch kann L’escalier nur gelobt werden, allerdings wäre ein bisschen mehr Wagnis zu begrüssen. Der Film bleibt trotzdem eine feine, kleine Geschichte.

Laura Daniel
geb. 1978, studiert an der Universität Zürich Germanistik, Film­wissenschaft und Philosophie sowie klassischen Gesang, zeitgenössische Musik und Jazz. Mitglied der CINEM A-Redaktion seit 2002. Lebt in Zürich. Daniel Däuber, geb. 1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, u.a. für die Schweizer Filmzeitschriften Zoom und Film geschrieben, arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2018)
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