Einer der letzten Sätze in Spielreins Tagebuch lautet: «Ich war auch einmal ein Mensch.» Vor allem war sie eine Pionierin: Carl Gustav Jung behandelte 1904 die 19-Jährige in der Klinik Burghölzli als erste Patientin mit Sigmund Freuds Methode der Psychoanalyse. Nach der Genesung von ihrer Hysterie – die Diagnose ist heute zweifelhaft – studierte die jüdische Russin Medizin in Zürich, wurde eine der ersten Psychoanalytikerinnen und wirkte, auch hier Wegbereiterin, als Kinderpsychologin.
Spielreins Arbeit «Die Destruktion als Ursache des Werdens» nahm Erkenntnisse vorweg, die Freud Jahre später in seiner Schrift «Jenseits des Lustprinzips» verwendete.
Zwischen der Wissenschafterin und C. G. Jung entstand eine schwierige Liebesbeziehung, in deren Verlauf beide in Briefen Freuds Rat suchten. Aus diesem Dreiecksverhältnis ging Spielrein als Verliererin hervor. Obwohl er anfangs ihre Gefühle erwiderte, wies Jung die junge Frau zurück, weil er einen Skandal fürchtete und seine Ehe nicht gefährden wollte. Während Freud durch die Affäre das Phänomen der Gegenübertragung entdeckte, fand Spielreins Schmerz Ausdruck in ihren Überlegungen zum Todestrieb. Ihr weiteres Leben verlief unruhig: Nach verschiedenen Stationen kehrte sie, inzwischen verheiratet und von Krisen geplagt, nach Russland zurück, wo sie 1942 mit ihren beiden Töchtern von den Nazis erschossen wurde.
Dank Elisabeth Márton, einer in Schweden lebenden Deutschen, gelangt dieses bemerkenswerte Schicksal nun aus der Versenkung an die Oberfläche. Basierend auf Spielreins Tagebüchern und Briefen, die 1977 in Genf auftauchten, skizziert die Filmemacherin den Weg einer Frau zwischen Forschung und Familie, zwischen Jung und Freud, bei deren Zwist sie erfolglos vermittelte. Entstanden ist ein Dokumentarfilm, der alte Fotos sowie Zeitzeugnisse integriert, durch nachgestellte Szenen aber auch Elemente des Spielfilms enthält. Per Voice-over werden Passagen aus dem Quellenmaterial rezitiert. Diese Collage spricht für sich; sie wird nur mit wenigen Kommentaren ergänzt. Die Montage verbindet die Teile assoziativ – in Anlehnung an psychoanalytische Aufarbeitung – zu einem atmosphärischen Ganzen.
Die visuelle Ebene betört mit poetischen Schwarzweissbildern; Eva Österberg als Sabina besitzt viel Ausdruckskraft. Die grobkörnigen, braunstichigen Szenen im Burghölzli wirken zwar bedrückend, aber auch klischeehaft: Spielrein zerreisst ein Kissen, starrt mit aufgerissenen Augen vor sich hin oder irrt durch die Gänge. Die eindrücklichen Bilder setzen wohl die Anfänge der Psychoanalyse in ein neues Licht, Spielreins Seelenlandschaft allerdings können sie uns nur ansatzweise vermitteln. Márton legt das Schwergewicht auf die Sprache als Ausdrucksform des Ich, bedient sich doch auch das Verfahren Talking Cure, ein Teil von Spielreins Behandlung, der Sprache, um sich innerer Antriebe bewusst zu werden.
Mit Ich hiess Sabina Spielrein hat die Regisseurin, die selbst Psychologie studiert hat, eine Hommage an eine herausragende Persönlichkeit geschaffen und sie endlich aus der Vergessenheit befreit.