FRANCESCO LARATTA

DAS LETZTE VERSTECK (PIERRE KORALNIK)

SELECTION CINEMA

Als literarische Vorlage für Pierre Koralniks Spielfilm Das letzte Versteck dient der Roman Die Reise der Schriftstellerin Ida Fink. Den Spielfilm leiten einige dokumentarische Aufnahmen der in Tel Aviv lebenden Autorin ein. «Das, was ich erzähle, ist ganz, ganz wahr. Natürlich handelt es sich um eine persönliche Wahrheit, die nur einem selbst gehört», berichtet Fink über ihre literarisch verarbeitete Geschichte. Dieser für einen Spielfilm eher ungewöhnliche Einstieg stellt eine Würdigung der Autorin dar und weist zugleich auf die historische Authentizität der Charaktere in Das letzte Versteck hin.

Eva, die gerne studieren möchte und davon träumt, Schriftstellerin zu werden, und ihre Schwester Irene, die hingegen lieber beim Vater bleiben will, um sich zur Ärztin ausbilden zu lassen, sind 18, beziehungsweise 20 Jahre alt und plötzlich ganz auf sich alleine gestellt. Ihr Vater, ein jüdischer Arzt, schickt sie als Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt – im polnischen Zbaraz, im Herbst 1942 – scheint «das letzte Versteck», um dem Genozid zu entkommen, die «Höhle des Löwen» zu sein. So irren die zwei als Katarzyna und Elzbieta und mit gefälschten Dokumenten durch das von Krieg geprägte Land in Richtung Deutschland.

Die Reise der beiden Schwestern führt sie zunächst in das Arbeitslager einer Maschinenfabrik im Ruhrgebiet. Die Arbeit ist hart – doch die Schwestern halten zusammen und mimen die frommen polnischen Bauernmädchen; die heilige Maria als Anhänger um den Hals, falten sie jeden Abend vor dem Einschlafen die Hände zum Gebet. Doch das Gerücht, Jüdinnen seien unter den jungen Polinnen versteckt, hält hartnäckig an. Eva und Irene müssen fliehen. Bei Weinbauern am Rhein finden sie Arbeit. Auf dem Gut beschäftigt die Familie auch einen jungen Polen, in den Eva sich verliebt; ihre Liebe wird erwidert. Doch auch dieser Aufenthalt erfährt ein abruptes Ende – ebenso Evas Liebe.

Schliesslich – auf einem Rheindampfer kurz vor der Schweizer Grenze – verspotten Nationalsozialisten die zwei polnischen Serviertöchter als «kulturlos». Eva lässt sich das nicht gefallen, setzt sich ans Klavier und spielt ausgezeichnet – zeitgleich fliegt ein Flugzeug der Alliierten tief über den Dampfer hinweg und beginnt, auf die nationalsozialistische Tafelgesellschaft zu schiessen. Evas Musik begleitet diesen Angriff und kündet wie auch die Schüsse das Ende ihrer Odyssee an.

Der Film fokussiert besonders auf die psychologische Belastung eines solch gefährlichen Versteckspiels. Sich in falsche Identitäten hineinzulügen und in ständiger Angst zu leben, treibt die jungen Frauen an den Rand der Verzweiflung. Sie kämpfen gegen Depressionen, Angstzustände und Resignation an. Doch immer wieder fängt sie ihre innige Schwesternliebe auf, gibt ihnen Kraft, all das durchzustehen.

Die Geschichte schreitet mit beachtlichem Tempo voran – entsprechend müssen sich einige NebendarstellerInnen mit teils fragmentarischen Charakteren zufrieden geben. Die Figuren Eva und Irene hingegen sind äusserst prägnant, gut und bewegend gespielt. Johanna Vokalek spielt ergreifend natürlich, während Agnieska Piwowarska durch eine ausdrucksstarke Mimik besticht. Das letzte Versteck überzeugt durch eine sorgfältige und solide Machart.

Francesco Laratta
geb. 1977, Studium der Publizistik, Italienischen Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich. Lebt und arbeitet als Kulturjournalist in Zürich.
(Stand: 2006)
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