JÜRG ZBINDEN

THANK GOD IT’S FRIDAY ODER SATURDAY NIGHT FEVER AUF DEM LANDE

ESSAY

Andres umstrich das Euter von Rea, den Geruch von Gras, Heu und Kuhmist in der Nase. Obwohl die Türe zum Stall weit offen stand und nicht ein einziges Kippfenster zu war, blieb es drückend schwül. Mit etwas Holzwolle säuberte er die Zitzen, bevor Strahl um Strahl warmer Milch den Boden des Eimers kleiner werden liess. Während er sich vorstellte, was er heute Abend anziehen würde, warf sein Vater eine Gabel Gras nach der andern in die Futterkrippe. Da Andres vergessen hatte, Rea den Schwanz hochzubinden, klatschte sie ihm diesen mitten ins Gesicht, als er in Gedanken war. Überall krabbelten Fliegen und Bremsen und machten das Vieh verrückt. Im weissen Seelein, das nun den Grund des Eimers bedeckte, schwammen zwei Insekten um ihr Leben. Andres richtete eine Zitze auf die Schwimmer. – Aus dem mit Plastikfolie verkleideten Kofferradio (dünne Kuhscheisse erzielt eine beträchtliche Reichweite) falsettierten die Bee Gees You Should Be Dancing. Gern wäre Andres der Aufforderung nachgekommen. Er setzte die Melkmaschine an, bevor er doch mitsingend durch den Stallgang tanzte. Plötzlich wehklagte das Guggerziitli aus dem Radio, dann auch noch Dr Schacher Seppli: Der Vater hatte von DRS 3 auf DRS 1 gedreht. Groll stieg in ihm hoch, gegen die unmusikalischen Eltern und gegen sein Schicksal.

Die eineinhalb Stunden, bis es neunzehn Uhr schlug und er saubere Kleidung anzulegen hatte, weil er die Milch in die Dorfkäserei bringen musste, schienen ihm wie meistens wenigstens drei Stunden lang. Als er endlich aus der Dusche stieg und in seine Ausgehkeider schlüpfen durfte, war es halb acht. Bevor man sich im Konstanzer Blue Bell, der besten Disco ennet der Grenze, traf, ging Andres gewöhnlich ins Kino, ins Scala oder ins Roxy. Das Gloria hatte eine Weile brutale Eastern gezeigt, die ihn in Bann schlugen, aber nur wenige ausser ihm, so dass das Gloria schliesslich Pornofilme zeigte wie schon die zwei kleinsten Säle des Roxy.

Seit er vor drei Jahren Saturday Night Fever und Thank God It’s Friday gesehen hatte, hörte er auf seinem billigen Lenco-Plattenspieler nur noch Disco, obwohl er als Punk herumlief. Der Polyester-Look von John Travolta war nichts für ihn. Andres war dafür nicht hübsch genug. Seine Clique aus der Disco, fast ausnahmslos Secondos, deckte sich sogar mit feinen Sachen aus Zürcher In-Boutiquen ein. Er kannte die Namen dieser Boutiquen nicht, doch sie klangen wie Versprechen einer besseren Welt: Jet Set, Fiorucci, Nicaragua, Blondino. Salva und Umberto trugen im Ausgang Pullover, die mehrere hundert Franken kosteten. Andres’ Punk-Bekanntschaften hatten für solche Exzesse des Konsums bloss Verachtung übrig, genauso wie für Discomusik. Andres aber liebte die Musik der Schwarzen. Sein absolutes Lieblingsstück aus Saturday Night Fever war Disco Inferno von den Trammps. Wenn Lord Baker, der jamaikanische DJ des Blue Bell, das Blaulicht und die Polizeisirene in Gang setzte und die ersten Takte des infernalischen Songs aus den Boxen wummerten, hielt ihn nichts mehr von der Tanzfläche zurück. Dann tauchte Andres in eine andere Welt, in der er keine Probleme hatte mit Trigonometrie und Physik oder Chemie und in der keine Kühe muhten und alles vollschissen. Er fühlte sich wie Tony Manero und war für zwei, drei Minuten der DiscoKing. Punk hatte eigentlich nichts in der Disco verloren, nur Ça plane pour moi von Plastic Bertrand. Andres war auch ein Disco-Punk. Zuerst Disco, dann Punk. Vielleicht sah er deshalb wie ein Clown aus. Vom Rücken seiner Lederjacke lächelte auf einer echten Autogrammkarte «Herzlichst Ihre Anneliese Rothenberger». Er hatte eine Transparentfolie über die Rothenberger geklebt. Kein Mensch verstand, warum er eine aufgetakelte ZDF-Fernsehdiva in Leder trug. Andere Punks hatten die UK Subs, die Sex Pistols, Anarchy in Switzerland oder Fuck the System. Seine Patentante nahm es ihm übel, dass er Frau Rothenberger der Gesellschaft von Stickern und Sicherheitsnadeln aussetzte, wo sie doch so schön singen konnte. Und die Secondos hatten ebenso wenig für eine Operettensängerin übrig wie die Punks, doch war Andres ein Unikum in ihren Augen, fast ein Maskottchen. Ihn störte es nicht, wenn sie über ihn lachten. Er provozierte zwar zu gerne, noch lieber bot er indes Anlass zu freundlicher Belustigung.

Kurz vor acht stand er vor den Schaukästen des Roxy und betrachtete die Aushangfotos der aktuellen Filme. Eine späte Blondine, bestimmt schon in den Sechzigern, reichte ihm geistesabwesend die Eintrittskarte für Grease. Im Fernsehen hatte Andres einige Filmausschnitte gesehen, die nichts Gutes erahnen liessen, aber der Film war schlimmer als seine Befürchtungen. Es mochte zutreffen, dass John Travolta ziemlich affig wirkte als Italo-Amerikaner Tony in Saturday Night Fever, aber die Musik und seine Moves waren cool. Hingegen als öliger Danny mit dieser pinkfarbenen Olivia Newton-John? Und dann tröteten sie auch noch im Duett «You’re the One That I Want ... u-hu-huuu». Im Kino waren keine Teddys, die erklärten Feinde der Punks. In Konstanz gab es so gut wie keine Teddys, nur ein paar vereinzelte Skinheads. Als das Highschool-Musical aus war, machte sich Andres auf in Richtung Blue Bell. Die Disco hatte draussen keinen Türsteher postiert, aber wenn man auf die Klingel drückte, wurde einem geöffnet. Andres kannte man, obwohl er nicht viel auszugeben imstande war. Franca sass schon an der Bar, mit Mauro und dessen Bruder. Baci, Küsschen, links, rechts, links. Gerade trat Gloria zu ihnen, eine Schweizerin, die so gross war wie ein Model und befreundet mit Salvatore. Sie hatte in Zürich im High Life den Videoclip La vie en rose von Grace Jones gesehen. Grace war die Göttin der Clique. Verglichen mit ihr war Franca, die nur knapp über einsfünfzig mass, ein Zwerg. Gloria war einsachtzig, ohne Highheels. Sie fand ihre Lippen zu dünn und malte den Mund mit einem dunklen Konturenstift grösser. Alle glaubten, dass Gloria das Zeug zum Model hatte. Manchmal ging sie mit Salva nach Zürich ins Panthera oder eben ins High Life. Dort sei es fantastisch, berichteten die beiden. Andres war noch nie abends in Zürich gewesen, aber der lebhafte Verkehr und die vielen Läden hatten ihn beeindruckt. Konstanz war viel kleiner, doch auch hier liess das Fremde sein Herz schneller schlagen. – Jäh elektrisiert von der Gitarre Nile Rogers’, glitt Andres vom Barhocker und brachte sich auf dem Dancefloor zur Musik von Le Freak in eine günstige Position. Danach spielte Lord Baker A Fifth of Beethoven von Walter Murphy. Tädädädä! Und schon tanzten sie alle selbstvergessen um ihn herum.

Jürg Zbinden
geb. 1959, im Jahr von Der Tiger von Eschnapur und Der Frosch mit der Maske. Lebt und arbeitet seit langem in Zürich.
(Stand: 2004)
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