PHILIPP BRUNNER

CON INTIMISSIMO SENTIMENTO — DAS GESICHT DER MUSIZIERENDEN FIGUR IM FILM

ESSAY

Wenn ein Film von Musikerinnen oder Musikern handelt, können wir davon ausgehen, dass sie früher oder später beim Musizieren gezeigt werden. Das gilt für Biopics und ihre mehr oder weniger bekannten Personen der Musikgeschichte, für Spielfilme über frei erfundene Musikerfiguren, aber auch für das dokumentarische Künstlerporträt, eine meist aus Interviews, Konzertaufzeichnungen und Probenaufnahmen zusammengestellte Kompilation. Ausserdem gilt es für alle musikalischen Stilrichtungen, den Techno, den Rock, den Jazz oder die so genannt klassische Musik, um die es hier gehen wird. Dass er den künstlerischen Prozess darstellt, zeichnet aber nicht nur den Musikerfilm aus, sondern den Künstlerfilm allgemein.1 Welches Biopic über van Gogh verzichtet schon darauf, den Maler als Malenden zu inszenieren? Und welches Dokuporträt über Maria Callas kommt ohne Sequenzen aus, die die Sängerin beim Singen zeigen?2

Den Akt des Musizierens darzustellen, ist zwar gängig, aber nicht selbstverständlich. Für die Filmschaffenden liegt der Reiz solcher Sequenzen wohl in deren Selbstreflexivität, denn die Darstellung eines künstlerischen Prozesses, auch des musikalischen, ist immer eine Aussage über das Aussagen schlechthin – und damit ein möglicher Verweis auf den filmischen Prozess. Nicht jeder Film schöpft dieses Potenzial gleich aus: Manche wählen im Hinblick auf bruchlose Spannungskurven ein unauffälliges Erzählen, setzen auf den unbemerkten Fluss einer Geschichte. Andere flechten eine zweite, oft metaphernreiche Ebene ein, auf der sie sich über das künstlerische Aussagen äussern. Wieder andere verfahren experimenteller und sistieren vorübergehend den Verlauf der Erzählung, um unterschiedliche Facetten des (film-)künstlerischen Aktes zu beleuchten.

Typischerweise ist in den Darstellungen des Musikmachens das Gesicht der musizierenden Figur zu sehen. Das ist weniger banal, als es scheint, denn der Akt des Musizierens ist ja (auch) ein handwerklich-technischer, und so wäre es denkbar, dass der Film besonderes Gewicht auf die Inszenierung von Instrument und Händen legt. Das tut er zwar, aber nicht nur – vielleicht, weil solche Bilder nur bedingt aussagekräftig sind und sich obendrein rasch verbrauchen. Schon die schiere Geschwindigkeit, mit der sich die Hände auf der Tastatur eines Klaviers oder dem Griffbrett einer Geige bewegen, ist oft so hoch, dass sie das Auge überfordert – es sei denn, die Bewegung wird in Zeitlupe gezeigt. Aber selbst das ist riskant. Zum einen laufen Bild und Ton dann meist asynchron, da in der Regel nur die Bildspur verlangsamt wird. Die Tonspur dagegen ertönt in gewohntem Tempo; ihre Verlangsamung würde zwar dem Prinzip der Synchronität genügen, aber das Stück bis zur Unkenntlichkeit verfremden. Zum anderen besteht die Gefahr, dass sich die Mehrheit des Publikums zu langweilen beginnt: Auf den Händen eines Pianisten in Detailaufnahme und Zeitlupe zu verweilen, ist vor allem für den Klavier spielenden Teil der Zuschauer eine Attraktion (die umso grösser ist, je höher der Schwierigkeitsgrad des Stücks gilt). Der überwiegende Teil des Publikums, der über keine pianistischen Kenntnisse verfügt, reagiert jedoch skeptisch auf derartige Ausführlichkeit.

Den manuellen Aspekt des Musizierens dosiert der Film also zurecht vorsichtig. Umso regelmässiger konzentriert er sich auf die Gesichter der Musikerinnen und Musiker. Ein scheinbar problemloses Verfahren, da der interpretatorische Akt immer auch ein kreativer Prozess ist, der sich, ähnlich den emotionalen und mentalenVorgängen, im Inneren einer Figur abspielt. Prozesse dieser Art kann der Film freilich nur indirekt darstellen: durch suggestive Musik, bedeutungsvolle Kamerawinkel und auffällige Lichtsetzung oder durch eine explizierende Voice-over. Zur bevorzugten Variante gehört es, die Innerlichkeiten der Figur im Sinn einer «extériorisation de l’intérieur» auf deren Gesicht zu veräusserlichen.3

Ein erster Blick auf einschlägige fiktionale und dokumentarische Musiziersequenzen zeigt, dass diese Gesichter äusserst verschieden sind, sei es in ihrem Ausdruck, sei es in ihrem Verhältnis zur interpretierten Musik. Hoch expressive Mimiken stehen neben eigentümlich leeren Gesichtern. Ausserdem korreliert in manchen Filmen der mimische Ausdruck mit dem der Musik, während sie in anderen Fällen eigenartig quer zueinander stehen. Diese Verschiedenheit allein mit den unterschiedlichen Gesichtern der Darsteller (im Spielfilm) und Personen (im Dokumentarfilm) zu begründen – also mit vorfilmischen Gegebenheiten und damit mit der Abhängigkeit von Zufälligem –, liegt auf der Hand, greift aber zu kurz. Tatsächlich scheut der Film das Zufällige, denn solange er auf herkömmliche Art Geschichten erzählt oder dokumentarisch berichtet, achtet er mit Vorteil auf reibungslose Verständlichkeit, bereitet selbst überraschendste Wendungen planvoll vor und fügt sie einer diskursiven Logik ein.

Die unterschiedlichen mimischen Ausdrucksformen müssen also anders begründet und scheinbar Beliebiges muss auf mögliche Konventionen hin geprüft werden. Ich beschränke mich dazu weitgehend auf den Fall der Klavierspielenden Figur. Das hat damit zu tun, dass Klavier und Flügel von allen Instrumenten im Film am präsentesten sind. Etliches spricht dafür: Dank möbelhafter Gestalt und Hochglanz-Lackierung wird gerade der Flügel zur attraktiven Requisite, die sich vielfältig verwenden lässt – zur grafischen Gestaltung des filmischen Bildes (durch das regelhafte Schwarzweiss der Tasten, die Diagonale des geöffneten Deckels oder die Einbuchtung an seiner Längsseite), zur Betonung von Räumlichkeit (durch seine Länge und Breite), zur Studie einer in sich gekehrten Figur, eines nachdenklichen Gesichts (durch seine spiegelnde Oberfläche).

Ausserdem erlauben es Klavier und Flügel, unauffällig zwischen dem Körper des Pianisten und seinen Händen hin- und herzuschneiden – eine Möglichkeit, die der Spielfilm dankbar nutzt, wenn er auf die Hände eines Doubles angewiesen ist, um darüber hinwegzutäuschen, dass ein Schauspieler nicht Klavier spielen kann.

Schliesslich begünstigen beide Instrumente eine nahezu unbeeinträchtigte Inszenierung des Gesichts: weil die Distanz zwischen Kopf und Instrument vergleichsweise gross ist (die Mimik des Schauspielers also nicht durch das Instrument verdeckt wird) und weil der Kopf nicht in die Handhabung des Instruments eingebunden ist, sondern eine fast natürliche Haltung einnimmt und über grosse Bewegungsfreiheit verfügt. Dagegen bringen andere Instrumente Limitationen mit sich: So zwingt die zwischen Kinn und Schulter platzierte Geige zu schräger Kopfhaltung und eingeschränkter Mobilität – zu schweigen von Blasinstrumenten, die nur bedingten Raum für mimisches Spiel lassen.

Integrierte Musiziersequenzen

Als erstes Beispiel dient das Familiendrama Tout va bien, on s’en va (Claude Mouriéras, F 2000). Im Mittelpunkt stehen die Schwestern Laure (MiouMiou), Béa (Sandrine Kiberlain) und Claire (Natacha Régnier), die mit der unvermuteten Rückkehr des jahrelang abwesenden Vaters (Michel Piccoli) konfrontiert werden – ein Ereignis, das die Lebensentwürfe der Töchter und dieBalance zwischen ihnen bedroht. Während Laure sich dem Vater verschliesst, entlädt sich Béas Verletzheit in groben Ausbrüchen; Claire wiederum zieht sich, mehr irritiert als verletzt, in die Musik zurück.

In der fraglichen Sequenz sitzt sie allein am Flügel. Der Raum ist dürftig beleuchtet, eine Schreibtischlampe lässt kleine Stapel von Büchern und Noten erahnen. Claire spielt den letzten Teil aus Robert Schumanns Zyklus Kreisleriana, op. 16, ein in c-Moll gesetztes Stück, dessen Tempo in der Partitur mit «sehr rasch» vorgeschrieben ist. Claire geht weit darüber hinaus und spielt es in horrender Geschwindigkeit. Sie atmet heftig, Körper und Kopf wippen unruhig hin und her, aus dem nachlässig zusammengebundenen Haar lösen sich Strähnen und fallen in das gequälte Gesicht. Die Kamera erfasst das Geschehen in verhaltenen Bewegungen, lässt uns abwechselnd die spektakuläre Geschwindigkeit von Claires Fingern oder die Unruhe ihres Kopfs beobachten. Dieser ist aus grosser Nähe fotografiert, so dass er immer wieder aus dem Kader hinauszuschnellen droht, was die Fahrigkeit der Protagonistin noch zusätzlich erhöht.

Alle Zeichen stehen auf Sturm: der brodelnde Charakter des SchumannStücks, der gehetzte Ausdruck in Claires Mimik, die Härte und Rücksichtslosigkeit der musikalischen Interpretation – alles vereinigt sich zur Momentaufnahme einer Figur, deren emotionale Welt aus den Fugen gerät. Dass dieses Bild eindeutig ist, liegt an der Äquivalenz von mimischem und musikalischem Ausdruck, aber auch an der narrativen Einbettung der Sequenz. Unmittelbar voran ging Claires Eingeständnis, mit der familiären Situation überfordert zu sein. Wenn sie nun am Flügel sitzt, dann nicht aus Gründen des Übens; vielmehr scheint sie sich die emotionale Unruhe von der Seele zu spielen. Dass sie ihr Spiel nicht eigentlich beherrscht, sondern sich von ihm forttragen lässt, fügt sich in die Logik dieser Stimmung ein.

Das zweite Beispiel stammt aus Ingmar Bergmans Höstsonaten (S/BRD 1978), der kammerspielartigen Schilderung eines Mutter-Tochter-Konflikts. Nach Jahren der Abwesenheit meldet sich die Pianistin Charlotte (Ingrid Bergman) zum längeren Besuch bei ihrer Tochter Eva (Liv Ullmann) an. Was als Neuanfang gemeint ist, vermag den alten Verletzungen und Missverständnissen nicht standzuhalten: Die Begegnung mündet in eine schmerzhafte Auseinandersetzung, nach der Charlotte vorzeitig abreist.

Noch vor dem Ausbruch des Konflikts – aber zu einem Zeitpunkt, da er sich längst abzeichnet – soll Eva auf dem Flügel vorspielen; eine unheilvolle Idee, da das Mutter-Tochter-Verhältnis augenblicklich um eine LehrerinSchülerin-Konstellation erweitert wird. Eva fügt sich, spielt pflichtbewusst und unsicher Frédéric Chopins Prélude Nr. 2, op. 28, in a-Moll, ein unbequemes, weit von jeder Leichtigkeit entferntes Stück: Melodische Andeutungen versiegen in langen Pausen, gehen nie über ein «piano» hinaus und werden einzig durch das pulsierende Wechselspiel tiefer Akkorde gestützt. Evas Gesicht wird im Viertelprofil gezeigt, ihre Züge sind erahnbar, aber nicht wirklich lesbar. Umso eindeutiger ist der Ausdruck der zuhörenden Charlotte, die dem Vortrag in einer Mischung aus Mitleid und Missfallen folgt. Unzufrieden mit dem eigenen Spiel, fordert Eva die Mutter zur Kritik auf: Diese gerät ins Dozieren, äussert sich über Chopin im Allgemeinen und das Prélude im Besonderen. Dann setzt sie sich, ganz professionelle Pianistin, ihrerseits an den Flügel, um dasselbe Stück zu interpretieren.

Anders als zuvor bei der Tochter ist nun das Gesicht der Mutter deutlicher zu sehen: In steiler Aufsicht und als Dreiviertelprofil fotografiert, zeigt es keinerlei emotionale Regung, wirkt kalt und unzugänglich und passt auf eklatante Weise zum Prélude, das Charlotte als Ausdruck vollkommener Beherrschung, unterdrückter Schmerzen und nur punktueller Linderung beschrieben hat. Dann wechselt die Kamera ihre Position, zeigt in einer einzigen Grossaufnahme Charlottes Profil und die Frontalansicht der neben ihr sitzenden Eva, die erfolglos versucht, in der mütterlichen Mimik ein Gefühl zu entdecken. Die Einstellung ist doppelt nah, da sie die Protagonistinnen in einen allzu engen Rahmen zwängt und die Unvereinbarkeit zweier emotionaler Ausgangslagen potenziert. Aber sie zwingt auch uns, das bildfüllende Scheitern einer Kommunikation aus ungewollter Nähe mitzuverfolgen.

Tout va bien, on s’en va und Höstsonaten gleichen sich nicht nur in der Erzählung eines familiären Konflikts. Beide Musiziersequenzen werden durch die vorangegangenen Geschehnisse bestimmt, kristallisieren sich aus der jeweiligen Handlung heraus: Hier wie dort setzen sich die Protagonistinnen nicht um des Klavierspielens willen an den Flügel; vielmehr ist der Akt des Musizierens ein emotionales Ereignis, dessen Emotionalität sich aber nicht primär aus dem Musikstück, sondern aus der konflikthaften Familienkonstellation erschliesst. Diese Integriertheit in die Handlung zeigt sich, wenn man die Ausschnitte isoliert betrachtet: Claires mimische Vehemenz und die Ausdruckslosigkeit in Charlottes Gesicht wären zwar feststellbar, aber ohne die Kenntnis der Konflikte – die die Frauen ja erst ans Instrument führen – nicht hinreichend erklärbar. Den Gesichtern kommt damit eine narrative Funktion zu: Sie sind lesbarer (und zu lesender), in den Fluss einer Geschichte eingebetteter Ausdruck einer Gefühlsregung.4

In beiden Sequenzen stimmt der Ausdruck der Mimik mit dem der Musik überein. Dass Claire und Eva ausgerechnet Schumann und Chopin spielen, dürfte nebensächlich sein. Wichtiger scheint, dass die Komponisten der europäischen Romantik angehören und damit einem musikalischen Reservoir, dessen sich der Spielfilm mit Vorliebe bedient, wenn es gilt, Emotionales musikalisch zu verdeutlichen.5 Und wirklich geht es in beiden Beispielen darum, die affektive Verfassung der Figuren zu vermitteln, denn diegetische Musik «vermag über die Figuren viel auszusagen, wenn wir beobachten, wie sie auf die Musik, die sie hören oder selbst spielen, reagieren».6 Auf dem Gesicht der Figur soll das Kinopublikum sehen, was es hört. Die Musik selber bleibt im Hintergrund: Sie ist den Bedürfnissen der Geschichte untergeordnet und übernimmt jene von Adorno und Eisler so heftig kritisierte, dem Bild dienende Funktion.7

Separierte Musiziersequenzen

Nicht alle Musiziersequenzen stehen in so enger Abhängigkeit zu ihrer narrativen Umgebung. Manche sind dem erzählenden Teil des Films nur lose beigefügt. Ein Beispiel dafür ist Clarence Browns Song of Love (USA 1947), eine in den 1840er Jahren angesiedelte Dreiecksgeschichte zwischen Robert Schumann (Paul Henreid), Clara Wieck (Katharine Hepburn) und Johannes Brahms (Robert Walker), die melodramatische und komische Obertöne gleichermassen freisetzt.

Die Eröffnungssequenz spielt in der Dresdner Oper und zeigt Claras Interpretation von Franz Liszts Klavierkonzert Nr. 1 in Es-Dur, einem Werk der grossen Geste und wuchtigen Effekte. Zunächst ist die Kamera in einer der zentralen Logen untergebracht und etabliert in einer Panorama-Aufnahme die Situation: prunkvolle Deckenlüster beleuchten Parkett und Ränge; geraffte Seitenvorhänge rahmen die Bühne; ein immenser Zwischenvorhang schliesst den Hintergrund ab; davor warten Orchester und Flügel auf die Solistin. Diese betritt unter Applaus die Bühne und setzt sich ans Instrument. Das Konzert beginnt – «allegro maestoso» –, und mit dessen Eröffnungstakten werden die Credits eingeblendet.

Ein anderer Film würde sich nach diesem Vorspann aus dem Opernsaal entfernen und die eigentliche Geschichte beginnen lassen. Song of Love nimmt sich Zeit und bleibt weitere vier Minuten im Konzert. Bedächtig gleitet die Kamera an die Hauptfigur heran, lässt nach und nach ihre Züge und damit auch den Star Katharine Hepburn erkennen. Sie verweilt auf ihr (von wenigen Abstechern ins Konzertpublikum abgesehen), zeigt in derselben Einstellung immer wieder ihren Körper und ihre Hände, die mit rigorosen und vor allem passenden Bewegungen die Tasten des Flügels bedienen. Solche Beharrlichkeit hat die Funktion eines Beweises: Katharine Hepburn tut nicht nur so, als würde sie das Liszt-Konzert spielen – sie spielt es tatsächlich.8

Dagegen wird Claras Gesicht eher beiläufig gezeigt. Ausserdem lässt es kein besonderes emotionales Engagement erkennen, sondern drückt vor allem Konzentration und Ernsthaftigkeit aus. Das gilt selbst für den Moment der Zugabe: Aus Liebe zu Robert und gegen den Willen des eifersüchtigen Vaters spielt Clara «Träumerei» aus Schumanns Kinderszenen, op. 15. Damit ist eine emotionale Prämisse geschaffen, die eine hoch expressive Mimik erwarten lässt. Dennoch ist dasselbe konzentrierte Gesicht zu sehen, dessen Ausdruck weit weniger mit dem der Musik übereinstimmt als in Tout va bien, on s’en va und Höstsonaten.

Ähnlich wie Song of Love verfährt Frühlingssinfonie von Peter Schamoni (BRD/DDR 1983), ein weiteres Schumann-Wieck-Biopic mit Herbert Grönemeyer und Nastassja Kinski in den Hauptrollen. Zum einen wird erneut der (wenn auch flüchtigere) Beweis erbracht, dass Kinski selber spielt. Zum anderen tendiert auch ihr Gesicht zu konzentrierter Gelassenheit, gleichgültig, ob sie Schumanns luftig-amüsierte Papillons, op. 2, interpretiert oder die virtuose Schwere seiner Études symphoniques, op. 13. Daran ändern auch aufwühlende Ereignisse nichts – die vorübergehende Trennung der Liebenden, ihre Versöhnung, eine neuerliche Intrige von Claras Vater (Rolf Hoppe) –, selbst wenn sie den Musiziersequenzen unmittelbar vorangehen. In all diesen Momenten wird Claras Gesicht eher nebenher gezeigt, ist Atmosphärisches wichtiger: das Leipziger Gewandhaus, die aristokratischen Landgüter, die erlesenen Interieurs in Pariser Salons und die Beflissenheit des biedermeierlichen Publikums.

In Song of Love und Frühlingssinfonie ist der Aussagewert der Musiziersequenzen weniger durch Vorangegangenes bestimmt. Die Pianistinnen spielen nicht aus inneren Konflikten heraus, sondern um des Konzertierens willen. Die zahlreichen Vortragssequenzen sind von ihrem narrativen Umfeld geradezu separiert, verhalten sich weitgehend autonom und neigen dazu, den Fortgang der Erzählung zu sistieren.9 Den Konzert-Einlagen eignet damit ein Nummerncharakter, der sie in unmittelbare Nähe zu den Tanz- und Gesangsnummern des amerikanischen Musicals rückt: Sie enthalten kaum handlungsrelevante Informationen, sondern dienen dem visuellen und akustischen Vergnügen des Kinopublikums (auch wenn die Konzertsequenzen kaum je mit derselben rauschhaften Opulenz inszeniert sind wie die Musicalnummern).10 Dem entspricht, dass sich die Ausschnitte aus Song of Love und Frühlingssinfonie leicht aus ihrem Kontext isolieren lassen, ohne an Sinnhaftigkeit zu verlieren.

Anders als in Tout va bien, on s’en va und Höstsonaten geht es nicht darum, im Akt des Musizierens Emotionales zu verdeutlichen und damit Handlungsbogen aufrecht zu erhalten. Stattdessen genügen sich die Konzertsequenzen selbst und ruhen als kleine Inseln im Fluss der Erzählung. Ihre Musik rückt dadurch nicht nur in den Vordergrund, sie verliert auch ihre herkömmliche, dem Bild untergeordnete Funktion der akustisch-emotionalen Illustrierung. Eine Äquivalenz zwischen Musik und Mimik ist unter diesen Voraussetzungen nicht nötig, die Gesichter von Hepburn und Kinski müssen nicht lesbar sein.

Freilich, die Grenze zwischen zwei Spielarten filmischer Musiziersequenzen – der narrativ integrierten und der separierten – aufzuspüren, ist ein analytischer Vorgang, den die Filme so nicht vornehmen. Viele verwenden nacheinander beide Varianten. Andere wie The Music Lovers (Ken Russell, GB 1970), Farinelli: il castrato (Gérard Corbiau, B/F/D/I 1995) oder Shine (Scott Hicks, AUS 1996), heben die Grenze zwischen Integriertheit und Separiertheit auf und verweben in derselben Sequenz routiniertes Konzertieren mit hochemotionalen Ereignissen.

Dokumentarische Konzertsequenzen

Die gezielte, auf narrative Integration oder Separation abgestimmte Inszenierung der Mimik während des Musizierens kann das dokumentarische Künstlerporträt aus gattungsspezifischen Gründen nicht leisten. Sein Ziel ist nicht Illusion, sondern Information über die Wirklichkeit; ausserdem ist es mit Personen konfrontiert, die sich anders als Schauspielerinnen und Schauspieler oft unsicher und inkonsequent, zurückhaltend oder übertreibend vor der Kamera verhalten.11 Dennoch kehrt es in Konzertsequenzen immer wieder zum Gesicht der Interpretinnen und Interpreten zurück, freilich ohne ein Äquivalent zwischen mimischem und musikalischem Ausdruck garantieren zu können.

Ein erstes Beispiel stammt aus L’art du piano (Donald Sturrock / Christian Labrande, F 1999), einer für das Fernsehen zusammengestellten dreiteiligen Kompilation zahlreicher Konzertaufzeichnungen und Interviews, deren Duktus einem bildungsbürgerlichen Verständnis von klassischer Musik und einem scheinbar zeitlosen Geniebegriff geschuldet ist. Entsprechend beschränkt sich der Film auf den Kanon der bekanntesten Starpianisten.

Einer der Konzertausschnitte zeigt Arthur Rubinstein bei der Interpretation von Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 4, op. 58, in G-Dur. Dass es sich dabei um die Kadenz (des ersten Satzes) handelt, ist weniger zufällig, als es den Anschein hat. Kadenzen sind solistische Exkurse im Schlussteil eines Satzes und gelten als Ort höchster Expressivität, wo lyrische Zartheit und furiose Brillanz in dramatischem Wechsel aufeinander folgen. Wie das Schlussbouquet eines Feuerwerks haben sie die Funktion eines Höhepunkts, allerdings weniger in Bezug auf die musikalische Aussage des Werks, sondern mehr im Hinblick auf die Performance des Interpreten. Spätestens hier erwartet und geniesst das Publikum dessen Starqualitäten, die sich analog zu den Filmstars aus Eigenschaften zusammensetzen, die weit über das rein musikalische Können hinausgehen. Während der Kadenz werden die Solistinnen und Solisten selbst zur Attraktion: Ihre technische Bravour und oft genug ihre Exzentrik rücken das interpretierte Werk in den Hintergrund.

Gemessen an solchen Sehgewohnheiten wirkt Rubinsteins Ausstrahlung umso unerwarteter. Gewohnte Signale innerer Anteilnahme sucht man vergebens: kein hektisches Hin- und Herwippen des Oberkörpers, keine angestrengten, schweisstropfenden Grimassen oder aufgerissenen Augen.12 Stattdessen ist die Bewegung der Arme von geschmeidiger Präzision, bestimmen halb gesenkte Lider seine Züge, so dass der Eindruck eines schlafenden Gesichts entstehen könnte.13 Die äusserste Ruhe seiner Mimik steht in markantem (und gelegentlich komischem) Gegensatz zur zügigen Bewegtheit des musikalischen Ausdrucks. Einzig gegen Ende der Kadenz richtet Rubinstein plötzlich seinen Blick auf den Dirigenten; die Geste scheint zunächst unvermittelt, passt aber in ihrer Unaufgeregtheit zur bisherigen Stimmung.

Der Ruhe des Interpreten entspricht diejenige der Kamera: Nachdem sie Oberkörper und Hände in halbnaher Aufsicht von links beobachtet hat, zoomt sie auf die Hände, bis sie nach einer Überblendung sein rechtes Dreiviertelprofil zeigt. Gegen Ende der Kadenz kehrt sie zur Ausgangsposition zurück, und mit dem erneuten Einsatz des Orchesters bewegt sie sich rückwärts, bis sie das ganze Halbrund der Musikerinnen und Musiker erfasst – ein filmisches Signal, das den unmittelbar bevorstehenden Schluss des ersten Satzes ankündigt.

Anders gelagert ist Georges Gachots Martha Argerich – Conversation nocturne (F/CH 2002), ein nächtliches Gespräch zwischen Filmemacher und Pianistin, in das verschiedene Konzertaufzeichnungen eingebettet sind. Eine davon zeigt die Aufführung von Frédéric Chopins Klavierkonzert Nr. 1, op. 11, in e-Moll. Wir befinden uns im ersten Satz und hören einen musikalischen Gedanken, der sich aus dem ersten Thema entwickelt. Die Stelle ist von grosser Wehmut, «piano» und «espressivo»zugleich, durchzogen von filigranen Verzierungen in hohen Lagen. Von sentimentaler Süsslichkeit kann jedoch keine Rede sein: Nur wenig später wird sich das Thema zu heftiger Unruhe steigern, um schliesslich «con fuoco» in ein dreifaches «forte» auszubrechen – was im Filmausschnitt bereits nicht mehr zu sehen ist.

Die Kamera steht im rechten Winkel zu Argerich, würde ihr Profil zeigen, wenn es nicht hinter dem offenen Haar verborgen wäre. Erst einWechsel an das untere Ende des Flügels eröffnet die Frontalansicht. Anders als bei Rubinstein ist Argerichs Oberkörper in ständiger Bewegung, neigt sich rhythmisch von links nach rechts. Ausserdem blickt sie zunächst von der Tastatur weg in eine ungewisse Ferne, neigt dann das Gesicht wieder leicht vornüber. Ihre Lider sind nun halb gesenkt und blinzeln langsam und emphatisch; die Stirn ist gefurcht, wiederholt schüttelt sie den Kopf, und plötzlich spricht sie (wohl stumm) vor sich hin. Dennoch scheint dies alles nicht auf eine Verärgerung (etwa über eine Fehlleistung ihrer selbst oder des Orchesters) hinzudeuten. Vielmehr entsteht der Eindruck einer mimisch-musikalischen Übereinstimmung, als würde Argerich jene Emotionalität durchleben, die sie in der Interpretation vermittelt, ein Eindruck, der sich bei Rubinstein nicht einstellt.14

Die Liste dokumentarischer Beispiele liesse sich verlängern, etwa um Bruno Monsaingeons Richter, l’insoumis (F1998), das kluge Porträt des russischen Pianisten Swjatoslaw Richter, oder um die Musikdokumentationen, die der Sender Arte ausstrahlt. In der Tat scheint das Spektrum mimischer Ausdrucksformen so gross wie die Zahl an Musikerinnen und Musikern. Gleichzeitig erweist sich deren Mimik im Vergleich zum Spielfilm als «weniger kodiert und weniger eindeutig, weniger ausbalanciert und nur punktuell mitreissend».15 Obendrein ist keine Regelhaftigkeit darin zu erkennen, wann mimische und musikalische Ereignisse übereinstimmen oder voneinander abweichen. Das Verhältnis von Mimik und Musik ist stärker dem Zufall unterworfen, denn anders als bei den integrierten Musiziersequenzen besteht keine Notwendigkeit einer narrativen Einbindung des Gesichts. Auch im Vergleich zur separierten Variante bestehen Unterschiede: Zwar findet hier wie dort die mimisch-musikalische Korrelation nur sehr bedingt statt. Doch während dies in der separierten Sequenz ein gewollter Effekt ist, der mit Rücksicht auf dramaturgische Erfordernisse inszeniert wurde, ergibt er sich im dokumentarischen Format sozusagen von selbst. Er folgt keiner Logik der Narration, sondern ist in seiner Abhängigkeit vom Musiker und von der Frage, ob und wie dieser Musik und Emotionen mimisch ausdrückt, das Resultat vorfilmischer Gegebenheiten, auf die der Dokumentarist nur bedingten Zugriff hat.

Medial geprägte Sehgewohnheiten

So irritierend sich das Verhältnis von Mimik und Musik im Film präsentieren kann, so wenig handelt es sich dabei um ein filmspezifisches Phänomen. Dass Ähnliches auch im Alltag wirksam ist, zeigt der Bericht eines Musikkritikers über einen Auftritt der Geigerin Anne-Sophie Mutter und des Pianisten Lambert Orkis.16 Ausgehend von der Feststellung, dass sich die beiden mit ihrem Programm «einen Abstecher in den Bereich der leichten Muse» gönnen, kommentiert der Autor die «spielerischen ‹Unarten›» in Mutters Interpretation (den ausgiebigen Einsatz des «glissando»), die der Künstlerin offenkundig Spass gemacht hätten, was im Vortrag mehrfach zu hören gewesen sei. Er fährt fort: «Zu hören, nicht zu sehen, denn sie interpretierte diese schmeichlerische, rührselige und larmoyante Musik stets mit tief-ernstem Gesicht, als wäre es Beethovens Kreutzersonate.»

Lässt man das Gönnerhafte der Kritik und die Geringschätzung so genannt leichter Musik beiseite, dann bleibt nicht nur das Unbehagen des Autors über das Auseinanderdriften von mimischem und musikalischem Ausdruck. Es bleibt auch, dass er dies als ein Manko begreift, das er nicht bei sich selbst sucht, sondern der Künstlerin vorwirft. Welchen Gesichtsausdruck er auch immer zu «larmoyanter» Musik erwartet hätte – interessanter ist die Erwartung als solche.

Tatsächlich dürfte es sich dabei um ein medial generiertes Bedürfnis handeln. Auf die im klassischen Live-Konzert gewonnenen Seherfahrungen kann es jedenfalls kaum zurückgeführt werden. Zum einen ist in herkömmlichen Konzertsälen die Sicht auf die Mimik des Musikers die Ausnahme: Die meisten Plätze sind viel zu weit weg von der Bühne oder liegen in einem ungünstigen Winkel. Zum anderen garantiert selbst Nähe noch lange keinen Zugang zum Gesicht, denn nur bestimmte Musiker stehen frontal zum Bühnenrand, während gerade Pianistinnen und Pianisten quer zu ihm sitzen und bestenfalls im Profil zu sehen sind.

Dagegen ermöglicht der Film ein weitgehend ungehindertes Schauen: Durch optimale Kamerapositionen und vorteilhafte Lichtsetzung, vor allem durch das Mittel der Grossaufnahme erscheint das Musikergesicht geschönt und in einer Grösse, die im Alltag keine Analogie besitzt.17 Trotz diesen idealisierenden Voraussetzungen erfüllt nicht jeder Film das Bedürfnis nach mimisch-musikalischer Äquivalenz. Besonders die dokumentarische Konzertaufzeichnung sperrt sich dagegen, da sie im Verzicht auf schauspielerische Führung von vorfilmischen Zufällen abhängig ist und eine Übereinstimmung der beiden Ebenen höchstens punktuell bieten kann. Aber auch die separierte Musiziersequenz, die in erster Linie atmosphärische und akustische Bedürfnisse des Kinopublikums bedient, weist nur geringe oder gar keine Übereinstimmung auf. Demnach wäre die Erwartung der Äquivalenz vor allem auf die integrierten Sequenzen zurückzuführen.

Nun sind es gerade diese Sequenzen, in denen die Musik auf ihre traditionelle Funktion des affektiven Verdeutlichens reduziert wird und in denen es darum geht, etwas über den Gefühlshaushalt der musizierenden Figur auszusagen. Ob es sich dabei um eine Pianistin, einen Sänger oder überhaupt eine Musikerin handelt, ist letztlich zweitrangig. Wichtiger ist ihr Gesichtsausdruck: ein mimisches «con intimissimo sentimento», das rasch und zweifelsfrei auf Affektives schliessen lässt, durch ein geeignetes musikalisches Pendant unterstützt wird und eine empathische Reaktion des Kinopublikums begünstigt. In dokumentarischen Sequenzen dagegen stellt sich solches Einfühlen allenfalls zufällig ein, obschon gelegentlich überraschender und überzeugender als an den hoch kodierten Stellen des Spielfilms.18 Separierte Sequenzen wiederum lösen kaum Empathie aus, was nicht heisst, dass die Konzert-Einlagen aus Song of Love und Frühlingssinfonie missglückt wären; es bedeutet nur, dass die Empathie nicht in den Musiziersequenzen, sondern anderswo entsteht.

Vielleicht liegt es am hohen Empathiepegel, dass ausgerechnet die integrierten Musiziersequenzen am nachhaltigsten für das Bedürfnis des Publikums nach mimisch-musikalischer Äquivalenz in Film und Live-Konzert verantwortlich sind. Dass diese Sequenzen am weitesten von den realen Gegebenheiten des Interpretierens oder den Bedingungen des Konzertierens entfernt sind, bleibt ein Widerspruch, der sich am schwierigen Verhältnis zwischen Film(ern) und Musik(ern) entzündet: Aus musikalischer Sicht ist jedenfalls verständlich, wenn Musikerinnen und Musiker verärgert oder erheitert auf filmische Entwürfe dieser Art reagieren – erst recht, wenn sie (schlimmstenfalls) zum Klischee gerinnen in der ehrfurchtsvoll-steinernen Miene von Bach-Interpreten oder im schmachtenden Blick von Chopin-Darstellern. Aus filmischer Sicht wirken solche Momente (bestenfalls) als umsichtig dosierte Auslöser emotionalen Tiefgangs und intensiven Mitfühlens.

Zu den neueren Auseinandersetzungen mit der Thematik gehören Henry M. Taylor, Rolle des Lebens: Die Filmbiographie als narratives System, Marburg 2002; Jürgen Felix (Hg.), Genie und Leidenschaft: Künstlerleben im Film, St. Augustin 2000; Klaus Kanzog, «‹Wir machen Musik, da geht euch der Hut hoch!› Zur Definition, zum Spektrum und zur Geschichte des deutschen Musikerfilms», in: Michael Schaudig (Hg.), Positionen deutscher Filmgeschichte: 100 Jahre Kinematographie: Strukturen,Diskurse, Kontexte, München 1996, S. 197–240.

Mir ist im Bereich des Musikerfilms nur eine Ausnahme bekannt: François Girards Thirty-Two Short Films about Glenn Gould (CDN 1993), ein experimentelles Dokudrama über den kanadischen Pianisten, verlagert den Akt des Musikmachens ganz auf die Tonspur. Im Bild jedoch, und darin besteht die Ausnahme, wird zu keinem Zeitpunkt Klavier gespielt.

Michel Chion, La musique au cinéma, Paris 1995, S. 267.

Diese Art Gesichtsinszenierung ist längst erprobt. In den Zehnerjahren erwuchs sie aus der fortschreitenden Konventionalisierung narrativer Verfahren und der daraus hervorgehenden Notwendigkeit, psychologisch plausible Charaktere zu konstruieren. Sie löste die bis dahin übliche Praxis ab, das Gesicht als Attraktion zu inszenieren, die nicht «gelesen» werden musste, sondern über die man sich amüsieren oder vor der man erschrecken sollte. Vgl. Frank Kessler, «Das Attraktions-Gesicht», in: Christa Blümlinger / Karl Sierek (Hgg.), Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien 2002, S. 67–76.

Vgl. Richard Dyer, «Film, Musik und Gefühl: Ironische Anbindung», übers. von Philipp Brunner, in: Matthias Brütsch et al. (Hgg.), Emotionalität und Kino [Arbeitstitel], Marburg [erscheint 2004].

Claudia Gorbman, «Filmmusik: Texte und Kontexte», übers. von Wolfram Beyer, in: Regina Schlagnitweit / Gottfried Schlemmer (Hgg.), Film und Musik, Wien 2001, S. 16.

Vgl. Theodor W. Adorno / Hanns Eisler, Komposition für den Film, Hamburg, 1996, insbes. S. 25–28.

Musikerfilme legen oft grossen Wert auf den als Attraktion gemeinten Beweis, dass ihre Darstellerinnen und Darsteller das Instrument wirklich beherrschen. Dahinter verbirgt sich jedoch ein Dilemma: Wenn Emily Watson in Hilary and Jackie (Anand Tucker, GB 1998) das Cello richtig handhabt und die Inszenierung dies hervorhebt, gefährdet das die Illusion genauso, wie wenn Juliette Binoche in Alice et Martin (André Téchiné, F/E 1998) auf offensichtlich unpassende Art mit der Geige umgeht. In beiden Fällen rücken die Schauspielerinnen ihre Rollen zeitweilig in den Hintergrund. Die meisten Filme begnügen sich freilich mit visuellen Beweisen; nur in Ausnahmen wie The Piano (Jane Campion, NZ 1993), wo Holly Hunter den Klavierpart selber einspielte, sind die Darsteller auch zu hören.

Mit der Unterscheidung zwischen integrierten und separierten Musiziersequenzen lehne ich mich an Jane Feuer an, die dieselbe Trennung für die Gesangsund Tanznummern des amerikanischen Musicals vornimmt. Auch dort entwickeln sich Erstere aus der Handlung heraus (etwa «Singin’ in the Rain» aus dem gleichnamigen Film von Gene Kelly und Stanley Donen, USA 1952), während Letztere die Handlung sistieren (die Mehrheit der Nummern aus Backstage-Musicals wie Cabaret von Bob Fosse, USA 1972). Vgl. Jane Feuer, The Hollywood Musical, London 1993.

Vgl. Taylor (wie Anm. 1), S. 275; ausserdem Richard Dyer, «Entertainment and Utopia», in: ders., Only Entertainment, London 1992, S. 17–34.

Zu diesen und weiteren Unterschieden zwischen Dokumentarund Spielfilm vgl. Christine N. Brinckmann, «Die Rolle der Empathie oder: Furcht und Schrecken im Dokumentarfilm», in: Matthias Brütsch et al. (Hgg.), Emotionalität und Kino [Arbeitstitel], Marburg [erscheint 2004].

Dass diese Charakteristika zu den typischen eines klassischen Interpreten gehören, ist ablesbar an ihrer wiederkehrenden Verwendung in Karikaturen wie Wilhelm Buschs «Der Virtuos», erschienen 1868 in dersatirischen Zeitschrift Münchener Bilderbogen.

Dieser Eindruck hat aber auch mit Rubinsteins hohem Alter zu tun und damit, dass sich das mimische Register alter Menschen oft jener raschen und eindeutigen Lektüre widersetzt, die man bei jüngeren Gesichtern gewohnt ist.

Ein solches Gefühl von Logik (bei Argerich) oder Unstimmigkeit (bei Rubinstein) ergibt sich freilich nur in Verbindung mit der gleichzeitig gehörten Musik; eine ohne Ton vorgenommene Lektüre der Gesichter würde zu anderen Schlüssen führen.

Brinckmann (wie Anm. 11).

Thomas Schacher, «Das Konzert zur CD: Duoabend Mutter/Orkis in Zürich», in: Neue Zürcher Zeitung, 121, 27. Mai 2003, S. 54.

Alain Corneaus Tous les matins du monde (F 1991) beginnt mit einer sechsminütigen extremen Grossaufnahme, die das Gesicht des alternden Gambisten Marin Marais (Gérard Depardieu) zeigt. Einstellungen dieser Art sind so spektakulär wie problematisch, da eine solche Nähe das heikle Verhältnis zwischen der Körperlichkeit des Schauspielers und derjenigen der von ihm dargestellten Figur in Schieflage versetzen kann: Es sind in erster Linie Depardieus Falten, die wir sehen, und weniger diejenigen Marais’.

Vgl. Brinckmann (wie Anm. 11).

Philipp Brunner
Dr. phil., geb. 1971. Filmpublizist und Dozent für Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Autor von Konventionen eines Sternmoments. Die Liebeserklärung im Spielfilm (Marburg 2009), von Texten zum Queer Cinema und zum iranischen Kino sowie zu Marlene Dietrich, Romy Schneider und Tilda Swinton. Seit 2005 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2010)
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