MATTHIAS CHRISTEN

BRUCIO NEL VENTO (SILVIO SOLDINI)

SELECTION CINEMA

Nach der Beziehungskomödie Pane e tulipani (2000), die von Publikum und Kritik sehr gut aufgenommen wurde, wechselt Silvio Soldini mit seinem neuen Film erfolgreich das Genre. Brucio nel vento ist wie sein Vorgänger eine italienisch-schweizerische Koproduktion und erzählt nach einer Romanvorlage Agota Kristofs (Hier) vom tragischen Schicksal des tsche­chischen Emigranten Tobias Horwath, das erst im letzten Augenblick eine glückliche Wendung nimmt - wenn auch nicht im Roman, so doch in dessen filmischer Adaptation. Tobias wächst, wie in einer Reihe einigermassen düster gehal­tener Rückblenden zu erfahren ist, in ärm­lichen Verhältnissen auf. Seine Mutter ist Dorf­prostituierte, sein Vater - was niemand, nicht einmal das Kind, wissen darf - der allseits res­pektierte und glücklich verheiratete Dorflehrer. Als Tobias im Alter von zwölf zufällig hinter das Geheimnis kommt, sticht er seinen Vater nieder und flieht Richtung Westen.

Als einfacher Arbeiter hat er in einer West­schweizer Uhrenfabrik ein Auskommen gefun­den; wie er dorthin gelangt ist, lässt der Film offen. ln seiner neuen Heimat ist der mittler­weile gut dreissigjährige Tobias freilich genau­so ein Aussenseiter wie in seiner alten. Wenig verbindet ihn mit der tschechischen Exil­gemeinde und mit den einheimischen Bewoh­nern. Stattdessen zieht er sich zurück, schreibt Gedichte und verbringt die meiste Zeit damit, auf Line zu warten. Ob es sie tatsächlich oder nur in Tobias’ Fantasie gibt, bleibt so lange un­klar, bis sie durch einen wundersamen Zufall eines Tages leibhaftig in der Uhrenfabrik auf­taucht - als Ehefrau eines tschechischen Gast­wissenschaftlers, zu dessen dürftigem Stipen­dium sie etwas dazuverdienen will.

Soldini inszeniert die zaghafte Annäherung der beiden als schrittweise Enthüllung von Geheimnissen, die der Protagonist mit dem Publikum teilt. So weiss Tobias von Anfang an, was Line erst allmählich bewusst wird: dass nämlich die Geliebte nicht nur eine Schulfreun­din aus alten Tagen, sondern als Tochter des Dorflehrers in Wahrheit seine Halbschwester ist. Zur emotional derart aufgeladenen Liebes­geschichte liefern die verschneiten Westschwei­zer Szenerien und schlichten Interieurs, die an die frühen Filme Alain Tanners erinnern, einen angenehm nüchternen Hintergrund. Über­haupt liegt die Stärke des Films in der Art und Weise, wie Soldini die hochgehenden Gefühle durch einen zurückhaltenden Umgang mit den filmischen Mitteln austariert. So tritt das grosse Bildformat (Cinemascope) ebenso wie die Mu­sik unauffällig in den Dienst der Geschichte, die Barbara Lukešová und Ivan Franeck, die beiden bislang wenig bekannten Hauptdarsteller, mühelos tragen. Es ist daher kaum erstaun­lich, dass Brucio nel vento bei seiner Premiere im Rahmen der Berlinale 2002 als Soldinis bis­lang bester Film begrüsst wurde.

Matthias Christen
geb. 1966, Promotion mit einer Arbeit zum Form- und Bedeutungswandel des Lebensreise-Topos in Text- und Bildmedien (to the end of the line, München 1999). Publizistische Tätigkeit zu Fotografie und Film. Lebt als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds in Berlin; arbeitet an einem Buch zur Geschichte und den Funktionen des Zirkusfilms.
(Stand: 2018)
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