LAURA DANIEL

ORGIENHAUS (MATHIEU SEILER)

SELECTION CINEMA

«Halten die immer so kurz?», fragt Roman, nachdem ihm eben der Zug abgefahren ist, als er sich kurz ein Päckchen Zigaretten kaufen wollte. «Hier schon!», ist die Antwort der Ver­käuferin. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als in dem kleinen Dorf ein Hotel zu suchen. Aber dort, im Bad seines Zimmers, erwartet ihn der Anblick eines toten Mädchens, das gefesselt und geknebelt halb nackt auf der Toilette sitzt. Er zieht dem Mädchen die im Schrank gefun­denen Kleider an und verstaut die Leiche vor­erst im Schrank, später in einem eigens dafür gekauften Koffer. Diesen entsorgt er am folgen­den Tag im Keller eines Hauses bei der ausser­halb des Dorfes liegenden Tankstelle.

Dies ist ausgerechnet das Haus, in dem die Zwillingsschwester des ermordeten Mädchens wohnt, der Roman am selben Tag noch be­gegnet. Er verlässt das Dorf nicht wie geplant, sondern stellt verschiedene Erkundigungen an. Das Mädchen, seine Geschichte und das Dorf ziehen ihn immer mehr in ihren Bann. Wie er vom Hotelportier erfährt, wird berichtet, dass gegenüber der Tankstelle einst ein Haus stand, in dem ein Hexenmeister mit seinen Hexen und Jüngern Orgien feierte. Dies sei auch der Grund, weshalb von Zeit zu Zeit religiöse Gruppen das Dorf aufsuchten, um auf Hexen­jagd zu gehen.

Ein Leitmotiv von Seilers Film Orgienhaus ist das Spiel mit dem Dämonischen, das visuell stark an die Meister des grossen Kinos erinnert. Ein kleiner Seitenblick auf Fritz Langs M - Eine Stadt sucht einen Mörder hier, die Darstellung seines Protagonisten, die Erinnerungen an die Helden der Nouvelle Vague weckt, dort. Ver­satzstücke aus dem Schaffen Lynchs, Kubricks sowie Bunuels nebst Zutaten aus Märchen - insbesondere aus Rotkäppchen - sind mass­gebende Ingredienzien von Orgienhaus.

Doch was bleibt, wenn man von diesen Zitaten und Versatzstücken absieht? Sicherlich ein sehr atmosphärischer und handwerklich tadelloser Film, der vom Umgang mit dem Licht, vom Schnitt und einem konsequenten Artdesign lebt. Auch dass Seiler sich an Tabu­themen heranwagt und sich durch die Dar­stellung eines ganz, eigenen Mikrokosmos von anderen Filmemachern seiner Generation ab­grenzt, ist ihm zugute zu haken. Von Zitat zu Zitat bewegt der Film sich allerdings in immer wieder anderen Genres, ohne sich für eines ent­scheiden zu können. Auch wenn das Spiel mit verschiedenen Stilclementen durchaus reizvoll sein kann, bleibt man als Zuschauerin stre­ckenweise orientierungslos. Weniger reizvoll respektive zu reizvoll fällt dann aber die Dar­stellung des Mädchens aus. Wenn Seiler in einer der ersten Sequenzen im Close-up zeigt, wie dem Mädchen ein Knebel - der rote Haltegriff eines Springseils - aus dem Munde gezogen wird, weiss man im ersten Moment nicht, ob es sich um eine Einstellung aus einem Pornofilm handelt. An anderen Stellen im Film lässt sich die Darstellung des Mädchens zwar als An­spielung auf den Lolita-Mythos verstehen und somit in die Reihe der anderen Zitate einfügen, sie erfolgt aber weder ernsthaft noch surreal genug. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob es sich bei der Darstellung kindlicher Verführungs­kunst um eine Spielerei handelt, die sich der pädophilen Verklärung nicht bewusst ist, oder um eine Art Verfremdungsmanöver. Diesbe­züglich hinterlässt Orgienhaus einen schalen Nachgeschmack.

Laura Daniel
geb. 1978, studiert an der Universität Zürich Germanistik, Film­wissenschaft und Philosophie sowie klassischen Gesang, zeitgenössische Musik und Jazz. Mitglied der CINEM A-Redaktion seit 2002. Lebt in Zürich. Daniel Däuber, geb. 1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, u.a. für die Schweizer Filmzeitschriften Zoom und Film geschrieben, arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2018)
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