Heftige Streitigkeiten mit ihrem Partner fordern die zurückhaltende Christelle heraus zurückzuschlagen. Fluchtartig verlässt sie daraufhin das Haus und landet im heruntergekommenen Galaxy Motel, das bevölkert ist von liebenswerten, aber ein wenig obskuren Gestalten. Die Erinnerung an ihr ödes Leben mit einem schlecht laufenden Friseursalon und mit einem patriarchalen Gatten im Nacken lässt sie beinahe verzweifeln, wäre da nicht Mona, die lebenserprobte Besitzerin des Motels. Diese fasst sofort Zutrauen zu ihrer neuen «Mieterin». Und wie es der Zufall will, ist Monas Angestellte gerade hochschwanger, so dass die mittellose Christelle vorübergehend deren Job übernehmen kann. Dass sie damit den ersten Schritt in die Freiheit tut, nimmt die junge Frau zu Anfang gar nicht wahr.
Les petites couleurs erzählt von der Selbstverwirklichung Christelles. Auf sanfte Art bringt Christelle Farbe und Lebensfreude in den schummrigen Motelbetrieb, findet den Mut, als «fahrende» Coiffeuse tätig zu werden, gelangt zu Selbstvertrauen und einem neuen Lebensglück. Mona ermöglicht ihr die dazu nötigen Freiheiten. Doch der Weg führt über eine Reihe von ungewohnten, teils schwierigen Erfahrungen, in denen Christelle ihre Persönlichkeit kennen lernen und sich durchsetzen muss. Nicht zuletzt durch die feinfühlig gezeichneten, starken Frauenfiguren erinnert der Film an Percy Adlons Out of Rosenheim.
In den Wirren des Alltags finden die Frauen immer wieder Geborgenheit beim gemeinsamen Anschauen der kitschigen Fernsehserie Le Ranch de l'Amour - eine Soap-«Opera» im wahrsten Sinn des Wortes, besteht sie doch einzig aus gesungenen Dialogen. Die eingeblendeten Sequenzen der TV-Soap reflektieren als Film im Film immer wieder die Erzählweise, beeinflussen die Handlung und eröffnen neue Lesarten. Die mit Kadrage, Symmetrien und kräftigen, bunten Farben durchkomponierte Bildgestaltung ist augenfällig in Les petites couleurs. Zur Stärke des Films tragen besonders auch die beiden Hauptdarstellerinnen bei: Mit Bernadette Lafont in der Rolle der Mona hat Plattner eine in Frankreich sehr bekannte Schauspielerin engagieren können, die ihre ersten grossen Rollen unter François Truffaut und (Claude Chabrol in Filmen der Nouvelle Vague spielte. Auch Anouk Grinberg hat bereits in einer Reihe französischer Filme ihre Schauspielkunst unter Beweis gestellt. Nach einer Reihe von Dokumentarfilmen (unter anderem Hôtel Abyssinie, 1996, und Made in India, 1998) kehrt die seit Ende der Achtzigerjahre als Regisseurin und Produzentin tätige Westschweizerin Patricia Plattner damit wieder zum Spielfilm zurück. Und wie schon in ihrem früheren Werk Piano panier (1989) stehen auch in Les petites couleurs die Selbstfindung von Frauen und die Frauensolidarität im Vordergrund.