ANDREA REITER

LES PETITES COULEURS (PATRICIA PLATTNER)

SELECTION CINEMA

Heftige Streitigkeiten mit ihrem Partner for­dern die zurückhaltende Christelle heraus zurückzuschlagen. Fluchtartig verlässt sie da­raufhin das Haus und landet im herunterge­kommenen Galaxy Motel, das bevölkert ist von liebenswerten, aber ein wenig obskuren Ge­stalten. Die Erinnerung an ihr ödes Leben mit einem schlecht laufenden Friseursalon und mit einem patriarchalen Gatten im Nacken lässt sie beinahe verzweifeln, wäre da nicht Mona, die lebenserprobte Besitzerin des Motels. Diese fasst sofort Zutrauen zu ihrer neuen «Miete­rin». Und wie es der Zufall will, ist Monas An­gestellte gerade hochschwanger, so dass die mittellose Christelle vorübergehend deren Job übernehmen kann. Dass sie damit den ersten Schritt in die Freiheit tut, nimmt die junge Frau zu Anfang gar nicht wahr.

Les petites couleurs erzählt von der Selbst­verwirklichung Christelles. Auf sanfte Art bringt Christelle Farbe und Lebensfreude in den schummrigen Motelbetrieb, findet den Mut, als «fahrende» Coiffeuse tätig zu werden, gelangt zu Selbstvertrauen und einem neuen Lebensglück. Mona ermöglicht ihr die dazu nötigen Freiheiten. Doch der Weg führt über eine Reihe von ungewohnten, teils schwierigen Erfahrungen, in denen Christelle ihre Persön­lichkeit kennen lernen und sich durchsetzen muss. Nicht zuletzt durch die feinfühlig ge­zeichneten, starken Frauenfiguren erinnert der Film an Percy Adlons Out of Rosenheim.

In den Wirren des Alltags finden die Frauen immer wieder Geborgenheit beim gemein­samen Anschauen der kitschigen Fernsehserie Le Ranch de l'Amour - eine Soap-«Opera» im wahrsten Sinn des Wortes, besteht sie doch ein­zig aus gesungenen Dialogen. Die eingeblende­ten Sequenzen der TV-Soap reflektieren als Film im Film immer wieder die Erzählweise, beeinflussen die Handlung und eröffnen neue Lesarten. Die mit Kadrage, Symmetrien und kräftigen, bunten Farben durchkomponierte Bildgestaltung ist augenfällig in Les petites cou­leurs. Zur Stärke des Films tragen besonders auch die beiden Hauptdarstellerinnen bei: Mit Bernadette Lafont in der Rolle der Mona hat Plattner eine in Frankreich sehr bekannte Schauspielerin engagieren können, die ihre ers­ten grossen Rollen unter François Truffaut und (Claude Chabrol in Filmen der Nouvelle Vague spielte. Auch Anouk Grinberg hat bereits in einer Reihe französischer Filme ihre Schau­spielkunst unter Beweis gestellt. Nach einer Reihe von Dokumentarfilmen (unter anderem Hôtel Abyssinie, 1996, und Made in India, 1998) kehrt die seit Ende der Achtzigerjahre als Regisseurin und Produzentin tätige West­schweizerin Patricia Plattner damit wieder zum Spielfilm zurück. Und wie schon in ihrem frü­heren Werk Piano panier (1989) stehen auch in Les petites couleurs die Selbstfindung von Frauen und die Frauensolidarität im Vorder­grund.

Andrea Reiter
geb. 1973, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]