TOM MENZI

PAUSE, STADION, ELF — MATERIALIEN ZU DREI INSTALLATIVEN AUDIO- UND VIDEOARBEITEN ZUM FUSSBALL

ESSAY

«Ich kann nur noch Vokale absondern ...» Bernard Thurnheer während der Reportage des Spiels Basel-Celtic Glasgow, August 2002.

Pause – Audioinstallation

Aufzeichnungen während der Pause eines Spiels in beiden Kabinen vor Ort, nachgebauter Korridor mit zwei sich gegenüberliegenden Türen, Aufschrift «Gast» auf einer Türe, Licht hinter den Türen, Schild mit der Aufschrift «Spielstand nach 45 Minuten, Heimteam 0, Gast 1, 2002».

Aus der Anfrage an Fussballvereine mit der Bitte, Tonaufnahmen in der Kabine zu machen: *... beim Ausstellungsbeitrag «Pause» geht es um eines der letzten Reduits im Fussball, um den Ort, der sich bisher erfolgreich gegen die Veröffentlichung geschützt hat: die Kabine. Was sagte der Trainer in der Kabine?» ist die Standardfrage des Reporters, und wir hoffen mit ihm, etwas Bedeutendes zu erfahren. Weil die Kabine für mediale Beobachtungen gewöhnlich geschlossen bleibt, ausser in Aus­nahmesituationen wie Siegesfeiern, bleibt der Mythos erhalten, dass sich eben in dieser Vier­telstunde Entscheidendes ereignen könnte. Da­mit verbunden ist meine Anfrage ...»

Audiospur 1: Töggelischuhe auf Beton, lauter Atem, Gemurmel, Husten, es wird stiller, dann Ruhe. Der Trainer spricht zur Mannschaft, die 0:1 im Rückstand liegt: «Also Jungs, es ist kein Zufall, wir müssen an unsere Leistungsgrenze heran, um überhaupt bestehen zu können. Pas­siert ein Fehler, wird er ausgenützt. Gegen die­sen Gegner muss einfach - das hab ich vorher gesagt - von diesen dreien einer rein ... es ist leider nicht passiert, dann kommt es so, wie es ist... (resignierend) irgendwo gibt es eben doch einen Unterschied, vielleicht stimmt die Rangliste eben doch ... wir brauchen eben mehr Chancen ...» - Total Ansprache: 9:40

Audiospur 2: Töggelischuhe auf Beton, lauter Atem, Husten, aus dem Off: «Ist einer ange­schlagen, sind alle fit?», dann Ruhe. Der Trai­ner spricht zur Mannschaft, die 1:0 in Führung liegt: «Gut Jungs, in der ersten Halbzeit haben wir es phasenweise wieder gezeigt, was wir auf der Gitarre haben, was wir können. Bleibt bei dem! Macht auch in der zweiten Halbzeit wei­ter mit dem, was wir können. Das, was uns stark macht: den Ball laufen lassen, laufen, freistellen ... bei Ballverlust wieder auf die Positio­nen gehen ...» - Total Ansprache: 4:30

Kommunikation im Stadion (Arbeitstitel) Videoinstallation

Drei Projektionen, synchronisiert, DVD 10'- 90', geloopt, 2002

Realisation: Media-Vision, Gelsenkirchen

Postproduktion: Christoph Menzi, frame ele­ven, Synchronisation: videocompany.ch

Aus der Anfrage an den FC Schalke 04:

«... «Kommunikation im Stadion» widmet sich dem Ablauf der akustischen und visuellen «Be­einflussungen» des Spiels. Dafür suche ich eine Aufnahmemöglichkeit für ein Spiel in ganzer Länge aus der Vogelperspektive (90-Grad-Winkel), dazu eine Aufzeichnung je Fankurve mit Video/Audio. Wäre es möglich, in Ihrem neuen Stadion ...»

Mehr als die Hälfte der Gesänge der Fangrup­pen sind nicht direkt auf das Spiel bezogen, also ereignisunabhängig. Das Spie, muss ledig­lich ablaufen, um sie auszulösen.1 Ein Liedtyp, der Chor der Langeweile, verdeutlicht, dass die Fans sich als massgebender Teil der Veranstal­tung sehen und dies auch genüsslich zelebrie­ren, nicht ohne unterschwellige Mitteilung an die Akteure, jetzt doch so zu spielen, dass sie zum Stimmungsgesang übergehen können.

Als die ersten Dutzend Nürnberger ins noch fast leere Stadion kommen, mehr als zwei Stunden vor dem Spiel, singen sie mit vehe­menter Lautstärke ihre Lieder der Lobpreisung für ihren Verein und verspotten den Gegner. Ihre Architekturkritik am Neubau der Arena AufSchalke mit der tief hängenden dominanten Dachkonstruktion bringen sie auf den Punkt: «Haaa-llen-baaad».

Erst die Verzerrung ermöglicht eine gute Lesbarkeit, die Ausrichtung der Buchstaben verweist auf den Fluchtpunkt: Dort muss die TV-Kamera sein.

Eine Leuchtrakete landet auf dem Rasen, wird sofort von der Kamera erfasst und bleibt drei Sekunden im Bild. Der Kommentator richtet seinen Appell an die Zuschauer. «Das bringt doch nichts», sagt er und weiss, dass wir wis­sen, dass da niemand ganz sicher ist. Vielleicht hört er in der Regie jemanden sagen: «Nun weg mit der Petarde!» Bevor es weitergeht, räumt ein orange bekleideter Sicherheitsbeauftragter das Malheur weg.

In der Snicker-Fan-Box können Zuschauer vor dem Eintritt ins Stadion ihre Bekenntnisse ab­legen und sich danach im grossen Rund hoch über dem Spielfeldmittelpunkt dabei zu­schauen, wie sie ihre selbst gemachten Verse leidenschaftlich vortragen. Dieses Angebot wird stark frequentiert und dauert mit den Werbeblöcken ganze zwei Stunden, länger als das Spiel.

Die beiden Kontrollmonitore befinden sich in den Katakomben des Stadions. Gebannt schaue ich mit dem Techniker das Bundesligaspiel aus dieser Perspektive an. Die spektakuläre Tonkulisse im Stadion trägt mehr zur Qrientierung bei als die Bilder. An der Geräuschkulisse erkennen wir, was auf dem Feld gerade geschehen sein muss. Auf dem Bildschirm links wird das gesponscrte Riesentrikot vor dem Spiel aufs Feld getragen.

Das Trikot wird die Ränge hinaufgetragen, wie bei einer Prozession. Ein grosses königsblaues Tuch, das Vereinstreue dokumentiert und sich der Kundennähe versichert, Eine trickreiche Fusion des Fussballvereins mit der Versicherung: Der Sport, der sich erst durch Unkontrollierbares als solcher behauptet, als stetiger Versuch am Gelingen, ist mit der Versicherung verbunden, die mit Unvorhcrsehbarkeiten rechnet, um damit kalkulieren zu können. Befindet man sich vereint unter dem grossen Tuch, fühlt man sich tatsächlich so umhüllt, als könne einem nichts mehr passieren.

Timecode 15:41:23, Kamera N (Detail), Kamera 1 (Videostills). Die Nürnbergerkurve, zwölf Frames nachdem der Ball an den Pfosten prallt: Viele Arme gehen in die Höhe, verharren, gehen zum Kopf, halten ihn. Der Kommentator: «... an den Pfosten, Riesenchance für Nürnberg».

Das Setting für die Ausstellung reduziert sich auf folgenden Plot: Zwei zueinander gerichtete Fangruppen werden im Angesicht eines Geschehens beobachtet, das sie akustisch und visuell zu beeinflussen versuchen. Die Synchronisation der drei Videospuren dokumentiert die aufgeladene Beobachtungssituation. Massenrezeptionsverhalten wird sichtbar im Tauschen von Aufmerksamkeit. Man sieht, wie an etwas teilgenommen wird, und gleichzeitig sind die Mittel, die dazu verwendet werden, vollzugsorientiert.

Elf Video-Audiospuren, synchronisiert, DVD, 44'. 1) Spielszenen, 26', 2) Befragung, 18'. Wand mit elf eingesetzten Monitoren.

In Zusammenarbeit mit Christian Theiler und Pascal Claude (Befragung), 2002.

«Elf» dreht sich um das Verhältnis zwischen der Mannschaft und dem Einzelspieler. Sagt man, die Mannschaft habe «ein Gesicht», sic sei der eigentliche «Star», meint man damit, dieses Ge­menge von immerhin elf Personen vereine sich zu etwas, das als Einheit wahrgenommen wird.

1) Spielszenen: Auf elf Monitoren sind die Spieler des FC Zürich während ihrer Partie gegen die Grasshoppers zu sehen. Die Auf­merksamkeit liegt nicht auf dem «hot spot», dem Ort, wo der Ball sich befindet. Dieser Ort ist im Gegenteil zunächst kaum auszumachen. So kann zwar eine Passfolge von Monitor zu Monitor nachvollzogen werden, doch bleibt das Spielgeschehen nur erahnbar. Es findet meistens ausserhalb der Kadrierung statt. Die «Totale» besteht aus elf «Close-ups», die installativ so angeordnet sind, dass sie an eine tak­tische Grundaufstellung erinnern. Der Be­trachter kann selbst Regie führen, je nach Blickdistanz, werden synchrone Bewegungs­abläufe sichtbar, eine gemeinsame Drehung, rudelartiges Rennen nach hinten oder eine Orientierung seitwärts. Dies erinnert manch­mal an einen Fischschwarm und verweist auf die Mannschaft als einheitlich konstruierten Organismus.

2) Befragung: In der Befragung geben die Spieler Auskunft über ihre fussballerische Ent­wicklung und ihre Funktion in der Mann­schaft, und sie erzählen implizit von selbst- und fremdbestimmter Individualität in einer

Gruppe Einzelspieler. Die Spieler erscheinen in privater Kleidung und werden alle im gleichen Setting (Ausschnitt, Hintergrund, Licht, Inter­viewer, Fragen) aufgenommen. Die Antworten bilden einen Kanon mit unterschiedlichem Re­frain. Nimmt man die Spieler von weitem als Gruppe wahr, antworten sie mit einem kollek­tiven Gemurmel.

Anmerkungen

Die Arbeiten wurden erstmals realisiert in der Ausstellung «Balsam», Helmhaus Zürich, 2002.

Desmond Morris, The Soccer Tribe (dt.: Das Spiel, München/Zürich 1981, S. 304 ff.), unterscheidet gemäss einer Studie in der Pre mier League 1978/79 mehrere Gesangstypen: Vertrauen und Optimismus, Ermutigung, Lob­preisung, Loyalität und Stolz, Kritik am Heim­klub, Kommentare zum Schiedsrichter, Kom­mentare zur Polizei, Beleidigung des Gegners, Drohungen gegen Rivalen und Stimmungsgesänge

Tom Menzi
geb. 1963, Künstler (Video, Video-/Audioinstallationen), Studium Theorie der Gestaltung und Kunst, HGK Zürich, Ausstellung «Balsam - Exhibition der Fussballseele» im Helmhaus Zürich (2002), Mitinhaber «teppichetage», Büro für Sport und Kultur. Spielt bei Wacker (forever) S. Lebt in Zürich.
(Stand: 2018)
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