Willy Leuzinger (1878-1935) wurde in Rapperswil geboren und trat dem lokalen Turnverein 1894 bei. Er schloss eine Mechanikerlehre ab, arbeitete einige Jahre in Oerlikon («wo man rasch auf den eleganten Kunstturner aufmerksam wurde»)1, heiratete 1898 Mathilde Hofer und wurde Vater einer kleinen Mathilde; 1901 kehrte er nach Rapperswil zurück («und übernahm 1902 das turnerische Kommando mit schönsten Erfolgen»), beantragte bei der Kantonsregierung ein Wirtschaftspatent und pachtete das Gasthaus zur Krone. («Der Stern W. Leuzinger fing an zu leuchten, dem der Erfolg in Wetzikon folgte; ein erstmaliger Lorbeer vom eidgen. Turnfest 1903 in Zürich, Punktzahl 140,75.») 1904 kaufte er das Gasthaus zum Hecht.
(«Künftigen Samstag findet im Saale zum Hecht das Kränzchen des Turnvereins statt. Durch ein abwechslungsreiches Programm wird sich der Verein alle Mühe geben, die anwesenden Gäste zu unterhalten. Besonders aufmerksam machen wir auf die «Zukunftsbilder der Elektrizität», die die Anwesenden durch Vorführung von vier nach ganz neuesten Modellen ausgetührten elektrischen Handwerkermaschinen auch auf dem Gebiete des Wissenswerthen auf dem laufenden halten werden. Eür gute Küche, aufmerksame Bedienung sowie eine flotte Tanz- und Unterhaltungsmusik wird der Lokalwirth, Herr W. Eeuzinger, bestens sorgen; es dürfte auch der neu restaurine, im elektr. Eicht erstrahlende Saal ein weiteres zur Verschönerung des Abends beitragen.»)
Im Rapperswiler Steuerregister wird Leuzinger bis 1919 als Wirt geführt, danach zwei Jahre als Mechaniker - neben der Wirtschaft betrieb er sowohl eine Ledischifferei als auch eine elektromechanische Werkstätte und elektrifizierte nachweislich den Schiessstand Rapperswil - und erst ab 1922 als Kinobesitzer. Tatsächlich aber hatte Leuzinger seit Anfang 1909 regelmässig im Hecht kinematografische Vorstellungen gegeben, am Samstag und Sonntag jeweils mit Restauration und ohne Eintritt und am Montag mit Konzertstuhlung und Eintritt. 1912 eröffnete er seinen ersten richtigen Kinosaal, im «Alten Engel» Wädenswil, und am 6.11.1913 den zweiten im «Schwanen» Rapperswil, mit dem grossen Antikenfilm Quo vadis? von Enrico Guazzoni (I 1913). («Im Turnverein rief er auch eine Kunst- und Nationalturnerriege und ein Doppelquartett ins Leben, und als ausgezeichneter Oberturner führte er die Sektion Rapperswil zu den schönsten Erfolgen, so am eidg. Turnfest in Bern 1906, wo Rapperswil in der Kategorie an der Spitze stand. Unschätzbar sind seine Dienste während des St.Gall. Kantonalturnfestes 1911 gewesen.»)
So beginnt etwa um 1910 die lange und interessante Geschichte des Kinounternehmens Leuzinger - nach Leuzingers Tod 1935 von der tüchtigen ältesten Tochter und seit 1980 in dritter Generation von der Enkelin Marianne Hegi geführt -, welche ich im Rahmen eines Nationalfondsprojekts erforsche.2
Aussergewöhnlich am «Schweizer National Cinema Leuzinger» sind neben festen Spielstellen ein abspielstarkes Wanderkino, das 1917 bis 1942 die Jahrmarkte und Kleinstädte zwischen Bodensee und Gotthard bereiste, und die Filmproduktion: Willy Leuzinger drehte in den Zwanzigerjahren, unterstützt von einem Kameramann namens Winner, im Einzugsgebiet des Wanderkinos gegen hundert Filme. Etwa siebzig davon sind in Originalpositiven erhalten geblieben und heute, nach erfolgter Restaurierung und Übergabe an die Cinémathèque Suisse, wieder projizierbar und allgemein zugänglich. Es ist ein wichtiger, für die Schweizer Filmgeschichte charakteristischer Bestand, dazu relativ gut überliefert: ein Glücksfall.
Die Produktion Leuzinger lässt sich nach verschiedenen Kriterien gruppieren, zum Beispiel nach Art der Auswertung. Erstens fanden sich einige wenige sehr kurze Familienaufnahmen, unmontiert und zum Teil im Negativ, die nie gezeigt wurden, weder öffentlich noch privat. Zweitens sind sechzig Aktualitätenfilme (von achtzig eruierten) erhalten geblieben, welche als besondere Attraktionen im Beiprogramm der betriebseigenen festen Säle und der Zeitkinos liefen; 100 m bis 250 m kurz (was einer Spieldauer von dreieinhalb bis achteinhalb Minuten entspricht), zeigen sie öffentliche Ereignisse des jeweiligen Gastspielortes oder der näheren Region: Jahrmarkt, Landsgemeinde, Fastnachtsumzug, Sportanlass, Beerdigung. Drittens produzierte Leuzinger längere Filme, die er landesweit an Turnverein-Sektionen verlieh, nämlich unter dem Titel ETV-Revue 1-53 fünf Kompilationen diverser Turnfeste der späten Zwanzigerjahre von je etwa zwanzig Minuten Länge sowie Aufnahmen vom 57. Eidg. Turnfest St. Gallen 1922 (in zwei Kopien erhalten) und vom 58. Eidg. Turnfest Genf 1925 (verschollen) - und schliesslich sein Opus magnum, einen gut einstündigen Film des 59. Eidg. Turnfestes Luzern 1928.4 Dank dem im Firmenarchiv vorhandenen Verleihbuch sind wir über die Auswertung dieses Werks bestens informiert: Es zirkulierte in sieben Kopien und wurde in der ersten Saison (September 1928 bis April 1929) 270-mal und bis Frühjahr 1930 weitere 70-mal vorgeführt - ohne Zweifel der meistgespielte Leuzingerfilm.5
Noch mehr Zahlen: Von den neunundsechzig erhaltenen Leuzingerfilmen sind zwanzig Sportanlässen gewidmet, zehn davon Veranstaltungen des ETV wie Turnfesten, Meisterschaftswettkämpfen und Sektionsturnen, die übrigen zehn Schwingfesten (vier), Segelregatten, Veloanlässen und Pferderennen (je zwei). Betrachtet man die Métrage, stellt sich heraus, dass längenmässig diese zwanzig Turnfilme mit zusammen 8700 m oder fünf Stunden Spieldauer gut die Hälfte der erhaltenen Produktion darstellen (insgesamt 17000 m oder zehn Stunden). Da mögen uns die Aufnahmen der Jahrmärkte und der Totengeleite noch so schön und stimmungsvoll Vorkommen, Leuzinger selbst interessierte sich eindeutig am meisten fürs Turnen und ein wichtiges Segment seines Publikums ebenfalls. Die Turnfilme dominieren nicht nur quantitativ; sie sind auch besonders sorgfältig und aufwendig gestaltet, es gibt da spezielle Virage-Effekte (die Pyramiden-Höhepunkte in Gelb in Aufmarsch der 72 Mann von Turnverein und Männerriege Rapperswil zu den Pyramiden), es gibt da, im Bestand einmalig, geradezu montageartige Abfolgen von Zwischentiteln, sportlicher Leistung und Siegerporträt (Meisterschafts-Wettkämpfe m Langenthal, 6. Setember 1925), und es gibt diesen monumentalen Luzernerfilm in fünf Akten, jeder mit eigenem Charakter (I. Fahnen und Reden, II. Festumzug und Veteranenausflug, III. Leichtathletik, IV. Kunstturnen, V Massenübungen). Kommt dazu, dass Leuzinger als Erstes drei Kantonalturnfeste der Jahre 1920 und 1921 filmte, was nahe legt, dass er mit dem Filmen mehr als Turner und weniger als Kinounternehmer angefangen hat. Doch für die (unsportliche) Filmhistorikerin standen lange das Wanderkino und die regionalen Aktualitätenfilme im Zentrum und die Turnfilme an ferneren Rändern. Zudem spielten bei der Restaurierung als Kriterien die Finanzierungs- und Aufführungsmöglichkeiten eine grosse Rolle. Sechs Minuten Jahrmarkt Horgen, echt antik von 1924, oder Feuerwehr Appenzell anno dazumal: Dafür lässt sich allemal Geld und Publikum finden, aber für Turnübungen, für endlose, stumme, alte Turnübungen? Die sich überschneidend kompilierten fünf ETV-Revuen und die Turnfeste lösten beim Sichten in meinem von der Betreuung der andern hundert Filmfragmente und Kurzfilme strapazierten Filmn eine Art Fächelepilepsie aus, und als einziges Aufführungsprojekt fiel mir ein halluzinatorischer Marathon von Leuzingers sämtlichen Turnaufnahmen ein, wobei die Musik sehr gut sein müsste.
Da das Geld nicht für die Restaurierung des Gesamtbestandes reichte, schied ich unter Zeitdruck zwei der Revuen aus, was richtig war - schlechter Zustand, alle Bildinhalte in den anderen drei Kompilationen vorhanden -, und wählte vom Festfilm Luzern 1928 ein Element, von dem ich hoffte, es sei eine kurze Version (tatsächlich handelt es sich um den vierten Teil, «Kunstturnen», der offenbar separat verliehen wurde). Die lange Fassung blieb unrestauriert, und das war ein Fehler, wie mir bei einer späteren Sichtung unter besseren Umständen sofort klar wurde. Kann in Ordnung gebracht werden mit läppischen 30000 Franken.6
II
Zeit wird einzig wahrnehmbar und messbar, indem sie vergeht, schrieb Augustinus in seinen Confessiones, und dieser Satz stimmt auch wie folgt variiert: Erst indem sie vergehen, indem sie Wissen und Erfahrung Platz machen, werden Ignoranz und Vorurteil wahrnehmbar. Mangels sportlich-turnerischer Kompetenz kann ich die Turnfilme Leuzingers leider nach ihrem primären Zweck und Inhalt nicht voll wertschätzen, und ebenso wenig bin ich eine Spezialistin des Schweizer Vereinslebens. (Ein Exkurs über die integrative Funktion des Turnvereins 1830 bis 1930 im sprachregionalen, konfessionellen und parteipolitischen Spannungsfeld Schweiz wäre hier angebracht.7) Nach Durchsicht von einigen tausend Seiten Veranstaltungsanzeigen in Schweizer Zeitungen zwischen 1895 und 1945 und von redaktionellen Artikeln zu den gefilmten Anlässen war immerhin die eigene Ignoranz in dieser Hinsicht exponiert und das Vorurteil, der Turnverein sei eine bösartige Institution der paramilitärischen Zurichtung, aufgelöst.
Mein Gebiet sind die alten Medien - Kino, Mode, Romane, Eisenbahnfahrten -, und damit hatte der Turnverein überraschend viel zu tun. Am direktesten lässt es sich so sagen: Der Turnverein war selber ein Medium, also «eine Einrichtung zur Vermittlung von Meinungen, Informationen und Kulturgütern» (Duden), und dem wäre hinzuzufügen, «aber vor allem von Unterhaltung».
Im Folgenden geht es nicht um einen systematischen Überblick und auch nicht weiter um die Turner als Filmproduzenten und Filmkonsumenten, sondern um Beobachtungen an Feuzingers Turnerfilmen, durch die sich mein anfängliches Desinteresse ins Gegenteil verwandelte. Sportanlässe und Vereinsfeste begannen mich zu verführen: mit Schaudarbietungen, mit Antikenfantasien und mit Modefragen.
Leistungssport und Wettkämpfe sind bekanntlich seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart die beliebtesten Darbietungen vor Publikum überhaupt; die letzte Fussball-WM hat einen grossen Teil der Beschäftigten in der Schweiz in einem seit dem Generalstreik 1918 nicht mehr dagewesenen Ausmass dazu gebracht, die Arbeit effektiv niederzulegen. Leistungssport und Wettkämpfe, wo es ums Höher, Schneller, Stärker, ums Siegen geht, gibt es in den Leuzingerfilmen ausgiebig zu sehen, und man schliesst Bekanntschaft mit einigen Grössen jener Jahre, den Kunstturnern Eugen Mack und Georg Miez etwa, künftigen Olympiadesiegern (Amsterdam 1928). Als Aktiverein glänzender Kunstturner, verfolgte Leuzinger in späteren Jahren «die Entwicklung unseres Kunstturnens mit vollem Eifer, und begeistert sprach er jeweilen über die Leistungen unserer Spitzenturner. Es war ihm der grösste Genuss, diese an der Arbeit zu sehen.»8 Am 6. September 1925 sah er an den Meisterschafts-Wettkämpfen in Langenthal Georg Miez am Reck zu, dabei hat ihn Winner gefilmt.9
Andere Darbietungen des Unterhaltungsmediums Turnvereins sind ebenfalls durch Leuzingers Filme gut dokumentiert, zumal Akrobatik, manchmal richtige Zirkusnummern. Die 72 Mann von Turnverein und Männerriege Rapperswil formieren spektakuläre Menschenpyramiden, und eine Spezialität der Rapperswiler Kunstturner war ihre Zwölfer-Trapeznummer, die einem Synchronschwimmen in der Vertikalen ähnelt. Der Turnverein Wald gab am Fastnachtsmontag, dem 2. März 1925, ein Unterhaltungsprogramm auf dem Dorfplatz, welches (unter anderem mit Seiltanz und einer musikalischen Clown-Revue) Akrobatik, Komik und Musik kombinierte. 1928 filmte Leuzinger am Rand des Luzerner Eidgenössischen einen Wirbel von Wipkinger Turnern. Die «Vier kühnen Wipkinger» (so der Zwischentitel) Bachofner, Buchmann, Schaad und Geier wurden wenig später professionelle Variété-Artisten, ich traf sie ganz unverhofft auf einem Bild in einer Schausteller-Publikation von 1929 wieder, wunderbar antikisch kostümiert mit synthetischen Leopardenfellen und Sandalen für ihre Gladiatoren-Nummer.
Die Antike ist ein Kulturgut, das damals weit dominanter als heute in den Medien zirkulierte. Henryk Sienkiewiczs Weltbestseller Quo vadis? (1895), in der für Jugendliche nicht bereinigten Fassung dank angenehmer Perversität und dem supercoolen Helden übrigens beste Lektüre, trug dem Autor 1905 den Nobelpreis für Literatur ein und verschaffte dem Kino einen Evergreen-Kassenschlager. Guazzoms Verfilmung von 191} blieb in der Schweiz jahrelang im Verleih. («Immer noch der beste und zuverlässigste Kassenmagnet ist und bleibt Quo vadis? Wo derselbe das hundertste Mal spielt, macht er stets volle Häuser!», inserierte der Verleiher Joseph Lang in Schweizer Cinema 31 [7.8. 1920], S. ii.)10 Drei Paneele der prächtig bemalten, auf 1923 datierbaren Fassaden von Leuzingers zwei Kinozelten sehen, scheint mir, ganz verdächtig nach dramatischen Höhepunkten aus Quo vadis? aus.11
Noch bevor Leuzinger sein neues Kino im Schwanen Rapperswil am 6. November 1913 mit Quo vadis? eröffnete, beteiligte sich der Turnverein Uster am Unterhaltungsprogramm des grossen Waldfestes vom 27. Juli 1913 mit einem humoristischen Gabaret «Quo vadis?». «Gefilmte Römer, o Anachronismus!», schrieb Carlo Micrendorff 1920; er hätte wohl auch den gezielten Anachronismus der Fahrrad fahrenden Römer im Festumzug des Radsportfestes Wädenswil 1925, gefilmt von Leuzinger, notiert.
Die in eben diesem Moment hörbar einen Kilometer rechts von meinem Laptop vorbeiziehende Street Parade 2002 gibt einigen hunderttausend Menschen die Möglichkeit, sich zu kostümieren und von Musik begleitet im Kollektiv öffentlich aufzutreten. Dafür sind Umzüge immer gut gewesen. Heute verkleiden sich die Leute als farbige Fantasywesen, zu Leuzingers Zeit als allegorische, historische oder exotische Gestalten, als Chinese, Neger, Prinzessin, Helvetia, Schweizer Senn oder eben Römer und Griechin. Die Unterhaltungsabende des Turnvereins waren stets reich an Kostümnummern, zum Beispiel standen im Januar 1907 in Rapperswil, neben einem Chinesenreigen und einem Zigeunertanz, eine grosse Serie «Lebender Bilder» nach griechischen Statuen auf dem Programm, vom Fechter aus der Sammlung Borghese bis zum Fries vom Westgiebel des Tempels von Acgina.12 Vermittlung von Kulturgut und weit mehr.
Im 19. Jahrhundert, das zeigen Literatur - Sienkiewicz ist dafür eine ausgezeichnete, wenn auch späte Quelle -, bildende Kunst, die Mode und nicht zuletzt der Turnverein, faszinierte an der Antike neben vielem anderen die Ostentation des schönen nackten Männerkörpers, begreiflicherweise: Die erhaltenen Bronzen und Skulpturen entfalten eine flagrante Wirkung. Der Kunst- und Bekleidungshistorikerin Anne Hollander zufolge begannen deshalb um 1800 (die Elgin Marbles trafen 1806 in London ein) die Schneider, welche ihre Kunden weder auf die Haut ausziehen noch ihnen ein Leopardenfell umdrapieren konnten, den Herrenanzug zu entwickeln: «To convey the image of unadorned masculine perfection, they had to remodel the nude male wholly out of cloth, to create an abstract statue of the naked hero carved according to tailors’ rules ... without exposing any skin at all.»13 Die Turnerkleidung, weisses Leibchen und lange weisse Hose, stellt eine nahezu perfekte Lösung der Aufgabe dar, den männlichen Körper ganz und als schönen Körper zu zeigen, ohne ihn zu entblössen. Das eng anliegende Tenü überzieht den Turner mit dem Marmorweiss einer Statue, einem abstrahierenden Weiss. Es nimmt den Körpern die Individualität und die Animalität. Es nobilitiert. Es gibt, uniform, keinen Hinweis auf die soziale Herkunft des Trägers.
In Leuzingers Aufnahmen der Festumzüge der jungen Turner, der Wettkämpfe, Massenübungen und Kranzverleihungen wird ersichtlich, dass das Turnen auch ein Medium der Darbietung des Männerkörpers ist. Zu diesen untendenziösen Aufzeichnungen kann man sich anderes einfallen lassen als gleich nur, Turnen stehe in direktem Zusammenhang mit Leni Riefenstahls NaziOlympiade und dem gepanzerten Faschokörper der Männerbünde, wie ihn Klaus Theweleit beschreibt.14 Mich haben sie auf Gedanken gebracht zum egalitär-emanzipatorischen Moment des Massensports und zur Spezialisierung der Medien in den ersten dreissig Jahren des letzten Jahrhunderts - Frauen zeigen und angucken im Kino, Männer zeigen und angucken im Turnverein.
Wie schwer sich der Turnverein mit dem Frauensport tat, belegen die entsprechenden Aufsätze und Bilder in der Schweizerischen Turnzeitung. Umgekehrt war im Spielfilm das Männerangucken ein Tabu oder jedenfalls problematisch: Es gab keine männliche Entsprechung zum Divafilm der Zehnerjahre und zum Glamour weiblicher Stars der Zwanziger- und Dreissigerjahre; Valentino war eine suspekte Ausnahmeerscheinung, Ivan Mosjoukine ein lokal auf Frankreich beschränktes Phänomen ohne Nachruhm. Dass 1951 Marlon Brando im T-Shirt (A Streetcar Named Desire, Elia Kazan, USA 1951) sensationell wirken konnte, sagt alles über den Stand dieser Dinge in Hollywood.15 In Rapperswil hingegen haben sich seit 1862 im Turnverein - gegründet unter dem Eindruck des Schauturnens 1861 der Wädenswiler Sektion - junge muskulöse Männer in knappen Kurzarmleibchen gezeigt; gesamtschweizerisch hatte die Turnbewegung um 1830 begonnen. Natürlich waren die Schweizer Turner braver als Brando, aber viel weniger brav, als das moderne Vorurteil annimmt. Die Leuzingerfilme machen evident, wie die Unterhaltungselemente die Darbietung des individuellen, lebendigen Männerkörpers als Schaustück ermöglichen, indem sie ihn in einem Mix von Antikenrevival, Akrobatik und Leistungssport präsentieren. Auch heute noch vermitteln sich der Zuschauerin diese Attraktionen, dazu das Vergnügen und die Körperlust der Akteure und viele echte Schaugenüsse. Kein Bedarf nach Brando, wenn der Film Meisterschafts-Wettkämpfe in Langenthal, 6. Sept. 1925 mit einer Vision endet: Fritz Hagmann, ein objektiv gut aussehender Turnerschwinger, nimmt nach seinem Sieg einen Schluck aus der Flasche und giesst den Rest zu Boden; sein Leibchen ist über der Brust eingerissen. Sehr unbrav, sehr attraktiv. ln Nordostschweizerisches Turn- und Schwingfest 1927 in Rapperswil ist er als König mit Kranz, Pokal und Siegerlächeln zu sehen, die linke Hand lässig in der Hosentasche.
Leider gibt es keine Filme der Unterhaltungsabende des Turnvereins, der lebenden Bilder antiker Kunstwerke, der Turner an den Stabwinden (bengalisch beleuchtet), des französischen Boxens (Musikbegleitung), der Matrosentänze (kostümiert). Männerauftritte um 1900, all singing, all dancing und mit Lichtregie. Dieser verbreitete Typ von Variete-Abend wurde um 1910 vom Kino verdrängt und beerbt; das Nummernprinzip der Kinoprogramme bis um 1918 und frühe Filme mit Turnern, Sportlern und Artisten - eines der ersten konsolidierten Filmgenres - dokumentieren die Ablösung und erinnern an die verdrängte ältere Form. Einmal mehr Barthes: «Pas de progrès dans les plaisirs, rien que des mutations.»16
Zum egalitär-emanzipatorischen Moment des Sports und der Sportkleidung eine literarische Assoziation: Im Roman Gemischte Gesellschaft von Baronin von Bode, verehelichte Frau Schobert und Autorin lesenswerter wilhelminischer Frauenromane in der Nachfolge Marlitts, sieht eine preussische Offizierstochter (die Familie wohnt in der Nobeletage eines typischen Berliner Mehrfamilienhauses) beim Sonntagsausflug einen Velofahrer im Sportkostüm, und er gefällt ihr. Am Montag merkt sie, dass es der älteste Sohn der Proletenfamilie in der Kellerwohnung war, den sie bis anhin überhaupt nicht wahrgenommen hat. Sie ist zuerst richtig wütend - über sich; über die Frechheit des unadligen Mannes, gut auszusehen; über die Sportkleidung, die sie das sehen liess und nicht die soziale Herkunft - und begreift dann etwas über die Gesellschaft, in der sie lebt.
Turnen und das Turnertenü handeln, in historischer Reihenfolge, von Einigkeit und dem Vaterländischen, von liberalen Bürgervereinen und der Arbeiterbewegung (der Turnplatz hiess im Fachjargon «Arbeitsplatz», das Turnen «Arbeiten», und die Geräte nannte man «Maschinen»), von Freizeit und Massenkultur. Sie sind Medien der Zeitgeschichte, und deshalb profilieren sich die Filme der Eidgenössischen Turnfeste 1922 in St. Gallen und 1928 in Luzern innerhalb der Produktion Leuzingers als jene, die ihren historischen Moment am klarsten zum Ausdruck bringen, weil sie am stärksten daran partizipieren. Sie zeigen, in Körpern und Kleidung, einen derart radikalen Umschlag, als seien die beiden Filme, zwischen denen nur sechs Jahre liegen, aus verschiedenen Epochen, als hätte das 19. Jahrhundert nach 1922 geendet und dann gleich die Neue Zeit der Dreissigerjahre begonnen. Am Eidgenössischen 1922 tragen die Schiedsrichter Hemdsärmel, Bauernwesten und etwas faltige Hosenböden und die Turner zum weissen Tenü «Kreissägen», jene flachen Strohhüte der Belle Epoque, welche ihre Träger unwiderstehlieh als Bewohner einer Welt des sorglosen Vergnügens erscheinen lassen. Alle sind mit Blumen, Rosetten, Bändern und Schärpen geschmückt, und im Festumzug wird ein Wagen mit einer Allegorie der Helvetia samt Tempelchen mitgeführt. Wie diese gehören Fahnen, Laubgirlanden, Blumenfüllhörner, Kränze und Ehrenpforten aus Tannenreis zu den zentralen Ausstattungselementen der Festkultur des 19. Jahrhunderts. Bei den imposanten Allgemeinen Übungen mit Abertausenden von choreografierten Teilnehmern konfiguriert sich 1922 kein geometrisches Ornament der Massen, weil neben jedem Mann auf dem Boden ein kleines individuelles Kleiderhäufchen liegt, seine Jacke und darauf sein Hut, recht ordentlich. Niemand hat sich darum gesorgt, dass diese Häufchen in mehr als einigermassen geraden Reihen daliegen. Recht ordentlich und einigermassen gerade sind jedoch keine geometrischen Konfigurationen und Kleiderhäufchen, besonders aus vielen tausend verschiedenen Jacken und Hüten gehäufelte, für Geometrie hoffnungslos ungeeignet.
1928 gibt es bei den Allgemeinen Übungen keine Kleiderhaufen mehr, und nun greift die ornamentale Massenchoreografie. Sie finden jetzt im Stadion statt und nicht mehr wie 1922 auf der grünen Wiese, wo nur ein Seil die Trennung von Publikum und Turnplatz markierte. 1928 sind die Turner, ihre Körper stromlinienförmig geworden, keilförmig; moderne Sportler treten auf.
Auch 1928 beginnen Film und Fest mit einem unterhaltenden Umzug, Modeschau und Völkerschau in einem. Die als mittelalterliche Burgfräuleins kostümierten Schweizerinnen lächeln glücklich und stolz und wirken altmodisch neben der deutschen Mannschaft im schneidigen Kapitänslook; Hans Albers lässt grüssen. Der Auftritt der Sektion «Forza e coraggio» aus Mailand kombiniert Tanzrevue (Beine und Füsse) und Gondoliere (Leibchen und Hut) und ist eine Augenweide; einmal mehr verbreiten Strohhüte Frohsinn. Die von Segeln und Venedigtourismus genährte Freizeitlaune und das glückliche Lächeln vergehen uns schlagartig am Ende des Festes und des Films, bei den Siegerehrungen im Stadion, weil uns zu diesen Bildern zwingend andere, spätere, überfallen: die Aufmärsche im Karree, die Standarten, die Kränze! Aus der imaginären Bildverdoppelung wird die Genese des Vorurteils einsichtig. Aber der Parteitag 1934 war nicht Fluchtpunkt von Leuzingers Turnfilmen, und die Korrumpierung des visuellen Idioms der Festkultur des 19. Jahrhunderts durch die nationalsozialistischen Inszenierungen nicht Thema dieses Textes.