ANDREA REITER

DAS ENGADINER WUNDER (ANKA SCHMID, TANIA STÖCKLIN)

SELECTION CINEMA

«Ich erzähle Ihnen jetzt meine Geschichte, wie ich hierher kam.» So beginnen in diesem Kurz­film die synchronen Schilderungen eines Man­nes und einer Frau aus dem Jenseits, in denen sie ihre Erinnerungen an den letzten Tag ihres Lebens wiedergeben: Zufällig kamen sie beim gemeinsamen Sturz aus einem Sessellift just an jener Stelle, wo jetzt zwei seltene Alpenblumen blühen, auf einer saftgrünen Wiese zu Tode. Die Zuschauer werden Zeugen eines Wunders. Denn eigentlich handelt es sich bei den Auf­nahmen um die Blumenaufzeichnungen eines Hobbybotanikers, aus denen plötzlich und un­erwartet zwei engelhafte Wesen generiert wer­den, die vor dem kitschig sternenfunkelnden Hintergrund an Putten erinnern. Abgeklärt und doch sichtlich erstaunt über die Zufälle des Lebens und mit schalkhafter Ironie vertrauen die beiden den Zuschauern den Lauf der Ereig­nisse, ihr Aufeinandertreffen und das so un­erwartete Ende an.

Er, des Lebens müde, wollte in der Abge­schiedenheit der Bergwelt Hand an sich legen. Sie, des Alltags überdrüssig, wollte in Austra­lien ein neues, glückliches Leben beginnen und zuvor noch einmal den Ort ihrer Vorfahren be­reisen. Dass sie sich begegneten, war nicht ge­plant und liess die Ereignisse überstürzen: Im Taumel einer blitzartigen Verliebtheit ereilte sie das Schicksal.

Das Besondere des Kurzfilms liegt im for­malen Spiel: Tania Stöcklin und Anka Schmid, die beide auf langjähriges - auch gemeinsames - Filmschaffen zurückblicken können, expe­rimentieren in Das Engadiner Wunder mit den Möglichkeiten des Split-Screen-Verfahrens und erproben die Aufnahmefähigkeit der Zu­schauer: Die Leinwand ist durchgängig in zwei Hälften unterteilt; links ist er, rechts sie vor künstlichem Himmel zu sehen. Oft überlagern sich ihre Worte. Wer den Diskurs zu dominie­ren vermag, hängt von der Aufmerksamkeit der Zuschauer ab. Handelt es sich um identische Sätze, tritt die Variationsfähigkeit der Protago­nisten - feinfühlig gespielt durch Ingrid Sattes und Alexander Seibt - in den Vordergrund. Dann wieder wechseln sich ihre Ausführungen ab, um zu einem kontinuierlichen Erzählstrom zu werden - doch nur, um sich im nächsten Moment gleich wieder zu überlagern. So ent­steht auf der Sprachebene eine sublime Span­nung. Das Spiel der Konfrontationen wird auf der Bildebene weitergeführt: Worte werden zu Bildern; die Trennlinie dazwischen wird durch­lässig. Sie taucht in seiner, er in ihrer Bildhälfte auf. Die Kamera schwebt traumwandlerisch durch die Alpenwelt. Durch Montage und Spe­cial Effects wie rotierende Bilder oder Slowmotion, bunt und schrill, wurde hier dank der Möglichkeiten der Videotechnik eine vergnüg­liche Romanze inszeniert.

Andrea Reiter
geb. 1973, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie.
(Stand: 2018)
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