MATTHIAS CHRISTEN

POTLATCH (PIERRE MAILLARD)

SELECTION CINEMA

Potlatch erzählt die Geschichte dreier erwach­sener Geschwister, die durch einen tragischen Unfall ihre Eltern verloren haben. Mathieu, der Älteste, ist leitender Angestellter einer Genfer Bank, weltgewandt und geschäftlich erfolg­reich. Die schüchterne Claire arbeitet als Bib­liothekarin in einem ethnografischen Museum und lebt sehr zurückgezogen. Antoine, der Jüngste, schlägt sich als Sänger einer Punk-Rock-Band durch und bewohnt zusammen mit einer bunt gemischten Gruppe von Freundin­nen und Freunden das elterliche Haus. Der drohende Verfall des Familienbesitzes bringt die drei ungleichen Geschwister zusammen und zwingt sie, sich des gemeinsamen Erbes anzunehmen.

Claire, Mathieu und Antoine reagieren - so unterschiedlich sie als Charaktere auch sind - auf die Herausforderung gleichermassen un­entschieden. Sie wirken eigentümlich rat- und antriebslos - eine Eigenschaft, die sie mit dem Grossteil ihrer gleichaltrigen Freunde und Be­kannten teilen. Regisseur und Drehbuchautor Pierre Maillard hat die Geschichte der drei Geschwister als eine Art Sittengemälde insze­niert, als Porträt einer Generation, die ange­sichts der materiellen Sicherheit, die ihr der von den Eltern erarbeitete Wohlstand bietet, mit dem eigenen Leben nichts Rechtes anzufangen weiss. Weil die Konflikte, die sich daraus erge­ben, nicht allzu fest in der Psychologie der drei Protagonisten verankert sind, wirken Claire, Mathieu und Antoine mitunter wie Neben­figuren in ihrer eigenen Geschichte. Ein Stück weit macht sich darin noch die Entstehungs­geschichte des Films bemerkbar: Claude Stratz hatte als Direktor der Genfer Ecole Supérieur d’Art Dramatique Pierre Maillard vorgeschlagen, gemeinsam mit den Studentinnen und Stu­denten ein Filmprojekt zu realisieren. Für ein­mal stand die Besetzung also fest, bevor die Arbeit am Drehbuch überhaupt begonnen hatte, und Pierre Maillard musste bei der Stoffentwicklung darauf achten, für rund ein Dut­zend annähernd gleichaltriger Akteure eine passende Rolle zu finden, was gut gelungen ist.

Ästhetisch zusammengehalten wird die Fülle der nahezu gleichberechtigten Haupt- und Nebenhandlungen durch die Arbeit des Kameramanns Aldo Mugnier, mit dem Pierre Maillard schon mehrfach zusammengearbeitet hat. Mit seiner tragbaren 16-mm-Kamera folgt er beweglich den Akteuren. In ruhigen Mo­menten gelingen ihm dabei immer wieder ein­dringliche Porträts der jungen Leute, meist aus halbnaher Distanz. Zusammengenommen er­geben sie tatsächlich so etwas wie das Bild einer Generation. Die Metaphorik des Erbes, die aul mehreren Ebenen - Sujet, Dialog, Liedtexte - durchgespielt wird, fällt dagegen etwas zu deutlich aus.

Matthias Christen
geb. 1966, Promotion mit einer Arbeit zum Form- und Bedeutungswandel des Lebensreise-Topos in Text- und Bildmedien (to the end of the line, München 1999). Publizistische Tätigkeit zu Fotografie und Film. Lebt als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds in Berlin; arbeitet an einem Buch zur Geschichte und den Funktionen des Zirkusfilms.
(Stand: 2018)
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