DORIS SENN

AGNES MARTIN - ON A CLEAR DAY (THOMAS LÜCHINGER)

SELECTION CINEMA

Ihr rundliches Gesicht mit den roten Backen und den grossen Augen strahlt jugendliche Fri­sche aus - trotz der feinen weichen Falten, die es durchziehen. Sie atmet schwer, das Artiku­lieren der Worte kostet sichtbar Anstrengung, doch ihre Gedanken lassen die körperliche Ma­terialität zurück, befreien sich von der Bürde des Alters, dringen in eine andere, transzen­dente Dimension vor. Wie ihre Bilder.

Agnes Martin ist 88-jährig und gilt als eine der grossen amerikanischen Künstlerinnen des Minimalismus. Ihre Gemälde sind sphärische Lichtgebilde - der Filmtitel spielt auf eine gleichnamige Grafikserie an. Doch ihr Schaffen lernen wir - beziehungsweise all diejenigen, die sie durch diese Aufnahmen entdecken - erst im Laufe des Films kennen. Zunächst werden wir Stück für Stück an einen Menschen heran­geführt, der schon in jungen Jahren seinen Res­pekt vor dem Wissen ablegte, der nicht darauf erpicht war, sich Philosophie als solche anzu­eignen, sich dafür der langjährigen Erkenntnissuche in künstlerischer Arbeit und selbst ge­wählter Einsamkeit verschrieb. Ihre Lebens­erfahrung fasst sie nun in einfache Sätze: Agnes Martin versucht, Antwort darauf zu geben, was Leben ist, was Glück, was Schönheit, wie In­spiration entsteht und wie Kreativität.

Fragen nach dem Wesentlichen beschäf­tigten Thomas Lüchinger schon in seinen vor­hergehenden Filmen Schritte der Achtsamkeit (1998) und Ein neuer Anfang (1999), in denen er sich dem Zen-Meister Thich Nhat Hanh und dessen Lehre widmete. Doch hier öffnet sich der Film zusätzlich auf ein künstlerisches Uni­versum, auf das er den Blick erst nach und nach freigibt. Vorerst übernimmt On a Clear Day den kontemplativen Rhythmus der Introspek­tive Agnes Martins: Nebst Bildern, die sie und ihren Alltag porträtieren, paart Lüchinger ihre Äusserungen mit assoziativ ruhigen Cinema­scope-Bildern der faszinierenden Weite von New Mexico - ihrem Wohnort -, von maleri­schen Wolkengebilden am fernen Horizont, auch von Alltäglichem wie Zeitungsseiten, die der stürmische Wind über den Vorplatz wirbelt. Wie zeitentrückt reflektieren diese Aufnahmen einer Landschaft, die Martin ein halbes Jahr­hundert lang prägte, ihre meditativen Gedan­kengänge.

Gleichzeitig weckt On a Clear Day ge­schickt die Neugier auf ihre Werke, die schliess­lich in ihrem langsamen Entstehungsprozess gezeigt werden: als filigrane Bleistiftgitter erst, dann als mit feinen, meist waagrechten Pinsel­streifen überzogene weisse Leinwände. Das blasse Hellblau, Rosa und Gelb, das Martin immer wieder verwendet, gibt den Bildern, die von einem Kunsthistoriker auch als «Land­karten des Glücks» bezeichnet werden, einen ätherischen Charakter, eine Immaterialität, die überraschend und doch kongenial die Weis­heiten ihrer Lebenserfahrung spiegeln. Das Spannungsfeld zwischen Körper und Geist, zwischen künstlerischem Schaffen und existen­ziellen Fragen, zwischen Energie und Passi­vität teilt sich dort geradezu physisch mit, wo Martin nur unter grossem Effort das feingraue Koordinatennetz auf die grossen Leinwände anzubringen oder die lichten blauen Streifen nur unter mehrmaligem Ansetzen bis an den Bildrand zu ziehen vermag.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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