MATTHIAS CHRISTEN

ESCAPE TO PARADISE (NINO JACUSSO)

SELECTION CINEMA

Escape to Paradise ist ein so genanntes Real Ac­ting Movie, ein Film also, dessen Fabel eng mit der Lebensgeschichte der Darstellerinnen und Darsteller verknüpft ist. Die beiden Protago­nisten Fidan Firat und Düzgün Ayhan, die ge­meinsam mit Regisseur Nino Jacusso, Produ­zent Ivo Kummer und Mona de la Rey auf der Grundlage eigener Erfahrungen das Drehbuch entwickelt haben, spielen ein kurdisches Ehe­paar, das nach Haft und Folter mit seinen drei Kindern in die Schweiz flieht und dort um poli­tisches Asyl bittet. Im vermeintlichen Paradies angekommen, muss Familienvater Karadag al­lerdings fürchten, dass die Behörden ihm seine schreckliche Geschichte nicht abnehmen. Von einem Landsmann lässt er sich dazu überreden, sich bei einem professionellen «Geschichten­verkäufer» (Walo Lüönd) für teures Geld eine neue Biografie mitsamt beglaubigten Doku­menten zu besorgen. Doch während der Befra­gung im Asylzentrum überkommen Sehmuz Karadag Gewissensbisse, und er erzählt seine wahre Geschichte. Die Aufrichtigkeit zahlt sich aus. Die Familie erhält das verdiente Asyl.

Escape to Paradise zeigt den Alltag einer Flüchtlingsfamilie in einer Schweizer Emp­fangsstelle für Asyl Suchende. Dazu gehören die ständige Angst vor dem Entscheid aus Bern, die traumatischen Erinnerungen an die zurückgelassene Heimat und Reibereien zwi­schen den einzelnen Volksgruppen genauso wie Momente von grosser Komik. Die Stärke des Films liegt gerade in der präzisen Beobachtung von scheinbar banalen Situationen: der Einkauf in der Migros, das Aufeinandertreffen der Kul­turen am Kochherd, das beiläufige Geständnis von Karadags ältester Tochter, dass sie ihren traditionellen Schmuck, der versetzt werden soll, um den Geschichtenverkäufer zu bezah­len, ohnehin nie mochte. Obwohl auch in Es­cape to Paradise abgewiesene Asylbewerber mit aller Härte des Gesetzes ausgeschafft wer­den, verzichtet Jacusso weitgehend auf dramatische Momente: So bleibt etwa die Flucht der Familie Karadag ganz ausgespart. Die bewusst unspektakuläre Erzählweise macht Escape to Paradise zu einem umso eindringlicheren Film, der einen für die Figuren und ihr Schicksal ein­nimmt.

Matthias Christen
geb. 1966, Promotion mit einer Arbeit zum Form- und Bedeutungswandel des Lebensreise-Topos in Text- und Bildmedien (to the end of the line, München 1999). Publizistische Tätigkeit zu Fotografie und Film. Lebt als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds in Berlin; arbeitet an einem Buch zur Geschichte und den Funktionen des Zirkusfilms.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]