CATHERINE SILBERSCHMIDT

VON HOLLYWOOD BIS EDEN PARK — ZUR KINOGESCHICHTE DER KAPVERDISCHEN INSELN

FILMBRIEF

Das Kino Eden Park liegt an der Praça Nova, unweit des Porto Grande, des kreisrunden natürlichen Hafens von Mindelo auf Sào Vicente - einer von neun bewohnten Inseln der Republik Cabo Verde, 450 Kilometer westlich vor Sene­gal. Heute leben in Mindelo, der kulturellen Metropole und zweitgrössten Stadt der kleinen Republik, rund 65 000 Menschen. Besiedelt wurde dieses baumlose Eiland, bestehend aus ein paar braunen Hügelzügen vulkanischen Ursprungs, erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Damals spekulierten die Portugiesen auf das grosse Geld. Denn mit dem Aufkommen der transatlantischen Dampf­schifffahrt geriet die Insel Sào Vicente unversehens zum strategischen Zentrum der Weltnavigation. Die Lage war attraktiv, weil der Hafen von Mindelo auf halbem Weg zwischen New York und Kapstadt und zwischen London und Rio de Janeiro liegt. Eine denkbar günstige Zwischenstation für den Transport der Rohstoffe aus den Kolonien nach Europa und Amerika.

Die Stadtgeschichte von Mindelo und damit auch jene des Eden Park ist eng mit der Ansiedlung der britischen Kolonialgesellschaften verbunden, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts hier niederliessen und grosse Schwarzkohle­lager errichteten. So entstand eine florierende kleine Handelsstadt mit vielen neuen Arbeitsplätzen, inmitten von Armut, Hunger und Sklavenelend. Als am 10. März 1874 von den beiden Dampfern «Hybernie» und «Edinburgh» aus im Porto Grande das erste Nord-Süd-Transatlantikkabel verknüpft wurde, das London mit Rio de Janeiro verband, begann die telegrafische Ara auch in Säo Vicente. Die British Telegraph beschäftigte mehr als hundert Leute, viele waren Engländer und ein paar wenige Portugiesen, darunter der Buchhalter Cesar Marques da Silva, der Gründer des Kinos Eden Park. 1923 eröffnete er das Eden Park, das damals in einer kleinen Baracke untergebracht war. Sein bescheidenes Cineteatro hatte auf Anhieb grossen Erfolg, und dies obwohl bereits Ende der Zwanzigerjahre die wirtschaftliche Prosperität der kleinen Hafenstadt wegen des aufkommenden Dieselöls als Schifftreibstoff stark beeinträchtigt wurde. Dakar und die Häfen der Kanarischen Inseln konkurrenzierten jetzt Mindelo. Von Jahr zu Jahr liefen weniger Schiffe im Porto Grande ein, und das Elend und der Hunger auf den Inseln nahmen wieder zu, weil viele Arbeitsplätze verloren gingen. Noch heute zählt Cabo Verde zu den ärmsten Ländern der Welt, denn ausserdem Meersalz gibt es auf diesen windigen Inseln keinerlei Rohstoffe, und nur der geringste Teil des Nahrungsmittelbedarfs kann auf den Inseln selbst produziert werden.

Als Buchhalter war Cesar Marques auch ein guter Geschäftsmann. Sein Kino vermietete er für Anlässe verschiedenster Art, und so fanden im Eden Park auch Theatervorführungen und Boxkämpfe statt, ln den Vierzigerjahren tauchte unerwartet ein neues Zuschauerpotenzial auf, denn die Achsenmächte stationierten auf Säo Vicente 4000 Soldaten. Cesar Marques baute sein Kino aus: zweigeschossig, mit grosser Terrasse, Restaurant und Bar. So, wie es sich noch heute präsentiert, wurde das neue Eden Park 1945 in Betrieb genommen.

Die goldenen Jahre des Eden Park

Der Kinobesitzer stand in gutem Einvernehmen mit den Kolonialbehörden, die den Kinobetrieb duldeten. Das war nicht selbstverständlich, denn seit 1926, dem Beginn der portugiesischen Militärdiktatur, wurde die Provinz Cabo Verde mit polizeistaatlichen Methoden verwaltet, und die berüchtigte Geheimpolizei Pide liess sich auch in Mindelo nieder. Im Eden Park durften in der Eolge nur Eilme gezeigt werden, die die Zensur des Estado Novo, des faschistischen Kolo­nialsystems, passierten - und das waren in erster Linie Hollywood-Produktio­nen und portugiesische Filme.

Bis in die Sechzigerjahre war der Betrieb des Kinos ein äusserst lukratives Geschäft. Täglich fanden zwei Kinovorführungen statt, die meistens ausver­kauft waren, und dies obwohl 1954 in Mindelo ein zweites grosses Kino eröff­net wurde: das Parque Miramar hoch oben über dem Meer. «Das Kino war für uns eine magische Tür zur Welt», erinnert sich Alberto Rui Machado, der 1959 für sein Ingenieurstudium nach Portugal ging und wie viele Kapverder im Aus­land geblieben ist. Vor kurzem hat er in Lissabon zu Ehren des Kinogründers einen Vortrag für seine kapverdischen Landsleute gehalten und darin die grosse Bedeutung des Kinos als Vorbereitung zur Emigration betont - als Brücke von der entlegenen afrikanischen Kolonie zu den modernen Grossstädten Europas und Amerikas, wo nach dem Krieg Zehntausende Kapverderlnnen ein Aus­kommen suchten.

Im Gespräch mit älteren Leuten werden Kinoerfahrungen lebendig, leiden­schaftliche Erinnerungen. Sie waren in den Vierziger-, Fünfziger- und Sechzi­gerjahren - den goldenen Jahren des Eden Park - begeisterte Kinobesucher. Das Kino als Fenster zur Welt war für die Bewohnerinnen dieser verlassenen Inseln Uberlebenshilfe. Senhor Ramos, Apotheker und Lokalchronist, erzählt von der Projektion des ersten Tonfilms im Jahre 1936, als wäre es gestern gewesen. Wie zum Kirchgang versammelten sich am Sonntag die Familien zum Besuch des Eden Park. John Wayne, Gary Cooper, Rock Hudson, Marilyn Monroe, Rita Hayworth und Regisseure wie Douglas Sirk und John Ford: Das klassische Hollywood taucht in den Gesprächen auf. Der Western und die Melodramen waren die beliebtesten Genres. Aber auch Dokumentarfilme wurden gezeigt: «Als ich den Eiffelturm im Kino gesehen habe, war das ein grosser Moment für mich», erinnert sich Senhor Ramos.

«Das Hereinbrcchen der grossen Welt gab uns das Gefühl, auch ein biss­chen daran teilzuhaben. Das Eden Park war nicht nur ein gutes Kino, sondern auch das schönste Kino von Cabo Verde», schwärmt der Lokalchronist. «Eine ganz wichtige Institution, denn hier versammelten sich Leute aus allen Schich­ten. Die Plätze auf den Holzbänken ganz vorne im Kino waren auch für die Ärmeren erschwinglich, hinten war das Kino luxuriös ausgebaut, mit Familien­logen und einer speziellen Loge für den Gouverneur.»

Das Eden Park heute

Dona Maria Luisa Marques da Silva, die heutige Gerantin und Mitbesitzerin der Familien-AG Empresa Eden Park Ltd., ist eine sechzigjährige muntere Dame. Sie thront auf einem tiefen, etwas abgenutzen Lederfauteuil unter dem imposanten Porträt ihres Schwiegervaters Cesar Marques. Seit dem Tod ihres Ehemannes vor zwölf Jahren führt sie das Eden Park allein; früher war sie Chefsekretärin bei der lokalen Elektrizitätsgesellschaft. Jeden Tag verbringt sie bis zu zehn Stunden in ihrem kleinen Büro hinter dem Kinosaal, erledigt die Administration und studiert portugiesische Programmzeitschriften. Auf Grund der darin besprochenen Filme stellt sie ihr Programm zusammen. Mit den gros­sen portugiesischen Filmverleihen unterhalte sie exzellente Beziehungen und auch mit den Warner Brothers, deshalb bekäme sie jeden Film, den sie wünsche, erklärt sie stolz. Manchmal verleiht sie die Filme an die drei anderen noch be­stehenden Kinos auf den Inseln Santiago und Sai weiter, das macht den teuren Filmimport etwas günstiger. Denn pro Film bezahlt sie gut und gern über tau­send Franken für Miete, Transport und Einfuhrgebühr. Eine horrende Summe für kapverdische Verhältnisse. Sie entspricht dem Monatsgehalt eines höheren Beamten, während die Leute im Gastgewerbe kaum hundert Franken pro Mo­nat verdienen.

Fein säuberlich notiert Dona Maria Luisa von Hand die Eintritte nach Film­titel, Genre und Platzkategorie. 150 Escudo kostet ein Platz im Parkett, 200 ein Sitz auf dem Balkon, was drei Schweizerfranken entspricht. Mittwochs gibt es einen Einheitspreis von 100 Escudo, dann ist das Kino am besten besucht. Dennoch bleibt der Kinobesuch für viele Kapverderlnnen unerschwinglich. Chicken Run (Peter Lord / Nick Park, GB/USA 2000) lief gar nicht gut: 53 Eintritte auf dem Balkon, 191 im Parkett. Das ist nicht viel, denn insgesamt stehen 450 Plätze zur Verfügung, seit der neuen roten Kunststoffbestuhlung, die Dona Maria Luisa dank einer finanziellen Hilfe der Stadt Mindelo erwerben konnte. Viel besser lief American Pie (Paul Wcitz, USA 1999), immerhin 760 Eintritte, und der Actionfilm The Perfect Storm (Wolfgang Petersen, USA 2000) erreichte gar über 1000 Eintritte. Im Sommer läuft jeweils fast gar nichts mehr, denn im Kino ist es dann trotz der brummenden Ventilatoren viel zu heiss.

Seit Jahren ist das Eden Park defizitär; die sechs Angestellten - vom Auf­seher, der Putzfrau, dem «rebobinador», der die Filme auf einem archaisch an­mutenden Gerät von Hand zurückspult und auch die Kasse bedient, über die beiden Vorführer bis zum Billettkontrolleur - kann sich Dona Maria Luisa nur leisten, weil die Löhne in Cabo Verde so niedrig sind. Das zum Kino gehörende Restaurant ist seit 1992 aus baulichen Gründen nicht mehr in Betrieb, die gol­denen Zeiten des Eden Park sind längst vorbei. Damit hat sich Dona Maria Luisa abgefunden, nachdem sie vergeblich Geld gesucht hat, um es wieder in Schwung zu bringen. Sie betreibt ihr Kino aus Leidenschaft und weil sie gerne bei den Leuten ist. Das kann sie sich leisten, denn sic bezieht eine Rente aus Portugal, wo Lulu Marques, ihr verstorbener Ehemann, nach der Unabhängig­keit bei einer Bank gearbeitet hat. «Diejenigen, die 1975 an die Macht gekom­men sind, wussten nicht mehr, was sich gehörte. Mit denen wollte mein Mann nicht mehr Zusammenarbeiten. Die Sozialisten haben mein Kino ruiniert», und ein bisschen weniger ärgerlich fügt sie bei, «und die brasilianischen Telenovelas auch.»

Dona Maria Luisa geniesst ein grosses Ansehen bei ihrem Stammpublikum, das sie gut kennt. Um näher bei den Leuten zu sein, schaut sie sich alle Filme in der Estrade und nicht auf dem bequemeren Balkon an. In den ersten freien Wahlen nach fünfzehn Jahren Einparteiensystem der sozialistischen Partido Africano da Independência para Cabo Verde (PAICV), die 1990 stattfanden, wurde Dona Maria Luisa auf Anhieb in die Nationalversammlung gewählt; das Mandat hat sie dann allerdings nicht angenommen. Mit ihrer Kandidatur wollte sic lediglich die neolibcrale Partei, das Movimento para a Democratia (MpD), gegen die regierende sozialistische PAICV unterstützen. Das MpD hatte die Wahlen dann auch gewonnen, und es hatte während zehn Jahren privatisiert, was es zu privatisieren gab, und dabei voll auf die touristische Entwicklung ge­setzt. Seit Anfang 2001 sind nun wieder die Sozialisten an der Macht; diesmal konnte Dona Maria Luisa nichts mehr ausrichten, obwohl sie dem Ehrenkomi­tee für den liberalen Präsidentschaftskandidaten angehörte.

Das Eden Park als nationale Institution

Bis zur Unabhängigkeit der Kapverdischen Inseln im Jahre 1975 erfüllte das Eden Park eine zentrale Filmimport- und Verleihfunktion. Weitere Kinos gab es damals auf den Inseln Säo Nicolau und Santo Antäo. Dort liess Anfang der Dreissigerjahre der reiche Grossgrundbesitzer, Geschäftsmann und Rechts­anwalt Manuel Lopes da Silva in Ponta do Sol - einem am äussersten Nord­westzipfel des Inselarchipels angesiedclten Dorf, auf einer kleinen Landzunge zwischen hohen Basaltbergen und dem offenen Meer gelegen - ein hundert- plätziges Kino bauen, nachdem er ein Jahr zuvor ein kleines «Elektrizitäts­werk», bestehend aus einem Stromgenerator, hatte errichten lassen. Im kleinen Kino Aniberto in Ponta do Sol, benannt nach den Vornamen seiner beiden Söhne Anibal und Alberto, die damals bereits in Lissabon das Gymnasium be­suchten, wurden Woche für Woche die Filme des Eden Park aufgeführt. Sie ge­langten meist per Segelschiff über das stürmische Meer und anschliessend mit dem Pferd über die hohen Berge, denn eine Strasse gab es auf Santo Antäo bis zur Unabhängigkeit in den Siebzigerjahren nicht, wie mir Anibal Lopes erzählt, der heute als betagter Zahnarzt und Arzt eine grosszügige Villa an der Praça Nova schräg gegenüber dem Eden Park bewohnt.

Nach dem Tod seines Vaters hat Anibal Lopes, der bis Ende der Siebziger­jahre einziger Zahnarzt auf den Kapverdischen Inseln war, das Aniberto dem lokalen Fussballclub geschenkt. Noch immer steht der Projektor da, inzwischen ganz rostig, weil jemand vergessen hat, das Fensterchen der Projektionskabine zu schliessen. Auf dem Dach des Kinos ist eine imposante Parabolantenne für den lokalen Fernsehempfang installiert. Eine Zeitlang fanden noch Freiluft- Projektionen statt, Titanic (James Cameron, USA 1997) war der letzte Film, der vom Eden Park herüberkam. Seither fehle das Geld für den Filmeinkauf, bedauert der zuständige Gemeindebeamte in Ponta do Sol. Mit der Titanic scheint auf Santo Antäo auch das Kino untergegangen zu sein. Ein denkwürdi­ger Untergang, dessen Spuren nach wie vor präsent sind. Die Schülerin, der ich auf einem schmalen Pfad hoch oben in den Bergen begegne, strahlt, als ich sie frage, ob sie Titanic gesehen habe. Sechs Stunden sei sie zu Fuss unterwegs ge­wesen, um den Film zu sehen. Um ihren Hals trägt sie einen herzförmigen An­hänger mit einem Miniporträt von Leonardo DiCaprio und Kate Winslet. Ein Schmuckstück, das auf dem Markt in Ribeira Grande von den senegalesischen Händlern feilgeboten wird.

In Ribeira Grande wollte ein Geschäftsmann noch Mitte der Neunziger­jahre ein neues Kino bauen; doch mehr als eine Bauruine ist daraus nicht ge­worden. Immer beliebter und verbreiteter sind denn auch die Videorecorder, die die Emigranten mitbringen. Denn die wenigsten der Hiergebliebenen könnten sich ein solches Gerät je erstehen. Die Kundinnen der vier Videotheken von Ri­beira Grande sind meistens sehr jung. Im Videoclub «Alternativ» sind Action, Horror und Kriegsfilme am begehrtesten. Die amerikanische Unterhaltungsindustrie scheint hier ihr Monopol erfolgreich zu behaupten. Im Videoclub «Funny» sind Filme mit Jackie Chan, Bruce Willis und Kevin Costner am er­folgreichsten, aber auch Sharon Stone und Silvester Stallone scheinen hoch im Kurs zu stehen. Rita, die 25-jährige Videoverleiherin, war nur einmal in ihrem Leben im Kino - Titanic hat sie im Freiluftkino von Ponta do Sol gesehen: «Alle, die hierher kommen, haben Titanic gesehen, meistens zwei- bis dreimal.»

Weiter östlich dem Meer entlang liegt das Ribeira do Paul, das wohl frucht­barste Tal von Cabo Verde. Hier gibt es - eine Seltenheit auf den von Trocken­heit gezeichneten Inseln - sogar Ci rund wasser, und ausserdem hat es dieses Jahr stark geregnet, sodass die schmale Strasse vom Fluss weggespült wurde. Elegant balanciert eine junge Frau die schwere Butangasflasche auf ihrem Kopf durch die Fluten, andere tragen Steine vom Fluss hoch ins Dorf, wo ein Haus gebaut wird. Für die Sanierung der Strasse fehlt das Geld, gleichwohl sind Arbeiter da­mit beschäftigt, ein Glasfaserkabel das Tal hochzuziehen: kapverdische Wider­sprüche. Seitdem das neoliberale Regime zu Beginn der Neunzigerjahre den Markt nach europäischem Vorbild liberalisiert hat, ist die portugiesische Tele­com hier aktiv. Die ehemaligen Kolonisatoren sind jetzt als Investoren zurück­gekehrt. Die Bank, die Post und das Fernmeldewesen sind wieder fest in por­tugiesischer Hand. Und wer es sich hier in Patii leisten kann, besitzt ein Handy und wird bald über einen Internetanschluss verfügen.

Alberto Alves ist Sozialarbeiter in Paul und betreut vorwiegend Jugend­liche. Daneben ist er aktiv in der lokalen Sektion der PAICV, die zwischen 1975 und 1990 in Cabo Verde regierte und eine sehr aktive Kinopolitik betrieb. In dieser Zeit hat die Regierung mit Geldern aus der Entwicklungshilfe - auch die Schweiz war damals sehr aktiv in Cabo Verde engagiert - auf sämtlichen Inseln Kinos gebaut und das inzwischen abgeschaffte kapverdische Filminstitut ge­gründet, das für den Import und den Vertrieb von Filmen zuständig war. Eine gefährliche Konkurrenz für das Eden Park. Die Auswahl der gezeigten Filme war allerdings oft politisch motiviert. Die sozialistische Regierung versuchte etwa - vergeblich zwar - die kreolischen Kapverderlnnen auf den Geschmack des afrikanischen Kinos zu bringen. Erlaubt waren in jener Zeit nur noch poli­tisch korrekte, emanzipatorische und familienfreundliche Filme. Dazu gehör­ten neben kubanischen, sowjetischen und europäischen Filmen auch etwa Kra­mer vs. Kramer (Robert Benton, USA 1979), wie sich Alves erinnert, «ln den Achtzigerjahren gab es hier zwei bis drei neue Filme pro Monat, diese wurden im damaligen Freiluftkino von Paül gezeigt. Daneben war ein mobiles Kino mit einem 16-mm-Projektor unterwegs, das vom Ministerium für soziale Angele­genheiten eingesetzt wurde und Dokumentarfilme über Gesundheits- und Bil­dungsfragen zeigte», erzählt Alberto Alves.

1991 wurde in Paül eine grosszügige Mehrzweckhalle für kulturelle und politische Anlässe gebaut. Doch nachdem das nationale Kinoinstitut von der neoliberalen Regierung geschlossen wurde, gab es keine Filmpolitik mehr. Und deshalb steht der einzige intakte Projektor italienischer Provenienz ungenutzt im Polivalente, ln dieser Mehrzweckhalle finden neben politischen Veranstal­tungen und Versammlungen vor allem Aufführungen lokaler Theatergruppen statt, und es scheint, dass auf Santo Antäo, aber auch auf den anderen Inseln, im Laufe der Neunzigerjahre das Kino vom Theater abgelöst worden ist.

Seit kurzem gibt es in Ribeiro do Paul auch für die einfachen Haushalte Strom. Und fast jede Familie hat einen Angehörigen, der emigriert ist, und be­sitzt deshalb ein Fernsehgerät, auch wenn viele weder die Stromrechnung noch die Schulden im Dorfladen bezahlen können. Während die Frauen beinahe rund um die Uhr arbeiten, sitzen einige arbeitslose Männer auf dem Dorfplatz und spekulieren über den Ausgang des nächsten Fussballspiels. Das Wasser hat meine Gastgeberin Sabina - sie zieht ihre fünf Kinder wie viele Kapverderinnen alleine auf - bis vor wenigen Jahren am Fluss geholt. Und noch heute verfügt fast die Hälfte der einräumigen Häuser über keine Toilette. Doch die brasilia­nische Telenovela erreicht fast alle und bleibt die grosse Attraktion des Tages. Darin leben Schwarze und Weisse ein fröhliches, lustvolles Nebeneinander, und alle haben am Schicksal der anderen teil. So weht der Duft der grossen weiten Welt allabendlich ein bisschen Trostlosigkeit aus den ärmlichen Behausungen.

Wie mir Helder Lopes, Adjunkt des Bürgermeisters von Paül, erklärt, gebe es seit der Schliessung des Filminstituts in ganz Cabo Verde niemand mehr, der sich darum kümmere, dass auch die peripheren Gebiete mit Filmen versorgt würden. Allerdings haben sich die Verhältnisse auch sonst geändert: «Früher hat es hier so viele Filmbegeisterte gegeben, dass sich immer ein Freiwilliger gefunden hat, der die Filmrollen am Hafen auf der anderen Seite der Insel ab­holen ging; heute mache das niemand mehr umsonst.» Wie viele gut ausgebil­dete Kapverderinnen hat Helder in Mindelo das Gymnasium besucht und gerät schnell ins Schwärmen, wenn er von seinen Kinoerlebnissen im Eden Park er­zählt, wo er keinen Film verpasste.

Das kapverdische Filmfestival

Die Hauptveranstaltungen des kapverdischen Filmfestivals, das im November 2000 auf den drei Inseln Sai, Santiago und Säo Vicente zum zweiten Male statt­gefunden hat, werden auf der touristisch erschlossenen Insel Sai und nicht in der Hauptstadt Praia auf Santiago oder in der Kulturstadt Mindelo durchge­führt. Die geladenen Gäste aus der Filmbranche - Regisseure, Drehbuchauto­ren und Schauspielerinnen aus Brasilien sowie Flora Gomes aus Guinea-Bissau mit den portugiesischen Organisatoren, dem Kulturminister und den Journa­listinnen aus Brasilien und Portugal - bleiben mehr oder weniger unter sich. Und es scheint, als ob es in erster Linie um eine positive Berichterstattung in den portugiesischen und brasilianischen Medien ginge. Damit möchte man Investo­ren und Touristen gewinnen. Das Kino Asa, ganz in der Nähe des internatio­nalen Flughafens «Armlcar Cabrai» auf Sai gelegen, ist zum Bersten voll - mit einem vorwiegend jungen und sehr fröhlichen Publikum. In den Schulen haben die Lehrerinnen auf das Festival aufmerksam gemacht, und zudem ist der Kino­besuch während des Festivals gratis. Vor den Vorführungen und Ehrungen gibt es jeweils viel kapverdische Livemusik, und auch die brasilianische Schauspie­lerin Zézé Motta singt kapverdische Lieder, bevor sie von der Tourismusminis­terin geehrt wird.

Die Promex, das Zentrum für die Förderung des Tourismus, der Investi­tionen und des Exportes, zählt denn auch zu den Hauptsponsoren der aufwen­digen Veranstaltung, deren recht anspruchsvolles Programm allerdings nur teil­weise zum Tragen kommt. Zu prekär sind die technischen Installationen: Am Eröffnungsabend steigt im Kino Asa fünf Minuten nach Projektionsbeginn die Lampe des Projektors aus; im Kulturzentrum von Santa Maria, wo Videos pro­grammiert sind, ist der Beamer nicht installiert, und im Eden Park auf Säo Vicente, wo die Festivalbeiträge ebenfalls gezeigt werden, sind nur die englisch gesprochenen Filme einigermassen verständlich, während das Portugiesisch nicht durchkommt, weil die Tonanlage die melodiöse Sprache nicht mehr zu übermitteln vermag. So bleibt denn auch der einzige kapverdische Spielfilm, den es bis heute gibt, A Ilheu de Contenda (1995) von Leäo Lopes - eine Lite­raturverfilmung - unverständlich. Das Publikum scheint sich darüber nicht sonderlich aufzuregen: Es reagiert auf die Bilder und kommentiert sie laufend. Laut sind die Kommentare bei den fremdländischen Filmen; erscheinen die Bil­der der eigenen Heimat, wird es ruhiger im Saal.

«De graça!» («gratis»), strahlt anderntags Nelson, der Metzger, auf meine Frage, ob er auch ans Festival gegangen sei, und schenkt mir vor Freude ein tiefgekühltes Hackbeefsteak. Es ist neun Uhr morgens in der Markthalle von Mindelo. Nelson gehört zu jenen Kapvcrderlnnen, die sich normalerweise den Kinobesuch kaum leisten können. Deshalb die vollen Säle, die sich in den in- und ausländischen Medien gut präsentieren. Und ein dankbares Publikum ist auch ein dankbares Wahlvolk, denn in Cabo Verde fanden Anfang 2001 Wahlen statt, der Gratiseintritt als PR-Strategie der inzwischen abgewählten neolibera­len Regierung.

«Ist es nicht absurd, ein solch aufwendiges Festival zu organisieren und gleichzeitig kein Geld zu haben, um die eigenen Infrastrukturen zu unterhal­ten», entrüstet sich Leäo Lopes, der die Veranstaltung boykottiert hat, obwohl er als Regisseur dazu eingeladen worden war. «Ein Festival, das im Auftrag unserer Regierung in Portugal organisiert wird und sich kapverdisch nennt, das ist ein Hohn», entrüstet sich Lopes, der zu Beginn der Neunzigerjahre kurze Zeit als Kulturminister amtierte. Auch heute noch ist er ein begeisterter Kino­gänger und zählt zum Stammpublikum des Eden Park. «Dieses Kino ist ein kulturelles Patrimonium. Wenn sich der Staat nicht darum kümmern kann, wird es untergehen.»

Ob das Eden Park trotz jahrelanger Defizite überleben wird, hängt aller­dings nicht nur von der staatlichen Hilfe ab. Denn Dona Maria Luisa ist das einzige Mitglied der zehnköpfigen Familien-AG, dem das Kino wirklich am Herzen liegt. Nur weil sie als Rentnerin auf ihr Gehalt verzichten kann, ist der Betrieb überhaupt noch aufrechtzuerhalten. Die prominente Lage des Eden Park an bester Geschäftslage sagt für die Zukunft wenig Gutes voraus.

Catherine Silberschmidt
ist freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]