MARIA TORTAJADA

DER ABHANG: EINE BERGLANDSCHAFT?

ESSAY

Es gibt keinen Berg ohne Abhang. Der Berg im Sinne einer Erhebung im Ge­lände - und im Falle der Alpen ist diese beträchtlich -, der Berg als «Beule» im Terrain, als Hügel oder als Gebirge: Stets wird er durch seine Höhe und durch die Neigung, durch den Grad der Abschüssigkeit seiner Hänge definiert. Der Begriff des Abhangs legt auf Anhieb die physische Anstrengung nahe, die einem aufgebürdet wird, will man ihn hochsteigen. Der Abhang leistet Widerstand: Er widersetzt sich uns, wenn wir ihn zu erklimmen versuchen; an ihm messen wir unsere Kraft. Aber ist der Abhang - in Bezug zum Körper, der ihn bezwingt - noch ein Teil der Landschaft? Gewiss ist, dass der Abhang ein unerlässliches strukturierendes Darstellungsmerkmal der Berge bildet. Abhänge jedoch gibt es auch ohne Berge, gewisse Städte sind bekannt für ihre abschüssige Topo­grafie. Einen Berg ohne Abhang dagegen gibt es nicht. Bei näherer Betrachtung erscheint der Abhang als Grenze der alpinen Landschaft, als ein Ort, an dem die Landschaft verschwindet - selbst wenn paradoxerweise das Gefälle das Relief und damit die Landschaft charakterisiert. Der Abhang ist ein Element, welches das Denken über das Stereotyp der Berglandschaft im filmischen Gebrauch erneuern kann. Der Reiz der zwei Filme, die ich im Folgenden betrachte, liegt im Spannungsfeld dieses Problems. Beide Filme enthalten identitätsstiftende Bezüge. Der Berg wird als Landschaft dargestellt, aber auch als Abhang, den man «durchlaufen» muss. Es bleibt zu definieren, was wir unter Abhang genau verstehen.

Den Berg zu filmen, seiner Repräsentation oder seiner narrativen Funktion einen wichtigen Platz einzuräumen, ist ein wiederkehrendes Verfahren im Schweizer Film - als ob dieser sich mit Gewalt mit diesem symbolischen Mo­nument konfrontieren müsste, welches zum geografischen Merkmal des Lan­des geworden ist. Seit den Zwanzigerjahren werden Filme über die Alpen in der Schweiz gedreht, die der deutschen Tradition des Bergfilms nahestehen. Auch heute drängt sich den Filmschaffenden unvermeidlich dieser Landschaftstyp auf. Die Berglandschaft - und im Besonderen die Alpen - wurde in der Schweiz als Spiegel der Identität genutzt: Der Einfluss der geistigen Landesverteidigung bis Ende der Fünfzigerjahre förderte Darstellungen, die aus den Bergen ein Symbol der Kraft und der Reinheit schufen. Dieses Erbe einer identitätsstiften­den Bedeutung, die man den Bergen seit dem 19. Jahrhundert zuwies, und der entsprechenden repräsentativen Codes wurde vor allem durch das neue Kino der Sechziger- und Siebzigerjahre sowohl in seiner politisch-ideologischen Funktion als auch in seiner Form kritisiert. Filmschaffende wie Tanner, Soutter, Schmid und Murer erneuerten das Bild der schweizerischen Fandschaft. Wenn sich auch heute der soziale und politische Kontext ihrer Auseinanderset­zung geändert hat und sich die Kritik von den starken ideologischen Strömun­gen gelöst zu haben scheint, so bleibt doch das Problem der Repräsentation der Berge weiterhin bestehen. Ich möchte mich mit einer der ästhetischen Erneue­rungen dieses Darstellungsproblems beschäftigen: mit dem Motiv des Abhangs, der den Körper auf die Probe stellt, ihn aus dem Gleichgewicht bringt, ihn mit dem Sturz bedroht und der somit das Problem des Blickpunkts, das im Land­schaftsbegriff enthalten ist, verlagert. Höhenfeuer (1985) von Fredi Murer und Reines d’un jour (1996) von Pascal Magnin gehören zwei verschiedenen Genres an: Höhenfeuer, ein Langspielfilm, erzählt die Geschichte einer Bauernfamilie, die in den Bergen lebt, wobei er sich auf die zwei Geschwister konzentriert, die einer inzestuösen Beziehung entgegengleiten; Reines d’un jour, ein Kurzfilm, der einen Teil der Tanztrilogie Grand écart bildet, zeigt ohne Dialog Tänzer, die sich unter die Bergler mischen.1

Der Abhang: von der Landschaft zum Körper

Landschaft kann nur im Zusammenhang mit ihrer historischen Repräsentation verstanden werden. Gemäss der kunsthistorischen Definition taucht die Land­schaft während der Renaissance in der nordeuropäischen Malerei auf. Zunächst als ergänzende «Aussicht» - zum Beispiel aus einem Fenster - eingesetzt, ver­selbständigt sich das Motiv und nimmt bald das ganze Bildfeld ein. Damit wird Landschaft zu einem eigenständigen Thema der Malerei. Ihre Darstellung bleibt an einen gewissen Blickpunkt gebunden, der dem Betrachter eine Distanz zwi­schen sich und der Welt, die sich seinem Blick darbietet, aufzwingt. Bloss unter dieser Bedingung erfolgt die spezifische Repräsentation der Natur. Die Kom­position ist wesentlich: Die Landschaftsdarstellung begnügt sich nicht mit einer einfachen Addition von unzusammenhängenden Elementen; vielmehr basiert sie auf der Beziehung zwischen den verschiedenen Teilen, welche die Land­schaft ausmachen, und einem ordnenden Zentrum. Die Perspektive, die den Fluchtpunkt definiert sowie den Platz der Betrachterin bestimmt, befindet sich im Kern des malerischen Begriffs von Landschaft.

Natürlich ist nicht jede Landschaft bergig. Der Berg bildet eigene Bild­motive: wilde Gipfel oder sanfte Abhänge. In der Wiedergabe der Alpen findet man eine Kombination von beiden. Die Tradition der Malerei des 19. Jahrhunderts verlängerte das Erbe Rousseaus und dessen paradigmatischer La Nouvelle Héloïse und bot dem Betrachter eine Vision des Berges als zugleich wilde und gezähmte Natur. Die Werke der Schweizer Maler Alexandre Calarne, Giovanni Segantini oder François Diday zeigten die ungetrübte Ansicht eines weissen Gipfels, zentral platziert und weit entfernt, oder aber überwältigende Panora­men, oft mit Alpweiden im Vordergrund, die einen menschlicheren und lieb­licheren Rahmen bilden. Diese Auffassung, die Naturgewalt und Schäfer­romantik vereint, findet man in den Filmen Die letzte Chance (1945) oder Füsilier Wipf (1938) von Leopold Lindtberg wieder. Vor allem das Ende des letzteren Films in den nebligen Höhen der imposanten Alpengipfel verweist auf die malerische Erhabenheit des Motivs. Die Liebesgeschichte von Wipf hat sich dagegen in einer idyllischen Atmosphäre abgespielt: in einem geschützten Gemüsegarten auf dem sanften hügeligen Land. Das entspricht einer Wieder­gabe der Natur, die ihren Ursprung im 17. Jahrhundert hat, namentlich in der Topographia helvetica von Matthäus Merian. Dieses sanfte Bergbild erscheint noch in späteren Filmen wie Heidi und Peter (195 5) und Zwischen uns die Berge (1956) von Franz Schnyder.

Neben Motiv und Komposition, die der Landschaft im Schweizer Film Ge­stalt verleihen, ist ein drittes Element wesentlich an ihrer Repräsentation betei­ligt: Es sind die unterschiedlichen Bedeutungen, die ihr je nach ideologischem Kontext zugewiesen werden.2 Im Zuge der geistigen Landesverteidigung wur­den die Berglandschaften mit moralischen und politischen Sinngehalten aufge­laden, die den nationalen Zusammenhalt fördern sollten. Gemäss einem solchen Verständnis wurden Widersprüche und Unregelmässigkeiten im Bild der Berge ausgeschlossen - man könnte sagen, dass der Berg symbolisch eindeutig fest­gelegt war. Gegen eine solche Symbolik wandte sich der neue Schweizer Film. Die Kritik, die sich auf das Motiv, die Darstellung und die zugewiesene Bedeu­tung bezog, lässt sich am Merkmal des Abhangs - des konstituierenden Ele­ments des Berges - ablesen.

Was aber ist der Abhang? Der Abhang ist ein Gefälle, eine schiefe Ebene, wobei diese Oberfläche selbst ein Oben und ein Unten definiert. Er wird mit einem Vokabular beschrieben, das der Geometrie entlehnt ist; denn der Abhang wird so gemessen, wie er gezeichnet und auf eine Fläche projiziert wird. Der Duden macht aus ihm eine «schräge Fläche», wobei man «schräg» bloss in Be­ziehung zu einer anderen Ebene oder Geraden, einer Horizontalen oder Ver­tikalen, setzen kann - zum Beispiel zum Rahmen eines Gemäldes oder einer filmischen Einstellung. Dies bedeutet, dass der Abhang erst in einem Verhält­nis entsteht; man nimmt ihn nur im Dienst einer anderen Sache wahr, etwa des Horizonts, dem potenziellen Ort eines Fluchtpunkts. Die Schräglinie wird zum unerlässlichen Element des geometrischen Schemas des Berges: Ein weisser Schneegipfel in der Mitte des Rahmens besteht aus einem Dreieck, aus zwei Geraden, die sich treffen und dabei einen Gipfel bilden, und der Basis, zu deren Verhältnis man die anderen Geraden als schräg interpretiert. Aber diese Schräglinien sind keine fixen Grössen der Berglandschaft: Nähern sich die Be­trachtenden, ändert sich die Funktion dieser geneigten Geraden. Je näher der Blickpunkt beim Abhang liegt, desto überflüssiger wird der Horizont. Das Ver­hältnis, das den Abhang definiert, ändert sich. Wenn man diese beiden Kompo­nenten des Abhangs, die Schräglinie und das Verhältnis, das sie begründet, bis an ihre Grenzen treibt, gefährdet man die Landschaft als solche. Man kann «die Landschaft verlieren» - sei es, wenn die Schräglinie durch die Annäherung des Blickpunktes verschwindet, sei es, wenn sich das Verhältnis, das der Schräglinie zu Grunde liegt, ändert, indem man den Horizont durch den Bezug zum Kör­per ersetzt. In jedem Fall handelt es sich um eine neue Darstellung des Berges. Es tritt eine Spannung zwischen dem Abhang und der Schweizer Landschaft in den Vordergrund, bei der die Art, wie die Kadrage und die filmische Einstellung eingesetzt werden, eine wesentliche Rolle spielt.

Die Materie des Abhangs: Fredi Murers Höhenfeuer

Murers Film erzählt die Geschichte zweier Jugendlicher, Bruder und Schwes­ter, und ihrer Eltern, die als Bergbauern leben. Die Handlung kreist um ihre Arbeit, ihr Familienleben, ihren Alltag – aber auch um Inzest und Tod. Der Berg bestimmt als Landschaft den Film, er ist omnipräsent: Er ist der problematische Boden, auf dem die Personen leben, und er definiert die Stimmung. Er umgibt und rahmt jede Geste, die wiederum durch seine Gestalt bestimmt wird. Der Berg, der Protagonist, ist symbolisch aufgeladen: Zunächst weil er in Verbin­dung mit dem Urner Dialekt, den die Personen sprechen, einen typisch schwei­zerischen Ort kennzeichnet3 - der hier allerdings nicht folkloristisch eingesetzt wird. Zudem steuert der Berg die Liebesbegegnung. Ständig setzt der Film die Landschaft «indirekt» in Szene - in Spiegelungen eingefangen oder durch den Nebel verzerrt, aber immer noch erkennbar. So beobachtet der Junge, schlicht Bub genannt, als er mit den Sonnenreflexen in einem Spiegelsplitter spielt, den er in der Hand hält, die Granitfelsen und den Tannenwald, die das Haus über­ragen. Dadurch entsteht eine eingeschränkte Sicht im kleinen Rahmen des ge­brochenen Spiegels. Die Landschaft ist da, allgegenwärtig, aber sie erscheint im Film als ein Einbruch, als sollte das Stereotyp einer idealisierenden Postkarten­ansicht vermieden werden. Sie scheint zu sagen, dass der Berg etwas anderes ist - nicht das Symbol, sondern vor allem diese Erde, auf der man geht. Trotzdem taucht das Ideal in Verbindung mit der Alpenlandschaft wieder auf. Die Konnotationen der Reinheit, der Höhe und Grösse der Gipfel haben nicht mehr identitätsstiftende Bedeutung, sondern unterstützen die Liebesbegegnung. Vor dem Hintergrund der eingeschneiten Berge, auf der höchsten Weide, geben sich die Kinder einander hin. Die Sequenz wird zu Beginn und am Ende jeweils von einem Bergpanorama in seiner grossartigen Schönheit eingerahmt. Das zweite, hellere zeigt die weisse, fast ins Blau driftende, leuchtende Gipfelkette in der kristallklaren Luft des Morgengrauens. Die Dämmerung taucht die Begegnung der jungen Körper, die im Moment selbstverständlich und ohne Schuld ist, in ihre Reinheit. Trotzdem haftet den zwei Alpenansichten eine Zweideutigkeit an. Der Inzest, den sie krönen, färbt auf die Landschaft ab, die nicht mehr eine konventionelle Moral im Dienste einer nationalen identitätsstiftenden Politik widerspiegeln kann. Die symbolische Aufladung des Berges wird verändert und erlaubt, den Begriff der Landschaft aus einem anderen Winkel zu betrachten.

Der Abhang spricht auch von einer anderen Erneuerung, die Wert auf das Motiv, den Typ der dargestellten Berge und natürlich auf die Art der Kadrage legt. Wenn der Film den Gipfeln, die sich vom Himmel abheben, Platz einräumt, ist der Berg im Grunde eine Masse, welche die Personen umgibt und die Ein­stellung füllt: ein Gebirgskessel oder, aus einer anderen Perspektive, ein hoch gelegenes Tal, in dem Alpweiden von zwei gegenüberliegenden Steilhängen ein­geschlossen sind. An den höchsten Punkten liegt jeweils ein Haus mit seinen Nebengebäuden, auf der einen Seite dasjenige der Protagonisten, auf der ande­ren das Heim der Grosseltern. Als die Kinder die Grosseltern besuchen, sieht man sie mit einem Feldstecher von einem Abhang zum anderen schauen, das eigene Haus in der Ferne beobachtend. Sie sind durch den Einschnitt zugleich isoliert und sichtbar dank der Höhe, die sie auf dem Berg erreichen können. Ihre Blicke richten sich oft auf die gegenüberliegende Talseite, die eine Mauer, eine Art Leinwand bildet: Der Blick schweift nicht in die Weite, sondern ist ge­fangen. Selbst die erhöhten Orte sind im Berg. Diesen Eindruck erwecken auch die Blickpunkte, auf die der Film stets zurückgreift und die er als solche zeigt. Zahlreiche Einstellungen zeigen Vorgebirge, auf denen manchmal nichts - oder fast nichts - von der Landschaft sichtbar ist. So während der Schreibstunde vor einem monochromen Himmel; oder beim Gewitter, als der Regen auf ein Wie­senstück prasselt und im zweigeteilten Bild bloss nasses Gras und das Weiss des Nebels an Stelle einer Aussicht zu sehen sind; oder in der Aufnahme des klei­nen Geländeabsatzes, aut dem ein zerbrechlicher Baum steht, der sich vom un­deutlichen Hintergrund eines Berghangs absetzt. Als Bub auf der Flucht vor seinem Vater höher als die höchstgelegenen Alpweiden klettert, befindet er sich immer noch am Fuss eines eindrücklichen Felskessels. Die Kinder drängen zwar in die Höhe, aber sie bleiben, von der Liebesszene abgesehen, immer vom Massiv umschlossen. Der Abhang befindet sich im Herzen des Spannungsfelds zwischen der Erhöhung eines Blickpunktes und der Verhinderung einer totalen Übersicht durch den Berg.

Im Berg, von ihm umgeben sein, heisst auch im Abhang, von ihm einge­schlossen sein. Bereits im Vorspann kündigt der Film diesen Zustand der Figu­ren an. Erste Einstellung: ein Wiesenzipfel in Nahaufnahme, auf dem man den kleinsten Grashalm und jeden Kuhfladen erkennen kann. Die Kamera bewegt sich langsam nach links, bis sie den Jungen einfängt, der im Gras eine Falle vor­bereitet. Die Abschüssigkeit des Geländes und der Horizont sind nicht sicht­bar - noch existiert der Abhang nicht. Zweite Einstellung des Vorspanns: Die Kamera enthüllt den steilen Abhang; sie «schaut nach unten». Sich dem Ort an­passend zeigt sie die Schwester Belli aus der Vogelperspektive, die wie ihr Bru­der die Erde im Gemüsegarten hackt. Der Abhang, Hauptdarsteller des Films, erscheint wie aus heiterem Himmel; das Tun der beiden Kinder etabliert aber andererseits ihr Verhältnis zum Abhang, dessen Untergrund sie erforschen. Be­vor er in seiner Steilheit gezeigt wird, sicht man den Abhang in seiner Körper­lichkeit: Die Kinder graben, denn im Abhang zu sein, kann auch heissen, dass man erforscht, was er unter seiner Oberfläche verbirgt. Die Protagonisten be­finden sich in der unmittelbaren Nähe des Berges, bilden mit ihm einen Kör­per, wie es auch der Tod am Schluss verdeutlicht: Die Eltern werden nach dem Drama vor dem Haus unter dem Schnee beigesetzt, als seien sie vom Abhang umfasst worden.

Der Berg ist also die Materie, der Fels, die Erde, die den Abhang bildet. Und die Personen messen sich an seiner Solidität: etwa in der Einstellung, in der Bub mit seinem Regenschirm in der Hand seinem Vater entgegenrennt im Glauben, dieser sei Belli. Er ist von Felsen umgeben, als würde er von dieser Materie, welche die Einstellung füllt, zerdrückt. Auch in der Aufgabe, die der Vater seinem Sohn aufträgt, drückt sich dieses Verhältnis aus: Bub soll eine Mauer bauen, den Fels zurechthauen, die Steine aufeinandertürmen. Bub wird diese Arbeit alleine tun, nachdem er in die Höhe geflüchtet ist: den Granit bre­chen, den er zu kleinen Haufen aufschichtet wie Miniaturberge. Wozu aber dient die Mauer, deren Bau sein Vater anregt? Sie soll den Abhang halten, gegen das drohende Abrutschen kämpfen, damit er sich nicht selbst zerstört. Die Mauer schafft einen kleinen Absatz im Gelände, auf den der Junge schliesslich demonstrativ springt: ein momentaner Sieg über das Gefälle. Darin und da­gegen sein: Mit dem Abhang zu leben, bedeutet, sich auf der Flanke des Bergs zu befinden, sich mit seinem ganzen Körper gegen ihn zu stemmen, mit ihm zu verschmelzen, um nicht zu fallen. Der Abhang bestimmt alle Bewegungen, jeden Schritt. Der Wut des Vaters zu entfliehen, heisst für Bub, in die Höhe zu steigen; es bedeutet auch, der Zuschauerin den Rücken zuzukehren und Rich­tung dessen zu fliehen, was in einer flachen Eandschaft die Tiefenschärfe sein könnte. Aber Bub rennt auf allen vieren, hilft sich mit seinen Händen, um den steilen Abhang zu bezwingen. Hier hat der Körper Vorrang: derjenige der Per­son, die den Abhang durchläuft, sich mit ihm vereint. Der Köper ist der einzige Indikator der Neigung; er - und nicht der Horizont - erlaubt es, die Topografie wahrzunehmen. Trotz des Dramas, trotz der kritischen Höhe des Schauplatzes, gibt es weder einen moralischen noch einen physischen Fall in diesem Film.

Die Bewegung im Abhang: Reines d'un jour von Pascal Magnin

Im Kurzfilm von Pascal Magnin geht es um das Begehren und um den Körper. Die minimale Handlung, die der Choreografie einen Vorwand liefert, basiert auf einem Märchen: auf der Legende der drei Mädchen von Saint-Luc, die, weil sie gerne tanzen, trotz der Ermahnungen des Pfarrers alle Tanzfeste der Gegend besuchen. Eines Morgens werden sie tot vor der Dorfkapelle gefunden. Die Einwohner glauben an eine göttliche Strafe. Diese Erzählung wird den Zu­schauern erst am Schluss des Kurzfilms nachgeliefert; zu Beginn sieht man die Begegnungen der Tänzer: Spiele auf der Wiese, Pas de deux in Wanderschuhen, Kämpfe, Volkstänze, ein nächtliches Bad im Eluss. Die Berglandschaft erscheint wie eine Ikone, sie macht den gefilmten Ausschnitt erst zum Bild. Manchmal zeigt sie sich von einem Fenster gerahmt wie eine Vedute, oder sie bildet den Hintergrund, von dem sich die Personen abheben. Die Sequenz am Tanzfest fängt sie mehrmals flüchtig hinter den bewegten Körpern ein. Ebenso wie die malerischen Trachten der Dorfbewohner erinnern die Berge an das klischierte Modell Schweizer Berglandschaften. Doch die Versatzstücke einer Postkarten­landschaft werden hier zur Schau gestellt, um die Eandschaft in Bewegung zu setzen, um sie «tanzen» zu lassen wie die mittanzenden Dorfbewohner, deren traditionelle Tänze mit moderner Choreografie vermischt werden. Es geht nicht darum, das Klischee zu leugnen, sondern es in den Film zu integrieren, um es mit einer anderen Sache zu konfrontieren. Der Abhang drängt sich zunächst als das Wesentliche des Berges auf. Mit ihm muss sich die Choreografie auseinan­der setzen, an ihm misst sich der Tanz. Von Anfang an, ab dem Vorspann, spielt die Choreografie mit dem Abhang: Sie lässt sich bloss im Verhältnis zu ihm begreifen.

Zuerst wird der Abhang indes als Eandschaft gezeigt. Die erste Einstellung des Films hält die Schräglinie des Bergs fest - eine Art gebrochene Diagonale, welche die Leinwand durchquert -, die gleichzeitig die Form enthüllt und den Abhang zeichnet. Der Blickpunkt der Zuschauer befindet sich weit entfernt. Andere Inserts werden diese Einstellung widerspiegeln: Während des Tanzes dient eine «reine Landschaft», die wie ein Gemälde gefilmt ist, als Überleitung oder Pause. Im Gegensatz zu Murers Film, der sich stets für die Blickpunkte und für die Sicht durch optische Instrumente interessiert, lässt Magnin die Tän­zer nicht nach einer Aussicht suchen. Die Landschaft existiert bloss für die Zuschauer, als sei sie von den handelnden Personen unabhängig. In der Reihe dieser Inserts bietet eine andere Einstellung der Vorspannsequenz eine Alter­native zur Berglandschaft. Sie zeigt hohes Gras, das die Einstellung vollständig ausfüllt. Nähern wir uns hier nicht am meisten dem Abhang? Berühren wir ihn nicht fast, wenn wir die langen Halme im leinwandfüllenden Grün wahrneh­men? Wir haben direkten Zugang zum Abhang, weil die Distanz auf ein Minimum reduziert wirkt; doch die Berglandschaft ist verschwunden, es bleibt nur die Körperlichkeit des Grases, das im Wind wogt. Man spürt nicht einmal mehr das Gefälle. Dieser Einschub gehört dem gleichen Paradigma wie die einge­schobenen Landschaftsaufnahmen an, aber dadurch, dass er die Blickdistanz der Zuschauer verändert, verlagert er das Problem.

Zu Beginn des Films werden mehrere Kadrierungen, mehrere Blickpunkte auf den Abhang vorgeschlagen. Nach dem eröffnenden Insert, das wie ein Ma­nifest des Abhangs wirkt, zeigt eine Serie von Einstellungen das Prinzip der Diagonalen im Bildrahmen. Der Abhang ist hier eine schiefe Ebene, die von den Tänzern, von denen man bloss die laufenden Füsse im Profil sieht, betreten wird. Die Tänzer durchqueren das Feld in einer kurzen Bewegung: Sie klettern von rechts in die Einstellung und verlassen sie nach links. Am Schluss folgt ihnen mit einer leichten Bewegung kurz die Kamera. Auf der Tonspur hört man ihren Atem und das Geräusch ihrer Schritte, was sowohl die Nähe des Zu­schauers als auch die Beschaffenheit des Abhangs verdeutlicht.4 Das Verhältnis, das den Abhang ausmacht, ändert sich. Man interpretiert den Abhang nicht mehr in Bezug zum Elorizont - es gibt keine Horizontlinie mehr -, sondern im Verhältnis zum filmischen Rahmen und zum Körper der Tänzer. Die Schräge, Kennzeichen des Gefälles, verschwindet in der flach aufgenommenen Wiese. Deren Beschaffenheit ändert sich und polt die Darstellung des Berges um: Die Wiese ist nicht eine abgebildete Landschaft, sondern ein physisches Element, das man durch die Körper der Tänzer wahrnimmt. Der Anfang des Films ver­bindet zwei Extrempositionen, um den Abhang zu betrachten. Einerseits be­darf es der Distanz, um eine Landschaft zu schaffen, andererseits der Nähe, um das Gefälle des Abhangs wahrnehmen zu können, das denjenigen aufgedrängt wird, die den Abhang erklimmen. Dazwischen bietet die letzte Einstellung die­ser Anfangssequenz eine mittlere Distanz zur Schräglage, eine Synthese der beiden anderen Blickpunkte: eine fixe Totale, die von der Diagonale des Ab­hangs durchschnitten wird. In der Ferne werden die Silhouetten der sechs Tän­zer sichtbar, die einander nachrennen, im Gegenlicht des weissen Himmels. Der Abhang ist gewissermassen menschlich: Hier bildet er gleichzeitig die Form des Bergs und das Element, womit dieser die Bewegungen der Körper aufnimmt.

Der Vorspann zeigt Einstellungen der laufenden Tänzer. Sie steigen auf den Grat und springen dann in eine Rolle, die sie gemäss den Gravitationsgesetzen nach unten wegreisst. Die choreografische Geste drückt das wesentliche Ele­ment des Abhangs aus: Er bestimmt die Bewegung, den Fall, die Anziehung von unten. Hier geht es nicht darum, mit dem Abhang zu verwachsen wie in Höhenfeuer oder in der Erde zu graben, sondern darum, durch die Luft zu wirbeln, Schwung zu holen, zu springen, fast zu fliegen - wie es diejenigen Ein­stellungen zeigen, in denen die Tänzer in einen Sprung stürzen, der sie zwangs­läufig fallen lässt. Der Abhang bleibt ausserhalb des Bildes, aber er gibt den Körperbewegungen ihre Ausrichtung vor.

Es geht ums Rollen, Fallen, aber auch ums Nach-unten-Gleiten - wie in der Choreografie, die unmittelbar dem Vorspann folgt. Der Abhang bildet die Oberfläche, welche die Tänzer streifen, auf der sie sich bewegen. Der Tanz spielt mit dem Tastsinn. Die Personen rutschen auf dem Abhang, als würden sie ihn streicheln: Materie und Körper geben den Abhang und den Berg wieder. Wie bei Murer fliehen sie vor der Landschaft, aber auf eine andere Weise. In Nahaufnahme sieht man die schlafenden Paare im Gras liegen. Bewegung keimt und dehnt sich in einen langen Kuss: Sanft umarmt die Blonde ihren Partner, bis sie ihn mit ihrem Körper bedeckt; sie nimmt ihn in der Bewegung mit, rollt mit ihm umschlungen über das Gras. In der Logik der Körper gleitet sie aus der Einstellung, mitgerissen vom Abhang, von dem man allerdings kaum das Gefälle wahrnimmt. Er sieht sie entschwinden, verfolgt sie und taucht ebenfalls aus dem Bild. Der Abhang als solcher wird nicht dargestellt, er wird bloss sichtbar durch das Gleiten, die Anziehung der Tiefe, die der Abhang her­vorruft. Man weiss vom Abhang, weil die Körper «aus dem Rahmen fallen»; sie bleiben nicht darin fixiert, sondern werden vom Off angezogen. Dies macht be­wusst, wie wichtig die Kamera ist, um einen Abhang jenseits überholter Dar­stellungsprinzipien zu kreieren. Es betont aber auch ihre Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Tanzes, der Bewegung, die die Kamera schnell oder langsam zeigt, und die Schwierigkeit, Körper und ihr Verhältnis zu ihrer Um­gebung einzufangen. Die Wahl Magnins scheint einleuchtend: Er verzichtet darauf, die Choreografie einem Raum einzuschreiben, der dann lediglich den szenischen Hintergrund für die Bewegung der Tänzer bilden würde. Indem er Nahaufnahmen bevorzugt und die Körper der Tänzer zerstückelt, unterstreicht er die Geste, die Bewegung als solche, und lässt ihnen eine kurze Panoramasicht folgen oder bringt die Kamera in einer Einstellung zum Erstarren. Es ist vor allem die Bewegung, die den Abhang in seinem Verhältnis zum filmischen Rah­men bildet. Sei es, dass Letzterer den Horizont ersetzt, sei es, dass er den Off- Screen - den Ort, wohin die Tänzer verschwinden - auf ein Höchstmass anwachsen lässt. Der Abhang ist Bewegung in Potenz; sind die Körper erst mal in Bewegung gesetzt, markieren sie den Abhang durch ihren Fall.

Die zwei besprochenen Filme messen sich an der Landschaft. Beiden gelingt es, zur typisierten helvetischen Darstellung ein Gegengewicht zu setzen, indem sie sich einem Element widmen, das den Berg charakterisiert: dem Abhang. Dieses Element des Reliefs wird zum strukturellen Motiv oder Prinzip, welches das Stereotyp des Schweizer Bergs verschwinden lässt, indem der Abhang am Körper gemessen wird. Das Verhältnis zum Horizont, der den Abhang schafft, verlagert sich, und die Schieflage, die den Abhang auszeichnet, wird ausgelöscht. Der Abhang übernimmt die Hauptrolle, die man nur im Darstellungssystem des Films als solche wahrnehmen kann.

Übersetzung: Flavia Giorgetta

Die drei Kurzfilme unter dem Titel Grand écart sind Pas perdu (1994), Keines d’un jour (1996) und Contrecoup (1997).

Für eine detailliertere Ausarbeitung dieser drei Stufen der Landschaftsdefinition siehe Maria Tortajada, «Cinéma suisse: comment échapper au paysage narcissique?», in: Der­rière les images, Neuchâtel 1998, S. 279-306.

Der Film wurde im Schächental im Kan­ton Uri gedreht, dem Heimatkanton des Regis­seurs.

Im Film überlagern Gesang und Instru­mente nie vollständig das Geräusch der auf die Erde fallenden Körper oder das Rascheln der Stoffe.

Maria Tortajada
ist Assistenzprofessorin für Filmwissenschaft an der Universi­tät Lausanne. Verantwortliche Herausgeberin des zweiten Bandes von Histoire du cméma suisse (1966-2000), einem gemeinsamen Projekt der Cinémathèque suisse und der Universität Lausanne.
(Stand: 2018)
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