ROLAND COSANDEY

TOURISMUS UND DER FRÜHE FILM IN DER SCHWEIZ (1896-1918) — ELIZABETH AUBREY LE BLOND, FRANK ORMISTON-SMITH, FREDERICK BURLINGHAM

ESSAY

Die Schweiz hatte dem frühen Film vor allem eines zu bieten: Landschaft. Und damit stand sie nicht allein. Als die Kameramänner in der Anfangszeit des Kinos dieWelt nach geeigneten Sujets durchstreiften, brachten sie in erster Linie Vedu­ten nach Hause: Ansichten natürlicher und städtischer Landschaft. Diese Plein­air-Filme - im Freien gedrehte, dokumentarische Streifen - machten in den ers­ten 15 Jahren den Grossteil der europäischen Filmproduktionen aus. Nach 1911 gewann der Spielfilm zunehmend an Bedeutung, ohne dass die dokumentari­schen Aufnahmen jedoch ganz verdrängt wurden. Ihr geringes Ansehen bei den Filmliebhabern überschattet aber bis heute ihre historische Bedeutung.

In den Ländern, deren Markt zu klein war für eine eigene Spielfilmpro­duktion, kristallisierte sich der Non-Fiction-Film früh als essenziell für die nationale Kinematografie heraus. So auch in der Schweiz: In den Zehnerjahren entstanden hier die ersten Produktionsfirmen, die unter anderem anlässlich der Landesausstellung 1914 lebhaft konkurrierend in Erscheinung traten.1 Zwi­schen 1896 und dem Ersten Weltkrieg wurden «Schweizer» Filme sowohl im In- als auch im Ausland produziert. Produktion und Auswertung gingen dabei Hand in Hand. Zum Repertoire, das hauptsächlich bei ausländischen Firmen eingekauft wurde, gehörten seit Beginn des Jahrhunderts Werke, welche hiesige Wanderkinobetreiber selbst herstellten. Dabei wurden möglichst Themen von allgemeinem Interesse berücksichtigt, so etwa das eidgenössische Turnfest, Mi­litärmanöver oder die Fête des Vignerons. Zwischen 1907 und 1910 entstanden die ersten sesshaften Kinos, die ebenfalls eigene Streifen für die Aktualitäten­schau produzierten. Gezeigt wurden Feuersbrünste, Flugmeetings oder die Vi­siten bekannter Persönlichkeiten. Leider haben diese Vorläufer der regionalen und nationalen Kino-Wochenschauen, die sich in den Zwanzigerjahren herausbildeten, kaum materielle Spuren hinterlassen.

Die damals verbreitetsten Bildsujets aus der Schweiz stammten in der Regel nicht aus helvetischer Produktion. Pathé, Gaumont, Eclair, Eclipse, Raleigh & Robert, Urban, Welt-Kinematograph, Cines und Ambrosio hiessen die Firmen, die den Markt mit «unseren» Bildern versorgten.2 Das Interesse dieser Produ­zenten richtete sich auf Orte, von denen sie glaubten, dass sie bei ihrem Pub­likum auf besonderes Interesse stossen würden.3 Einen Standardbildkanon legten bereits die ersten Filme über die Schweiz fest, wie die Ansichten des lumièreschen Verkaufskatalogs, die unter Aufsicht von Lavanchy-Clarke zwi­schen Mai und Oktober 1896 zusammengestellt wurden, belegen. Genf, das Schweizerdorf an der Landesausstellung 1896, Lausanne, Montreux, Zermatt, Interlaken, der Rheinfall sowie Basel gehören zu diesem erhaltenen Korpus, das ein gutes Dutzend Veduten umfasst. Wenn man diese als Etappen einer Reiseroute ansieht, könnte man meinen, die Montage sei unter Aufsicht eines Agenten der Cook-Reisegesellschaft vorgenommen worden, die übrigens Ver­tretungen in Basel und Genf hatte.

Wie das Buch Filmlandschaft4 am Beispiel der Graubündner Regionen zei­gen wird, war das Kino hier zu Lande eng mit der Tourismusentwicklung sowie dem Ausbau von Bahn- und Schiffsverbindungen verknüpft. Die Schweiz kris­tallisierte sich während des 19. Jahrhunderts als Tourismusland heraus. Dabei kam den Engländern eine Schlüsselrolle zu. Dass es folglich auch vor allem Briten waren, die hier als Erste Filme drehten, verwundert nicht. Über diese quantitative Feststellung hinaus wäre es aber wichtig zu erfahren, inwiefern diese Produktionen sich mit in- und ausländischen Werbeanstrengungen für die Schweiz verbanden und inwieweit sie mutmassliche Zuschauererwartungen bedienten. Das Zielpublikum ging dabei weit über die kleine Gruppe effektiv Reisender hinaus.

Die Kinematografie übernahm vom bereits entwickelten Schweizer Frem­denverkehr die Reiserouten und -Stationen sowie die Sujets. Inzwischen hatte sich der Tourismus vom Alpinismus gelöst und verstand sich als kollektives, doch wohlgemerkt (noch) nicht als Massenphänomen. Gleichzeitig wurden sowohl die internationalen Verbindungen wie auch die Panoramalinien - Seil- und Bergbahnen - ausgebaut. Sommer- wie Winterdestinationen erlebten einen wahren Boom.

Mobilität - filmisch umgesetzt im so genannten Panorama (Travelling), das von einem fahrenden Vehikel aus aufgenommen wurde -, unberührte Berg­landschaften, mittelalterliche Städtchen, der moderne Komfort der Hotelanla­gen, die neusten Trendsportarten - Skifahren, Skispringen, Bob und Eishockey - sowie Wandern und Autofahren: Die kinematografierte Schweiz gab sich als «Spielwiese Europas»5. Der Berg blieb bei aller Vielfalt aber eines der belieb­testen Bildsujets. Als Beispiel sei hier der Entdeckungs-, Sport- und Bergfilm 4628 Meter hoch auf Skiern. Mit Ski und Filmkamera 1913 auf dem Monte Rosa erwähnt.6 Sepp Allgeier führte die Kamera, der Ingenieur Luis Trenker war darin als begnadeter Skifahrer zu sehen. Der Filmtitel versäumt es nicht, nebst den sportlichen Meriten auch auf die kincmatografische Leistung hinzuweisen.

Diese hervorzuheben, befleissigten sich sowohl die Presse, die selbstreflexive Inszenierung im Film7 sowie die Fotodokumentation über den Dreh in den Filmverkaufskatalogen.

Im Gegensatz zur ideologischen Ausformung des Bergfilms in der Zwi­schenkriegszeit werden in 4628 Meter hoch auf Skiern allerdings der Effort und die erbrachten Opfer nicht besonders hervorgehoben. Der Berg stellt keine magische Macht dar, und ebenso wenig wird eine Beziehung zwischen sport­licher Leistung und Blut-und-Boden-Ideologie hergestellt. Die Gruppe ist auch keine heroische Gemeinschaft, obwohl die Risiken des Aufstiegs und der Tal­fahrt nicht zu unterschätzen waren.

Majestätische Berglandschaften wurden mit Vorliebe von einer Hochge­birgshütte aus aufgenommen oder zumindest von Orten, die für eine Vierer­oder Fünferequipe inklusive schwerer Kameraausrüstung erreichbar waren. Doch selbst wenn ein paar wenige Filmemacher der Vorkriegszeit sich auf den Bergfilm spezialisierten, standen die touristischen Vergnügungen im Mittel­punkt der Filmproduktion. Man porträtierte das Leben in den Kurorten - be­sonders in den Winterdestinationen.

Der Tourismus in der Schweiz bildete sich nicht nur parallel zu der Ent­wicklung der Transportmittel heraus, sondern auch über eine Standardisierung der Reiserouten und unter Ausschluss jeglichen Kontakts mit den Einheimi­schen.8 Letztere wurden nur mehr als Störfaktoren in einer ansonsten unbe­rührten Landschaft oder als inkompetente Informanten empfunden - gleichgül­tig sowohl den Schönheiten der Natur gegenüber als auch den geschichtlichen Spuren. In dieser Epoche funktionierte die Verbindung Tourismus-Folklore noch nicht.

Als eine der wenigen Personen, die man in den filmischen Landschafts­ansichten sieht, tritt der Reisende selbst auf, als einsamer Spaziergänger, manch­mal zu zweit oder im Kreise der Familie. Er muss nicht unbedingt in jeder Ein­stellung präsent sein. Aber er ist da am Rand einer Strassenkurve, die über eine Schlucht hinausragt, oder auf einer Terrasse, die den Blick auf einen Berggipfel freigibt. Er fährt auf dem Edeldampfer dem Ufer entlang, wo sich heitere und unberührte Örtlichkeiten ablösen und neue Hotelpaläste im Grünen prangen. Manchmal werden die Reisenden auch aktiv: Als Seilschaft sieht man sie mit ihren Führern durchs Bild marschieren; als Schlittschuhläufer räumen sie den Schnee von der hoteleigenen Eisbahn, was regelmässig in eine Schneeball­schlacht ausartet. Oder man sieht sie als Skifahrer, die allerdings eher komisch wirken, entspricht ihre Technik doch nicht ganz unseren modernen Vorstel­lungen. Die seltenen Filme, in denen Einheimische auftreten, gehören anderen Genres an. Zum einen stellen diese Sitten und Bräuche in den Mittelpunkt wie La vie sur l’Alpe (Eclipse, F 1910). Zum andern dokumentieren sie die einhei­mische Manufaktur wie La sculpture sur bois à Brien? (Eclipse, F 1910), der ein halbindustrielles, auf Touristen ausgerichtetes Handwerk porträtiert.

Am Beispiel von drei Persönlichkeiten möchte ich die Entwicklungen des frühen Landschaftsfilms näher erläutern: Elizabeth Aubrey Le Blond und ihre Filme zur Zeit der Jahrhundertwende, die zwei Expeditionen des Kamera­manns Frank Ormiston-Smith für die Urban Trading Co. zwischen 1902 und 1906 sowie die Produktionen der Burlingham Films, Montreux, in den Zehner­jahren.

Die erste Frau, die in der Schweiz filmte

Elizabeth Aubrey Le Blond (1861-1934) führt uns in die frühesten Jahre des Kinos zurück. Die Hand voll Filme, die ihr zugeschrieben werden, drehte sie in Sankt Moritz zwischen 1899 und 1900. Ihr kurzlebiges Engagement in diesem Bereich sollte bisher nicht für einen Eintrag in die Annalen der Filmhistorie reichen. Elizabeth Aubrey Le Blond selbst machte kein Aufhebens daraus, und ihre Biografen waren darüber wahrscheinlich gar nicht im Bilde: Sie beschrie­ben sie als exzentrische viktorianische «Sportswoman» (Fahrrad und Automo­bil), als Schriftstellerin, die sich auf Reiseberichte spezialisiert hatte, als Foto­grafin und pionierhafte Bergsteigerin, die mit Vorliebe im Winter unterwegs war, sowie als Gründerin des Ladies’ Alpine Club 1907, dem sie bis zu ihrem Tod als Präsidentin Vorstand.9

Geboren wurde sie als Elizabeth Alice Frances, um dann - ein ums andere Mal verwitwet - Mrs. Burnaby, Mrs. Main und schliesslich, ab 1900, Mrs. Aub­rey Le Blond zu heissen. Sie hielt sich, so scheint es, seit den 1880er-Jahren verschiedentlich in der Schweiz auf, besonders in Sankt Moritz. Der General Catalogue of British Books von 1962 führt die Bedeutung ihrer Publikationen vor Augen: Zwischen 1883 und 1913 veröffentlichte sie nicht weniger als acht Werke über die Alpen. Eine erste Nennung in der Geschichte der Kinematografie erhielt sie 1995 im Who’s Who of Victorian Cinema, wo Stephen Botto­more ihr einen Eintrag widmete.

Ihre filmische Tätigkeit ist in zwei zeitgenössischen Texten verbürgt: In einer Ausgabe von Animated Photography von Cecil Hepworth von 1900 - einem der ersten Werke, die dem Kinematografen gewidmet sind - findet man eine Bemerkung über ihre «interesting subjects [...] of snow sports in alpine regions». Und eine Ausgabe des Verkaufskatalogs der englischen Firma Wil­liamson, im Herbst 1902 erschienen, liefert eine Liste von «Ansichten» sowie acht Filmkader. Unter dem Titel «Winter Sports in the Engadine» werden zehn Filme angeboten, die im Ganzen zwischen 165 und 200 Meter lang sind (von einer Gesamtdauer zwischen neun und elf Minuten). Jede einzelne Ansicht be­stand vermutlich aus einer ungefähr einminütigen Einstellung - wie das für die Streifen um 1900, sei es Spiel- oder Plein-air-Film, üblich war. Alle diese Filme führen die sportlichen Aktivitäten der Gäste des Kurorts vor: eine Schneeballschlacht, Pferdeschlitten, Bob (die berühmte Cresta Run), Schlitteln, Schlitt­schuhfahren («the celebrated Canadian skater, Mr. Vail») und Hockey. Einzig das Skifahren fehlt. Gleichzeitig wurden auch bestimmte Lokalitäten wie das Hotel Kulm oder das Restaurant Belvoir namentlich vorgeführt. Ein Teil dieser Sportarten - auf Amateurniveau - findet sich im Buch Winter Sports in Switzer­land (1913) von E.F. Benson wieder, worin Elizabeth Aubrey Le Blond Foto­sequenzen über verschiedene sportliche Aktivitäten sowie Naturaufnahmen veröffentlichte. Die Filme wurden im Thermalkurort Sankt Moritz gedreht, dessen touristische Entwicklung in den 1870er-Jahren einsetzte und das sich um die Jahrhundertwende als Winterkurort etablieren konnte.10

Pittoreske Schweiz: Frank Ormiston-Smith

Während die Hintergründe der Produktion von Mrs. Aubrey Le Blond noch weitgehend im Dunkeln liegen - war es ihre persönliche Initiative? Ein Auf­trag? Hat sie die Kamera selbst geführt oder sie delegiert wie Lavanchy-Clarke an Constant Girel? Wie kamen ihre Filme in den Williamson-Katalog? -, gehört der im Folgenden beschriebene Cineast eindeutig zur Gruppe professioneller Kameramänner, die um 1900 aktiv waren.

Die 1903 gegründete Produktions- und Verkaufsfirma von Charles Urban brachte bis 1906 rund tausend Filme auf den Markt, darunter ein Grossteil Plein-air-Streifen. Die Schweiz nimmt darin einen ihrem touristischen Renom­mée in England entsprechenden Platz ein. Einer der wichtigsten Kameramänner der Firma, Frank Ormiston-Smith, war im Auftrag von Urban bereits im Sep­tember 1902 auf dem Montblanc und dem Schreckhorn gewesen.11 Uns interessieren hier allerdings nur die Produktionen des Urban-Katalogs von 1903. Dort nehmen die Schweizer Filme von Ormiston-Smith, «the eminent mountainee­ring photographer», einen besonderen Platz ein, der ganz und gar nicht der heute verbreiteten Meinung vom anonymen Kurbeldrehcr entspricht - einer Vorstellung, in der sich mehrere hartnäckige Vorurteile konzentrieren, sei es in Bezug auf die mutmassliche Anspruchslosigkeit der Kameraarbeit, die Abwesen­heit eines Regisseurs oder die Indifferenz gegenüber dem filmischen Vokabular, sobald es sich nicht um ein fiktionales Werk handelt.

Die Wertschätzung des Kameramanns als Autor eines Films misst sich am Wert der Bilder, die er von den Alpen, aus Kanada, aus Russland oder Japan zurückbrachte. Die Darstellung im Urban-Katalog belegt dies: Die Werke wer­den in zahlreichen Filmabbildungen evoziert, ihre Sujets in Fotografien fest­gehalten. Dabei handelt es sich vermutlich weniger um Filmkader als um Fotos, die parallel zum Film aufgenommen wurden; manchmal dokumentieren sie den Dreh. Die Filme sind nach Kategorien aufgeteilt: «The Wintry Alps»; zwei Gruppen, die mit «Picturesque Switzerland» überschrieben sind; «The Matter­horn conquered by the Bioscope» und «Ascent of the Jungfrau».

Diese Serien bieten eine so reiche Auswahl an Schweizer Sujets, dass sie - in dieser Konzentration - wohl zu den vielfältigsten des ersten Jahrzehnts gezählt werden können. Die Streifen messen zwischen 15 und 53 Metern (zwi­schen einer und drei Minuten). Ein paar wenige «specials» haben eine Länge von 76 beziehungsweise 106 Metern (zwischen vier und sechs Minuten). In der Regel handelt es sich um Filme, in denen verschiedene Ansichten aneinander ge­fügt wurden. Der ausführlichste, A Trip Around the Lake of the lour Cantons, Switzerland, bietet eine vollständige Reiseroute in elf Tableaus (106 Meter) mit Zwischentiteln von «Lake Steamer Leaving Lucerne» bis «Fluellen - End of the Trip». Der Katalog von 1903 bietet insgesamt mehr als 1500 Meter Film, das heisst rund anderthalb Stunden Dauer.

Bis hier hat unsere Rekognoszierung von einem englischen Standpunkt aus stattgefunden. Doch eine Verdankung im Urban-Katalog von 1903 erlaubt es uns, die Seite zu wechseln. Die erste Serie von «Picturesque Switzerland», wel­che Seen und Landschaften des Berner Oberlands reproduziert, wird dort angepriesen als: «gefilmt von Ormiston-Smith by courtesy of Herr H. Hart­mann, Secretary to the Oberländischer [sic] Verkehrsverein of Interlaken». Die­ser ist niemand anders als Hermann Hartmann (1865-1932), Vater des Begrün­ders des Schweizer Schul- und Volkskinos, Milton Ray Hartmann. Letzterer war 1903 gerade mal fünf Jahre alt und wird sich in Mein Lebenswerk, in dem er seine Laufbahn beschreibt, noch nach vielen Jahren an diese Dreharbeiten erinnern.12

Obwohl skizzenhaft, sind Hartmanns Erinnerungen sehr wertvoll, helfen sie doch, die Existenz filmischer Aktivitäten in der Schweiz viel früher anzu­setzen als bisher angenommen. Zudem legen sie Zeugnis von der Internationa­lität der Verbindungen ab. Seine Notizen, in welchen der Name der englischen Firma nicht vorkommt, lassen sich auch als eine Art Inanspruchnahme der Autorenschaft interpretieren - weniger in Bezug auf den Film selbst als in einem konzeptuellen Sinn bezüglich Idee und Nutzung im Dienste touristischer Pro­motion. Allerdings fehlen uns genauere Informationen über die Beschaffenheit der Beziehung zwischen der Urban Trading Co. und dem Berner Oberländer Verkehrsverein sowie Angaben dazu, ob die Filme zu spezifisch werbetechni­schen Zwecken ausgewertet wurden - ausserhalb der damals üblichen Vorfüh­rungen im Rahmen von Jahrmärkten und Varietésâlen.

Von diesen Filmen bleiben nur Fragmente, die hauptsächlich im Londoner National Film and Television Archive aulbewahrt werden. Bisher waren sie noch nicht Objekt einer spezifischen Studie, obwohl sie seltene filmische Zeug­nisse des Wallis, der Alpen oder der Stadt Bern sind und zu den ältesten vor­handenen Aufnahmen dieser Gegenden gehören. Es ist wahrscheinlich, dass der Streifen, der apokryph mit Cervin 1901 betitelt wurde und von der Média­thèque Valais in Martigny als Videokopie hie und da gezeigt wird, die x-te Kopie einer Kopie aus diesem Ensemble darstellt. Die Besteigung des Matterhorns durch Ormiston-Smith fand am 28. September 1903 statt und wird so kommen­tiert: «The conquest was completed by bioscoping of the marvellous panorama from the actual summit of the Matterhorn, 14 780 feet above the level of the sea.»

Exotische Landschaft Schweiz: Frederick Burlingham

1997 kamen durch einen restaurierten Film der Cinémathèque suisse ganz er­staunliche Bilder aus dem Lötschental wieder in Umlauf. Es sind zweifellos die ersten Aufnahmen dieser Landschaft. Während sich das Interesse Europas auf die monumentale Baustelle der Lötschberglinie konzentrierte, die 1913 ein­geweiht wurde (Arbeiten und Einweihung wurden selbstverständlich gefilmt), blieb das Tal grösstenteils unbekannt - ausser im Kreise des Schweizer Alpen­clubs sowie unter Volkskundlern, darunter dem Agraringenieur Gottlieb Steh­ler, der im Film zu sehen ist.

La vallèe de Lötschenthal wurde 1916 von Frederick Burlingham, der 1877 in Baltimore geboren wurde, gedreht. Bei uns tauchte sein Name zum ersten Mal in einer Anmerkung von Hervé Dumonts Geschichte des Schweizer Films13 auf. Es dauerte lange, bis ein Historiker sich der dort zitierten Filmografie in der Zeitschrift Kinema (1911-1919) annahm. Zusätzlich erhielt die Forschung einen Anstoss durch die Hofmann-Sammlung, die 1997 in der Cinémathèque eingelagert wurde, enthielt diese doch zwei fragile Kopien aus der Zeit unter dem Label «Burlingham Films, Montreux»: einen Reisefilm aus Chamonix, Chamonix im Sommer, sowie La vallée de Lötschenthal, der den Untertitel trägt La Suisse inconnue.

Dieser Film gehört insofern nicht zu unserem Thema, als er weder eine Reise noch einen Ort präsentiert, der den Anforderungen des zeitgenössischen Tourismus genügte. So paradox es klingen mag, rückt ihn seine exotische Di­mension in die Nähe von Pathé-Filmen, wie zum Beispiel den ein paar Jahre früher von Alfred Machin und dem Basler Safariführer Adam David gedrehten Streifen über die Chillouks im Sudan. Als Burlinghams Film in London unter dem Titel Village Life in the Lötschenthal gezeigt wurde, begann die Zeitschrift Pictures and the Picturegoer vom 28. Oktober 1916 dessen Beschreibung so: «Scenic. One reel. The Lötschenthal, the wildest valley in Europe, is inhabited by a primitive people.» Exotismus - und auch Abenteuer - finden nicht unbedingt nur dort statt, wo wir sie vermuten. Die Bergfilme aus diesen Jahren verdienen es unbedingt, unter diesem Aspekt betrachtet zu werden.

Auch dem Dreh von Erforschungen auf dem Aletschgletscher (1917) haftet ein Touch von Entdeckungsreise an. Für das Filmprojekt «auf dem grössten Gletscher der Welt, ausgenommen der Himalaja und die arktischen Regio­nen»,14 zählte man sogar auf die Dienste von Schlittenhunden. Es fehlen weder die Anekdoten über das risikoreiche Unternehmen noch die Hervorhebung der Originalität der Bilder, die eine kinematografischc Premiere darstellten.15

Burlinghams filmische Karriere - soweit man das auf Grund des aktuellen Forschungsstands beurteilen kann - basiert zur Gänze auf einem sportfilmi­schen sowie einem auf Entdeckung ausgerichteten Exploit: Er gelangte vom Ätna (My Dash into the Inferno of the Vesuvius, 23.-28. Dezember 1913) über die Schweizer und französischen Alpen bis zum Indischen Ozean (Het Eiland Romeo, so der niederländische Titel der im Filmmuseum Amsterdam aufbe­wahrten Kopie [etwa 1920]). Doch seine Produktion besteht längst nicht nur aus sensationellen Aufnahmen. Sie weist auch eine Kontinuität auf bezüglich der Sujets, die zehn Jahre vor ihm Ormiston-Smith für Urban aus der Schweiz nach Hause brachte. Im Übrigen machte Burlingham seine ersten filmischen Schritte für ebendiese Firma sowie für deren Konkurrentin British and Colo­nial Kinematograph.16 Dort findet man Reiseberichte, pittoreske Ansichten historischer Städte, touristische Sehenswürdigkeiten - von der Bahn aus aufge­nommen - sowie das Angebot renommierter Kurorte, darunter ein kostbarer erhaltener Streifen über Loèche-les-Bains: A Wonder Spa in the Alps (1915).

Als sich Burlingham während seiner Schweizer Zeit in Montreux nieder­liess, beehrte er damit nicht nur einen der berühmtesten Ferienorte in Europa. In Montreux kreuzten sich auch die Bahnen, die in Burlinghams bevorzugte Alpenregionen führten, mit den grossen internationalen Linien. An der Waadt­länder Riviera angesiedelt, war dieser amerikanische Globetrotter über meh­rere Jahre vielleicht der wichtigste Filmproduzent in der Schweiz. Und er stand dem einzigen unabhängigen Vertrieb vor, der in diesem Ausmass Produktionen herstellte, die von den englischen Firmen British and Colonial Kinematograph, Charles Urban, New Agency Film sowie den amerikanischen Trans Oceanic Film oder Lasky verkauft wurden. Wahrscheinlich ist es nur dem Zufall zu ver­danken, dass Burlingham hier seine Zelte aufschlug. Als der Erste Weltkrieg die Reisefreiheit empfindlich einschränkte, entschloss er sich zu diesem wohl von Beginn weg provisorischen Aufenthalt - nicht zuletzt auch als Ausgangspunkt für seine Bergtouren. Nach Ende des Kriegs zog Burlingham weiter.

Während seines Aufenthalts in der Schweiz zwischen 1912 und 1919 drehte Burlingham nicht weniger als 50 Titel und brachte sie in Umlauf. Die meisten davon entstanden in der Haute-Savoie, im Wallis und im Berner Oberland so­wie im Engadin. Zusammen ergeben die in der Zeitschrift Kinema angeführten Streifen (nach Orten aufgelistet) rund 9000 Meter Film, das entspricht etwa achteinhalb Stunden Dauer. Die Länge der Filme bewegt sich zwischen 80 und 400 Metern beziehungsweise zwischen 4 und 22 Minuten.17

Was bereits in Bezug auf die Wertschätzung des Plein-air-Kameramanns in der Hierarchie der kincmatografischen Berufe erwähnt wurde, trifft voll und ganz auf Burlingham zu. Auf dem Titelblatt seines Buchs How to Become an Alpinist wird er als «der Mann, der das Matterhorn filmte», bezeichnet (den Film Besteigung des Matterhorns drehte er vom 1. auf den 2. Juli 1913). Und Burlingham selbst kultivierte das Bild des Cineasten-Abenteurers, des «Sports­man» und Entdeckers. Als Folge der umwälzenden Veränderungen in der Film­auswertung während der Zehnerjahre durch die neuen Kinohäuser traf ein Filmemacher wie er auf vielseitigen Zuspruch und rege Nachfrage: Filmrevuen sowohl für Fachleute als auch für ein Laienpublikum, eine Bildpresse, die sich dem dokumentarischen Bild gegenüber - sei es als Fotografie, sei es als Film - empfänglich zeigte, und nicht zu vergessen die Tageszeitungen, die interessiert waren, über die Dreharbeiten zu berichten oder Einzelheiten über die Bestei­gung und deren Verfilmung zu schildern. Eine vertiefendere Recherche würde es erlauben, die Geschichte eines der aktivsten Protagonisten der Schweizer Filmhistorie vor den Zwanzigerjahren nachzuzeichnen, der vermutlich einhei­mischen Unternehmerpersönlichkeiten als Vorbild diente.

Perspektiven

Den zahlreichen Fragen, die auf den letzten Seiten immer wieder aufgetaucht sind, haftet nichts Rhetorisches an. Sie sollen einerseits die Grenzen der bishe­rigen Erkenntnisse aufzeigen und gleichzeitig Forschungsperspektiven anbie­ten. Die wichtigste ist diejenige der Beziehung zwischen Film und Tourismus in der Zeit zwischen 1896 und der Mitte der Zehnerjahre. Wie entwickelte sie sich weiter? Welchen Anteil hatte sie an der Diskussion über die filmische Ver­mittlung einer nationalen Identität, die in den Zehnerjahren begann und noch vordem Dreissigerjahren an Bedeutung gewann?

Eine Geschichte des Films in der Schweiz zu schreiben, heisst, die Elemente zu interpretieren, die eine Recherche an die Oberfläche befördert. Eine solche Recherche muss auch Forschungsarbeiten in Betracht ziehen - wenn sie denn existieren! -, die sich thematisch mit der eigenen überschneiden: auf kultu­reller, sozialer oder ökonomischer Ebene - sei es die Geschichte des Fremden­verkehrs, der Hotellerie, der Transportmittel, des Sports. Diese Verknüpfungen sind ebenso essenziell wie komplex. Erst eine solche Forschung kann Auf­schluss geben über die wichtigsten Produktionskräfte und ihre Beweggründe und macht eine kritische Analyse des Filminhalts überhaupt möglich.

Übersetzung: Doris Senn

Vgl. Roland Cosandey, «De l’Exposition nationale Berne 1914 au CSPS 1921: charade pour un cinéma vernaculaire», in: Maria Torta- jada / François Albera (Hgg.), Cinéma suisse: nouvelles approches, Lausanne 2000, S. 91-109.

Vgl. Roland Cosandey, Welcome Home, Joye! Film um 1910. Aus der Sammlung Joseph Joye (N FT VA London), Basel / Frankfurt am Main 1993 (Kintop 1), sowie Pierre-Emmanuel Jaques: «Cinéma suisse et paysage: un parcours géographique», in: Tortajada / Albera (wie Anm. 1), S. 211-234. Doch auch die lokale For­schung erlaubt cs, aufschlussreiche Entdeckun­gen zu machen, vgl. Davide u. Gianni Pozzi, «Immagini del Lago Maggiore ... al cinema», erscheint 2003 in Verbanus 23 (Verbania-Intra). Ich möchte mich bei Davide Pozzi bedanken, der mir freundlicherweise sein Manuskript zur Verfügung gestellt hat.

Obwohl mit Vorsicht zu geniessen, bleibt Tours de manivelle — Souvenirs d'un chasseur d'images (1933), der Erlebnisbericht des be­kannten Felix Mesguich, ein wichtiges Doku­ment: Es zeichnet die Zickzackroute eines Kameramanns, der sich auf Plein-air-Filme spezialisiert hat. Auf diesen weltumspannen­den Expeditionen war ein Halt in der Schweiz - zumindest bis August 1914 - unabdingbar. Und auch die Joye-Sammlung bietet in diesem Zusammenhang einen aussagekräftigen Quer­schnitt durch die internationale Produktion. Darin findet sich eine grosse Anzahl Schweizer Veduten, so ein Ausflug auf die Rigi, Ansichten der Tessiner Seen oder der Stadt Luzern sowie vom Bau der Lötschbergbahn. Diese überlie­ferten «Helvetica» waren allesamt ausländische Produktionen und für den internationalen Markt bestimmt.

Jürg Frischknecht / Thomas Kramer / Werner Swiss Schweizer, Filmlandschaft Engadin, Bergeil, Puschlav, Münstertal, Chur, erscheint voraussichtlich 2002.

In Anlehnung an den Titel des berühmten Alpinismus-Buchs von Leslie Stephen, The Playground of Europe, von 1871.

Vgl. Roland Cosandey, «4628 Meter hoch auf Skiern. Mit Ski und Filmkamera 1913 auf dem Monte Rosa», in: Neue Zürcher Zeitung (22. September 2000), S. 67. Produzentin des Films war die Welt-Kinematograph in Freiburg im Breisgau.

Vgl. Roland Cosandey, «Bilderbogen einer Filmexpedition im Lande des Tourismus. Die Mutoscopc & Biograph Co. in der Schweiz, 1903», in: Kintop 4 (Oktober 1995), S. 50-73.

Vgl. Laurent Tissot, Naissance d'une in­dustrie touristique. Les Anglais et la Suisse au 19 'eme siècle, Lausanne 2001.

Vgl. Jane Robinson, Wayward Women. A Guide to Women Travellers, Oxford 1990, S. 20 f., und Cicely Williams, Women on the Rope. The Feminine Share in Mountain Adven­ture, London 1973.

Es könnte sein, dass Kopien der Filme aufgetaucht sind. Reto Kromer, Verantwort­licher der Schweizer Sammlung in der Cinéma­thèque suisse, hat kürzlich die Existenz von Filmstreifen mitgeteilt, die zurzeit restauriert werden und die gewissen Titeln aus dem Wil­liamson-Katalog entsprechen könnten.

Vgl. Rachel Low / Roger Manvell, The History of the British Film 1896-1906, London 1948, S. 73 f.

Milton Ray Hartmann, Mein Lebens­werk. 30 Jahre Förderung des guten Films, Bern 1970.

Hervé Dumont, Geschichte des Schweizer Films. Spielfilme 1896-1965, Lausanne 1987, S. 48, Anm. 2.

In: La Patrie suisse vom 9. Januar 1918.

Die Burlingham-Filme wurden nach dem Krieg durch die Famous Players / Lasky Corporation in den USA vertrieben - als Serie unter dem Titel Paramount/Burlingham Adventure Picture. Als Logo hatte die Burlingham Films eine Profilaufnahme der Silhouette des Kameramanns, auf der die Bergsteigerausrüstung mit Rucksack und Pickel zu erkennen war.

Vgl. Low/Manvell (wie Anm. H), S. 72L und 145.

Siehe «Neue Liste der Burlingham- Filme», in: Kinema 37 (15. September 1917), S. nf. (53 Titel), zum zweiten Mal publiziert in: Kinema 40 (13. Oktober 1917), S. 22 f. - Über Frederick Harrison Burlinghams späteres Leben gibt es kaum Angaben. Gemäss Copy­right-Akten, die in der Library of Congress aufbewahrt werden, zirkulierten seine Filme aus den Zehnerjahren im Folgejahrzehnt auf dem amerikanischen Markt. Mehrere Titel lassen darauf schliessen, dass er weiterhin als filmender Reisender seinen abenteuerlichen Expeditionen zwischen Pazifischem und Indi­schem Ozean nachging.

Dieser Text basiert auf Recherchen, die im Rahmen des Projekts Golddiggers of '98 mit Unterstützung von Memoriav durchgeführt wurden. Die einzelnen Berichte können unter wwrw.memoriav.ch eingesehen werden.

Roland Cosandey
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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