MATTHIAS CHRISTEN

PANE E TULIPANI (SILVIO SOLDINI)

SELECTION CINEMA

Nach Le acrobate lässt der italienisch-schwei­zerische Doppelbürger Silvio Soldini erneut Figuren zum Zug kommen, die es im kom­merziellen Kino ansonsten nicht leicht haben. Im Mittelpunkt der poetischen Beziehungsgeschichte steht die Hausfrau Rosalba (Licia Maglietta). Sic hat die Vierzig knapp hinter sich und ist nicht sonderlich unglücklich verheira­tet, zählt also gewöhnlich nicht unbedingt zu den Heldinnen filmischer Lovestorys. Mit ihrem Mann, dem Besitzer eines gut gehenden Sanitärbetriebs, verbinden sie zwei pubertierende Kinder und die Gewohnheit. In den gemeinsamen Ferien sorgen Gruppenreisen im Bus für ein wenig Abwechslung. Auf einer die­ser Fahrten wird Rosalba versehentlich auf einer Autobahnraststätte zurückgelassen. Was zunächst wie ein kleines Missgeschick aussieht, ist der Anfang einer Emanzipationsgeschichte, die das Leben aller Beteiligten nachhaltig durcheinander bringt.

Soldini und seine Co-Autorin Doriana Leondeff erzählen die allmähliche Loslösung Rosalbas vom familiären Alltag als Mischung von Komödie und Märchen. Statt ihrer Familie nachzureisen, beschliesst Rosalba aus einer Laune heraus, auf eigene Faust Venedig zu be­suchen. Kaum ist sie in der legendären Stadt der Liebe angekommen, nehmen die märchenhaf­ten Motive zu. Rosalba begegnet wunderlichen Menschen, wie sie zumal in dieser Dichte im wirklichen Leben selten anzutreffen sind. Sie freundet sich mit dem liebenswert schüchter­nen Kellner Fernando (Bruno Ganz) an, einem grossen Verehrer von Ariosts Orlando Furioso, und beginnt im Blumenladen eines alten Anar­chisten zu arbeiten.

Der verzauberten Welt, in der sich Rosalba zunehmend selbstsicher bewegt, droht nie ernsthaft Gefahr von aussen. Zwar setzt der verlassene Ehemann einen reichlich unbeholfe­nen Privatdetektiv auf seine Frau an, aber auch der entdeckt, einmal in Venedig, sein Herz und verfällt der Masseuse Grazia, Fernandos un­glücklicher Nachbarin. Pane e tulipani ist trotz allem kein Rührstück. Soldini siedelt seine mär­chenhaften Paarbildungen nämlich in einem betont prosaischen Umfeld an. Von den touris­tischen Sights, die die Lagunenstadt berühmt gemacht haben, ist den ganzen Film über nichts zu sehen. Räumlich beschränkt sich die Handlung auf ein einfaches Arbeiterviertel. Selbst wenn nach allerlei Rückschlägen für Rosalba der Traum von einem anderen, glücklicheren Leben am Ende Wirklichkeit wird, hält Soldini bis zuletzt die Balance, die sich auf spielerische Weise schon im Titel einstellt: Es braucht das tägliche Brot zur blühenden Fantasie - und umgekehrt.

Matthias Christen
geb. 1966, Promotion mit einer Arbeit zum Form- und Bedeutungswandel des Lebensreise-Topos in Text- und Bildmedien (to the end of the line, München 1999). Publizistische Tätigkeit zu Fotografie und Film. Lebt als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds in Berlin; arbeitet an einem Buch zur Geschichte und den Funktionen des Zirkusfilms.
(Stand: 2018)
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