MATTHIAS CHRISTEN

EL ACORDEÓN DEL DIABLO (STEFAN SCHWIETERT)

SELECTION CINEMA

In seinem jüngsten Film erzählt Stefan Schwietert nach A Tickle in the Heart (1996) noch einmal ein Stück lebendiger Weltmusik­geschichte. Seine Recherchen führen ihn dies­mal an die kolumbianische Karibikküste, in die Heimat des Vallenato, jener Armcleutemusik, die in den letzten Jahren zunehmend auch in Europa ihr Publikum gefunden hat. In einer Siedlung von Landlosen trifft er dort auf Francisco «Pacho» Rada, den «Vater des Son». Der neunzigjährige Akkordeonspieler zählt zu den Vorbildern für den Sänger Francisco El I Iombre in Gabriel Garcia Marquez’ Roman Hundert Jahre Einsamkeit und soll es auf sei­nem Instrument angeblich selbst mit dem Teufel aufnehmen können - so will es die Sage.

Schwietert nutzt die Begegnung mit Rada, um eine ganze Reihe weiterer Musiker auf­spielen zu lassen. Ihre Einlagen entfalten zwar einen grossen musikalischen Reichtum und sind fotografisch schön in Szene gesetzt. Mit­unter geht dabei aber der rote Faden verloren, den Radas Lebensgeschichte abgibt. Zudem spricht Rada selbst nur selten vor der Kamera. Stattdessen berichtet ein deutschsprachiger Ich-Erzähler aus dem Off von dem wechsel­vollen Schicksal des alternden Musikers, der in einer behelfsmässigen Hütte lebt, während es jüngere Kollegen mit seinen populären Songs zu einigem Wohlstand gebracht haben. Der von Schwietert selbst verfasste Voice-over-Text be­ruht auf Gesprächen, die der Regisseur mit sei­nem Protagonisten geführt hat, und auf auto­biografischen Erzählungen, die Radas Tochter über die Jahre gesammelt und schriftlich fest­gehalten hat.

Schwietert zielt mit seinem Off-Text auf einen Effekt, wie er ihn bei den Geschichten der volkstümlichen Erzähler Kolumbiens be­obachtet: Wirklichkeit und Fantasie sollen nahtlos ineinander übergehen. Tatsächlich ist Rada mit seinen 422 Enkeln, Ur- und Urur­enkeln im Film eher ein Mythos als eine reale Figur. Dabei erzählt er in den wenigen Einstel­lungen, in denen er zu Wort kommt, von Lebensumständen, die geprägt sind von roher Gewalt, Vertreibung, Tod und bitterer Armut. Schwietert verfolgt die von seinem Protago­nisten ausgelegten Spuren nicht konsequent weiter. So erfahren wir nur wenig über das schwierige Verhältnis zwischen Volksmusik und Drogenhandel oder darüber, wie die oft mittellosen Musiker zu ihren Instrumenten aus deutscher Produktion kommen, die für sie selbst als Schmuggelware noch sündhaft teuer sein müssen. Er habe, erklärt Schwietert dazu in einem Zeitungsinterview, einen Musikfilm und keine Reportage drehen wollen. Dennoch hätten ein bisschen mehr Hintergrundinfor­mationen gut getan. So ausgelassen und be­schwingt ist die Musik von Rada und seinen Freunden ja bloss, weil sie sie für ein paar Stun­den vergessen lässt, dass die Verhältnisse, in denen sie leben, keineswegs so fantastisch sind, sondern ganz und gar real.

Matthias Christen
geb. 1966, Promotion mit einer Arbeit zum Form- und Bedeutungswandel des Lebensreise-Topos in Text- und Bildmedien (to the end of the line, München 1999). Publizistische Tätigkeit zu Fotografie und Film. Lebt als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds in Berlin; arbeitet an einem Buch zur Geschichte und den Funktionen des Zirkusfilms.
(Stand: 2018)
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