THOMAS SCHÄRER

DIE SCHWALBEN DES GOLDRAUSCHES (HANS-ULRICH SCHLUMPF)

SELECTION CINEMA

Klondike, dieser Flussname klingt noch immer, obwohl seit den sagenhaften Goldfunden im Yukon-Gebiet zwischen Kanada und Alaska mittlerweile über hundert Jahre vergangen sind. Hans-Ulrich Schlumpf spürt dem grossen Fieber nach: alte Aufnahmen von Neu­ankömmlingen, Bilder aus Chaplins Goldrush und verfallene Holzschächte um die Geister­stadt Dawson lassen Schweiss und Hoffnung von Hunderttausenden Desperados aus der ganzen Welt erahnen.

Auf den zweiten Blick ist Dawson gar nicht so verlassen: Junge Damen führen in Kleinbussen Touristen herum und schwärmen vom Zusammenhalt der kleinen Gemeinde in harten Wintern. Im Umland frönen Busladun­gen von Senioren der Nostalgie und versuchen Gold in auf alt getrimmten Normtrögen zu waschen. In der Fassade des verrammelten Masonic Temple, der alten Stadtbibliothek, nis­ten unzählige Schwalben, die das Gebäude im Laufe der Jahrzehnte mit ihrem eigenen organi­schen Stuck umgestaltet haben. Diesen magi­schen Ort wählt Schlumpf als Basis für eine Enquete in Geschichte und Gegenwart der Goldsuche. Mit den Schwalben steigt seine Kamera auf und fängt entrückt schöne Bilder einer geschundenen und mitunter abstrakt wirkenden Landschaft ein: Regelmässige rund­liche Kieswälle sind die Hinterlassenschaft rie­siger Goldwaschmaschinen, die sich seit den Zehnerjahren durch die Täler frassen und die fiebernden Handwäscher verdrängten. Bereits um 1900 wurden fast alle «claims» von Gross­unternehmern übernommen.

Wie gewaltige Würmer verschlangen die Bagger das Erdreich und filterten das wenige Brauchbare heraus, um den Rest auszuwerfen. Heute sind deren Überreste beliebte Touristen­attraktionen. Ein Schweizer, der auf einem solchen Ungetüm arbeitete, lässt seinen ohren­betäubenden Arbeitsalltag aufleben. In den

Sechzigerjahren schmälerten die sinkenden Weltmarktpreise die Erträge, die industrielle Goldsuche wurde eingestellt. Seither graben einige Unentwegte auf eigene Rechnung mit modernsten Mitteln weiter. Von Goldfieber ist nichts zu spüren. Pragmatisch und effizient funktioniert das Tagwerk in diesen abgelege­nen, meist von Familien geführten Betrieben. Schlumpf verfolgt Schritt für Schritt die un­spektakuläre und harte Arbeit. Mit einer strin­genten Beiläufigkeit und gestalterischer Fan­tasie beleuchtet er die verschiedenen Facetten der Goldsuche. Graben, schlagen, sortieren, auswaschen: Die Arbeit im Erdreich hat es Schlumpf angetan, wie seine kontemplative Dokumentation Guber – Arbeit im Stein (1979) schon vor Jahren zeigte. Ohne vorgefasste Sichtweise akribisch zu beobachten und gleich­zeitig eine sehr persönliche Handschrift zu pflegen: Das gelingt ihm auch in Die Schwal­ben des Goldrausches. Seine kurzweilige und anregende Kulturgeschichte des Goldsuchens oszilliert zwischen Vergangenem und Gegen­wärtigem, zwischen sch weissgetränkter Erdenschwere und traumhaftem Schweben, zwischen Mythos und Realität und vereint Information und Poesie.

Thomas Schärer
geb. 1968, studierte Geschichte und Film-/Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, seit 1991 freie (film)journalistische Arbeiten, ab 1992 Programmgestaltung an der Filmstelle der Zürcher Hochschulen.
(Stand: 2019)
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