«Feinde ... Ich bin von Feinden umgeben ...» Die achtzigjährige Klawdia Mamykina sitzt in ihrem geblümten Morgenmantel am Frühstückstisch, schluchzt in die Kamera, verwirft die Hände. Nur um sich wenig später die Augen zu reiben und zu erklären: «An dieser Stelle klopft jemand, ich sitze allein auf einem Thron und habe meinen Text vergessen. So endete meine Karriere in der Blüte meiner Jahre. Mein Gedächtnis hat mich im Stich gelassen ...»
Die ehemalige Theaterschauspielerin lebt im Altersheim «Savina», das seit rund einem Jahrhundert seine Türen für Vertreterinnen der darstellenden Kunst offen hält: Tänzer, Sängerinnen, Regisseure und Schauspielerinnen können hier ihren Lebensabend verbringen. Das in neoklassizistischem Stil erbaute Herrschaftshaus bietet rund hundert Insassen ein Zuhause, das ihnen weit gehende Autonomie belässt. In einem grossen Park auf einer Flussinsel nahe Sankt Petersburg gelegen, erzählt das Haus - wie seine Bewohnerinnen - mit zurückhaltender Vornehmheit von anderen Zeiten.
Die Russlandkennerin Thérèse Obrecht und der Dokumentarfilmer Luc Peter porträtieren in A Vest des rêves fünf der Heimbewohner und lassen sie schwelgen in ihren Erinnerungen. Alte Fotos werden herausgesucht, auf denen die einstige Schönheit wie ein ferner Schatz bestaunt wird. «Ein gut ausschender Junge war ich damals, nicht wahr?», meint der Schauspieler Wassili Leonow, für den die Karriere hauptsächlich Soldatenrollen vorbehielt. Und Ekatarina Sudakowa, die auf dem Vorplatz ihren kleinen Teppich ausschüttelt, weist auf die «doch viel hübscheren Damen da drüben» und rezitiert dazu - frühmorgens und noch ohne Gebiss - eine passende Stelle aus dem Faust. Ein bürgerliches Leben wäre für sie nie in Frage gekommen, sagt sic, die als Kritikerin der staatlichen Kollektivierung sechzehn Jahre in Lagern verbracht hat. Eben diese Erfahrung habe sie zur Dichterin gemacht, ist Sudakowa überzeugt. Eine ganz andere Erinnerung an das kommunistische Regime hat Margarita Grischkewitsch, Startänzerin des Leningrader Staatsballetts, die Nurejews Flucht in den Westen bitter als Verrat empfindet. Und Nina Tschumskaya, die auf eine erfolgreiche Karriere als Opernsängerin zurückblicken kann, glaubt, dass die Perestroika lediglich die «Diebe» reicher, die Künstler und Intellektuellen aber ihres Brots beraubt habe.
So gewährt der Regisseur nicht nur Einblick in die Lebensläufe der illustrer! Heimbewohner, er zeigt auch deren Verquickung mit einem Jahrhundert sowjetischer Geschichte. Als Erzählstruktur dient ihm der Alltag im Haus «Savina»: die Mahlzeitenverteilung mit dem anachronistischen Handkarren beispielsweise oder die obligaten Verrichtungen der Pensionäre wie Gemüsegarten pflegen, Wäsche aufhängen oder in den verregneten Tag hinausschauen. Immer wieder lässt Luc Peter die ruhmvolle Vergangenheit die eintönige Gegenwart durchdringen: etwa wenn aus dem Stegreif eine Rolle deklamiert oder Literatur zitiert wird, wenn sich über die Bilder der Gegenwart die - noch immer - eindrückliche Stimme von Nina Tschumskaya legt, die ein Konzert im «Savina» vorbereitet. A Vest des rêves ist der erste lange Dokumentarfilm von Luc Peter und eine in ihrer Schlichtheit berührende Chronik.