Ende des letzten Jahrhunderts lebte im Engadin ein blinder Musikant namens Fränzli Josef Waser. Er war jenischer Abstammung, was seinen musikalischen Stil prägte. Seine Eltern hatten sich im Engadin niedergelassen. Eine Legende besagt, dass Fränzli, mit einem genialen Musikgehör gesegnet, zur Zeit des aufkommenden Tourismus von einer Baronin entdeckt und nach Mailand eingeladen worden war, um dort sein bereits wundervolles Geigenspiel zur Vollendung zu bringen. Doch packte ihn so stark das Heimweh («increschantüm»), dass er bereits zwei Wochen später in seinem Stammlokal wieder die musikalische Leitung übernahm.
Die Gruppe Ils Fränzlis da Tschlin hat sich als thematische Basis Fränzli J. Waser und seine Musik, durch Generationen überliefert und später schriftlich festgehalten, für ihre eigene musikalische Ausrichtung genommen. Sie will die Tradition der Engadiner Volksmusik aufrechterhalten, die hörbar durch die Musik der Fahrenden, die das Engadin bereisten, aber auch durch die musikalischen Weisen der (vom Heimweh gepackten) Exil-Engadiner beeinflusst wurde. Den fünf Musikern der Band, alles Männer im mittleren Alter, ist daran gelegen, das Erbe der Volksmusik zu pflegen und zugleich aktiv mitzugestalten. Die Innovation der traditionellen Musik ist ihnen ein Anliegen: Alle komponieren sie für ihre Band, und viele ihre eigenen Stücke sind ein verwobener Klangteppich aus Moderne und Volksmusik.
All diese Informationen vermittelt Stefan Haupt in seinem solid gearbeiteten Dokumentarfilm, der weit mehr ist als ein Musikerporträt. Ohne sich auf experimentelle Formen einzulassen, folgt der Film dem Schema, durch Interviews und das Begleiten durch den Alltag der wesentlichen Personen sowie durch historisches Bildmaterial ein möglichst abgerundetes Ganzes zu schaffen. Increschantüm ist eine spannende Einführung in ein Stück wenig bekannter schweizerischer Kulturgeschichte.
Ausserdem vermittelt der Film mit schönen, stimmigen Bildern die Geschichte des Engadins von Emigration und Heimkehr. Familienfotos und vor allem alte Filmbilder, leicht verfärbt und grobkörnig, zeigen das Leben um die Jahrhundertwende. Die typischen Bilder des Engadins von heute - Pferdeschlitten, ein schneebedecktes Sankt Moritz mit seinen alteingesessenen Hotels und Schlittschuh laufenden Menschen auf den zugefrorenen Seen - wurden damals schon als besonders typisch für das Engadin festgehalten.
Das Stimmungsbild, das Stefan Haupt mit seinem Dokumentarfilm sehr eindrücklich erfasst und über ihn hinausweist, ist das sehnsüchtige, mit dem Engadin verbundene Gefühl nach Geborgenheit. Diese Stimmung kann jede und jeden im Engadin befallen und ein Leben lang nicht mehr loslassen; Increschantüm deutet sie, wie der Name schon sagt, als Heimweh.