MATTHIAS CHRISTEN

LA CITÉ ANIMALE (FRÉDÉRIC GONSETH, CATHERINE AZAD)

SELECTION CINEMA

Jaipur ist eine Zweimillionenstadt im Nord­westen Indiens, in der Menschen und Tiere in einer für die westliche Welt kaum vorstellbaren Symbiose miteinander leben. Auf ihren Erkun­dungsgängen durch die Stadt folgen Gonseth und Azad scheinbar zufällig den frei herum­laufenden Tieren und lassen sich von ihnen bei ihrer Recherche leiten. Nach und nach kom­men sie auf diese Weise mit den Besitzern ins Gespräch, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kühe, Ziegen und Schweine sich im Strassen­abfall ihre Nahrung suchen, oder mit Veteri­nären, die als gläubige Hindus herrenlose und kranke Tiere unentgeltlich pflegen.

Aus den Interviews und den Bildern von Jaipurs Märkten, Tempeln und Strassen setzt sich Stück für Stück ein facettenreiches Ge­samtbild zusammen. Gonseth und Azad achten sorgsam darauf, dass sich dieses nie idyllischer präsentiert, als es tatsächlich ist: Zu dem Brahmanen, der mit der Wendung «without animals lost paradise» eine Art Motto zum Film liefert, bildet ein Arzt den Gegenpol, der die frei lebenden Affen am liebsten in medizinischen Forschungslabors und die restliche Tierwelt vor den Toren der Stadt sähe, wo sie den Verkehr nicht stören. Neben den frommen Hindus, die den Tieren Opfer bringen, um sie im Hinblick auf das eigene künftige Schicksal günstig zu stimmen, zeigen Gonseth und Azad immer wieder solche, die bewusst und oft aus blosser Not auf die religiös motivierte Tierliebe ihrer Nachbarn spekulieren.

Noch komplexer - das machen Gonseth und Azad sehr schön deutlich - wird das Ver­hältnis zwischen Mensch und Tier durch das für Europäer kaum zu durchschauende Kasten­system, dem beide gleichermassen unterstehen. Während die einfachen Fuhrleute am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie ihre ebenfalls gering geschätzten Esel lieber heute als morgen gegen einen noch dazu profitable­ren Lastwagen eintauschen würden, halten die besser gestellten Besitzer von Elefanten, die re­ligiös hohes Ansehen geniessen, stolz an ihren Tieren fest, obwohl ihr Unterhalt sie ein Ver­mögen kostet. Durch das Geschick, mit dem Gonseth und Azad ihre Interviewpartner aus­suchen und die Gespräche führen, wird aus dem «Tierfilm» La cité animale wie von selbst ein vielschichtiges Porträt einer menschlichen Gesellschaft, die am Übergang steht von star­ren religiösen Strukturen zu grösserer sozialer Flexibilität, von einer traditionell-agrarischen zur einer modernen, technischen Kultur - mit allen Chancen und Gefahren, die ein solcher Wechsel mit sich bringt.

Matthias Christen
geb. 1966, Promotion mit einer Arbeit zum Form- und Bedeutungswandel des Lebensreise-Topos in Text- und Bildmedien (to the end of the line, München 1999). Publizistische Tätigkeit zu Fotografie und Film. Lebt als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds in Berlin; arbeitet an einem Buch zur Geschichte und den Funktionen des Zirkusfilms.
(Stand: 2018)
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