Jaipur ist eine Zweimillionenstadt im Nordwesten Indiens, in der Menschen und Tiere in einer für die westliche Welt kaum vorstellbaren Symbiose miteinander leben. Auf ihren Erkundungsgängen durch die Stadt folgen Gonseth und Azad scheinbar zufällig den frei herumlaufenden Tieren und lassen sich von ihnen bei ihrer Recherche leiten. Nach und nach kommen sie auf diese Weise mit den Besitzern ins Gespräch, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kühe, Ziegen und Schweine sich im Strassenabfall ihre Nahrung suchen, oder mit Veterinären, die als gläubige Hindus herrenlose und kranke Tiere unentgeltlich pflegen.
Aus den Interviews und den Bildern von Jaipurs Märkten, Tempeln und Strassen setzt sich Stück für Stück ein facettenreiches Gesamtbild zusammen. Gonseth und Azad achten sorgsam darauf, dass sich dieses nie idyllischer präsentiert, als es tatsächlich ist: Zu dem Brahmanen, der mit der Wendung «without animals lost paradise» eine Art Motto zum Film liefert, bildet ein Arzt den Gegenpol, der die frei lebenden Affen am liebsten in medizinischen Forschungslabors und die restliche Tierwelt vor den Toren der Stadt sähe, wo sie den Verkehr nicht stören. Neben den frommen Hindus, die den Tieren Opfer bringen, um sie im Hinblick auf das eigene künftige Schicksal günstig zu stimmen, zeigen Gonseth und Azad immer wieder solche, die bewusst und oft aus blosser Not auf die religiös motivierte Tierliebe ihrer Nachbarn spekulieren.
Noch komplexer - das machen Gonseth und Azad sehr schön deutlich - wird das Verhältnis zwischen Mensch und Tier durch das für Europäer kaum zu durchschauende Kastensystem, dem beide gleichermassen unterstehen. Während die einfachen Fuhrleute am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie ihre ebenfalls gering geschätzten Esel lieber heute als morgen gegen einen noch dazu profitableren Lastwagen eintauschen würden, halten die besser gestellten Besitzer von Elefanten, die religiös hohes Ansehen geniessen, stolz an ihren Tieren fest, obwohl ihr Unterhalt sie ein Vermögen kostet. Durch das Geschick, mit dem Gonseth und Azad ihre Interviewpartner aussuchen und die Gespräche führen, wird aus dem «Tierfilm» La cité animale wie von selbst ein vielschichtiges Porträt einer menschlichen Gesellschaft, die am Übergang steht von starren religiösen Strukturen zu grösserer sozialer Flexibilität, von einer traditionell-agrarischen zur einer modernen, technischen Kultur - mit allen Chancen und Gefahren, die ein solcher Wechsel mit sich bringt.