Denise Gilliand beobachtete in vier aufeinander folgenden Jahreszeiten die Theaterarbeit des Regisseurs Serge Sändor mit obdachlosen Menschen aus Paris. Gemeinsam proben sie das Stück Nachtasyl von Maxim Gorki, das sie schliesslich am renommierten Théâtre de Chaillot aufführen. Wie diese Menschen vor dem Projekt lebten, wie sie obdachlos geworden sind, davon erfahren wir ebenso wenig wie darüber, wie es für sie nach dem Projekt weitergehen wird. Der Film konzentriert sich auf den intensiven kreativen Prozess, der für sie alle zu einer wichtigen Lebenserfahrung wird. Es ging denn auch nicht darum, aus diesen obdachlosen Menschen Schauspielerinnen zu machen, sondern ihr Selbstvertrauen zu stärken: Sie sollen wieder zu Akteuren in ihrem Leben werden. Und es verändert sich einiges in diesem Jahr: Der eine entdeckt seine Freude am Lesen, ein anderer beginnt eine Ausbildung, und bei allen spürt man, wie sie an Selbstvertrauen gewinnen.
Von Einzelnen erfahren wir auch etwas aus dem Alltag, so zeigt ein Obdachloser das Schliessfach, in dem er sein gesamtes Hab und Gut aufbewahrt, einschliesslich des Theatermanuskripts. Trotz der prekären Lebenssituation der Laienschauspieler ist der Blick aut sie niemals von Mitleid geprägt, niemals kommt der Verdacht auf, hier werde Elend ausgcbcutet. Denise Gilliand gelingt es, die Würde von Menschen zu zeigen, die in unserer Gesellschaft oft als Sozialfälle abgestempelt werden. Das hängt damit zusammen, dass sie die Obdachlosen ohne falschen Sentimentalismus zeigt und sich auf ihre Theaterarbeit konzentriert.
Sàndor erklärt in einem Interview, das Stück von Gorki sei sehr schwierig zu spielen: Entweder müsse es von hervorragenden professionellen Schauspielerinnen oder aber dann von Laiendarstcllern aufgeführt werden, die aus ähnlichen Lebensumständen stammten. Die obdachlosen Menschen, die es nicht gewohnt seien, Gefühle auszudrücken, erhielten durch die Arbeit an Nachtasyl endlich die Möglichkeit dazu. Und sie machen dies mit beeindruckender Intensität. Die Rechnung scheint aufzugehen. Nicht nur, weil es den Obdachlosen offensichtlich gut tut, sondern auch, weil das Stück zu einem Erfolg wird.
Persönliche und kollektive Erfahrungen sind so geschickt zusammengeschnitten, dass sich ein Off-Kommentar erübrigt. Die zurückhaltend beobachtende Kamera lässt den Zuschauerinnen genug Raum, sich auf den dargestellten kreativen Prozess einzulassen. Und am Schluss freuen wir uns mit den Darstellerinnen, als ihre Aufführung mit einem Riesenapplaus quittiert wird, und stellen uns mit ihnen die bange Frage, wie es jetzt weitergehen wird.