PATRICK STRAUMANN

SOBRAS EM OBRAS (MICHEL FAVRE)

SELECTION CINEMA

Sobras em obras verfolgt die Karriere des brasi­lianischen Künstlers Geraldo de Barros, der nach einer klassischen Ausbildung als Kunst­maler erst als Fotograf arbeitete und später zu einem der wichtigsten Exponenten des latein­amerikanischen Konstruktivismus wurde. Der Film zeichnet auch den Hintergrund nach, vor dem de Barros’ Werk entstanden ist - die jün­gere Geschichte Brasiliens und die forcierte Industrialisierung des Landes -, und vermittelt de Barros’ lebenslanges Oszillieren zwischen formalen Recherchen und Möbeldesign, zwi­schen europäischem Einfluss und dem Versuch, die Bauhaus-Utopie einer tropischen Akklima­tisierung zu unterziehen.

Als Schwiegersohn des 1998 verstorbenen Künstlers formuliert Michel Favre den Off- Kommentar des Films in der ersten Person. Diese grammatikalische Nuance signalisiert nicht allein die emotionale Dimension, die diese Beziehung prägte. Indem er die formalen und konzeptuellen Charakteristiken der Arbeit des Brasilianers übernimmt, etabliert Favre einen Dialog mit dessen Werk, der sich als eigentlicher Motor seines Films erweist. Aus­gehend von de Barros’ abstrakter fotografi­scher Werkserie Fotoformas, deren geometrisch komponierte Formen collagenartig über viele Sequenzen gelegt sind, destilliert der Film seine Substanz aus einem Filter von Rastern, Mehr­fachbelichtungen und manuellen Eingriffen - getreu nach dem Credo der Modernisten, ein Negativ gehöre nicht jenem, der es belichte, sondern dem, der es weiterverarbeite.

Diese stilistischen Eingriffe kontrastieren mit den konventionell geführten Interviews mit Familienmitgliedern und Kollegen - unter anderem mit dem Maler Wesley Duke Lee und dem Dichter Augusto de Campos, die beide in der Geschichte der brasilianischen Moderne eine zentrale Rolle einnehmen. Sie bergen auch ein semantisches Risiko, zumal sie den Gegen­satz von subjektivem Handeln und objektiver Betrachtung, von künstlerischem Schaffen und Kunstbetrachtung aullösen. Dass sich der Film dennoch nicht in der Beliebigkeit einer forma­len Experimentation verliert, liegt am grund­sätzlichen Kunstverständnis, in dem sich Ge­raldo de Barros und der Filmemacher treffen. Die Stadtbilder von Sao Paulo lassen die Ästhe­tik der Metropole, wie sie von den Konstruktivisten entworfen wurde, noch heute nach­vollziehen, während die jüngsten Arbeiten des Brasilianers geradezu explizit zu Favres Ar­beitsweise einladen: «Sobras», so der Titel der letzten Werke von Geraldo de Barros, als er in Folge eines Hirnschlags physisch stark behin­dert war, bedeutet so viel wie «Resten», «Aus­schuss» und bezeichnet jene Bilder, die aus früheren Negativen entstanden sind. Eine emb­lematische Fotografie dieser Periode zeigt den Künstler im Spiegel, wie er die Kamera sowohl auf sich als auch auf die Zuschauer richtet. Sobras em obras, «Arbeit mit Ausschuss», baut nun seinerseits auf Restmaterial und Erinne­rungen, um in seinem filmischen Ausdruck zu einem Gleichgewicht zwischen Selbstdarstel­lung, Biografie und Hommage zu gelangen.

Patrick Straumann
geb. 1964, studierte Filmwissenschaft, arbeitet als freier Filmjournalist, lebt in Paris.
(Stand: 2018)
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