Sobras em obras verfolgt die Karriere des brasilianischen Künstlers Geraldo de Barros, der nach einer klassischen Ausbildung als Kunstmaler erst als Fotograf arbeitete und später zu einem der wichtigsten Exponenten des lateinamerikanischen Konstruktivismus wurde. Der Film zeichnet auch den Hintergrund nach, vor dem de Barros’ Werk entstanden ist - die jüngere Geschichte Brasiliens und die forcierte Industrialisierung des Landes -, und vermittelt de Barros’ lebenslanges Oszillieren zwischen formalen Recherchen und Möbeldesign, zwischen europäischem Einfluss und dem Versuch, die Bauhaus-Utopie einer tropischen Akklimatisierung zu unterziehen.
Als Schwiegersohn des 1998 verstorbenen Künstlers formuliert Michel Favre den Off- Kommentar des Films in der ersten Person. Diese grammatikalische Nuance signalisiert nicht allein die emotionale Dimension, die diese Beziehung prägte. Indem er die formalen und konzeptuellen Charakteristiken der Arbeit des Brasilianers übernimmt, etabliert Favre einen Dialog mit dessen Werk, der sich als eigentlicher Motor seines Films erweist. Ausgehend von de Barros’ abstrakter fotografischer Werkserie Fotoformas, deren geometrisch komponierte Formen collagenartig über viele Sequenzen gelegt sind, destilliert der Film seine Substanz aus einem Filter von Rastern, Mehrfachbelichtungen und manuellen Eingriffen - getreu nach dem Credo der Modernisten, ein Negativ gehöre nicht jenem, der es belichte, sondern dem, der es weiterverarbeite.
Diese stilistischen Eingriffe kontrastieren mit den konventionell geführten Interviews mit Familienmitgliedern und Kollegen - unter anderem mit dem Maler Wesley Duke Lee und dem Dichter Augusto de Campos, die beide in der Geschichte der brasilianischen Moderne eine zentrale Rolle einnehmen. Sie bergen auch ein semantisches Risiko, zumal sie den Gegensatz von subjektivem Handeln und objektiver Betrachtung, von künstlerischem Schaffen und Kunstbetrachtung aullösen. Dass sich der Film dennoch nicht in der Beliebigkeit einer formalen Experimentation verliert, liegt am grundsätzlichen Kunstverständnis, in dem sich Geraldo de Barros und der Filmemacher treffen. Die Stadtbilder von Sao Paulo lassen die Ästhetik der Metropole, wie sie von den Konstruktivisten entworfen wurde, noch heute nachvollziehen, während die jüngsten Arbeiten des Brasilianers geradezu explizit zu Favres Arbeitsweise einladen: «Sobras», so der Titel der letzten Werke von Geraldo de Barros, als er in Folge eines Hirnschlags physisch stark behindert war, bedeutet so viel wie «Resten», «Ausschuss» und bezeichnet jene Bilder, die aus früheren Negativen entstanden sind. Eine emblematische Fotografie dieser Periode zeigt den Künstler im Spiegel, wie er die Kamera sowohl auf sich als auch auf die Zuschauer richtet. Sobras em obras, «Arbeit mit Ausschuss», baut nun seinerseits auf Restmaterial und Erinnerungen, um in seinem filmischen Ausdruck zu einem Gleichgewicht zwischen Selbstdarstellung, Biografie und Hommage zu gelangen.