ANDREA REITER

JOUR DE NUIT (DIETER FAHRER, BERNHARD NICK)

SELECTION CINEMA

Eine Geschichte wird in diesem Film nicht er­zählt. Vielmehr handelt es sich bei Jour de nuit um ein filmisches Essay, dessen Ausgangspunkt die Auseinandersetzung mit Eicht ist: Seine Fähigkeiten, die Intensität der Farben zu stei­gern, Schatten zu erzeugen und die Dinge überhaupt erst sichtbar zu machen, werden zum eng damit verbundenen Thema der Wahr­nehmung und des Sehens an sich weitergeführt. Wunderschöne, assoziativ einander gegenübergestellte Bilder glitzernder Wasseroberflächen, des unendlichen Meers von Leuchtreklamen in der Nacht oder des Mondlaufs im Zeitraffer strukturieren den Film zusammen mit den rhythmisch wiederkehrenden Schwarzblenden und machen ihn zu einer poetischen Reflexion über das Wesen des Lichts.

Ein wichtiger Bestandteil von Jour de nuit ist der selbstreflexive Umgang mit dem eigenen Medium, mit den Komponenten Licht, Kadrage, Perspektive und Schnitt. Der essayistische Charakter des Films entsteht so unter anderem durch ungewöhnliche Kamerablicke wie eben­erdig gemachte Aufnahmen, die das Blickfeld einschränken und das Interesse am Verborge­nen wecken, durch komponierte Bilder, in denen ein direkter Bezug zwischen Bildinhalt und -rand konzipiert ist, durch Überbelich­tung, die manchen Bildern einen verschwom­menen Glanz gibt und durch unerwartete, er­staunliche Montagen.

Als Kontrast dazu konzentriert sich der Film auf verschiedene Personen und deren be­sonderen Bezug zum Licht, indem er Szenen und Momente aus deren Leben und Arbeit prä­sentiert. Zum einen wird der in den Schweizer Bergen lebende Maler Peter Bergmann wäh­rend eines Jahres begleitet. Für ihn als Künstler hat Licht einen zentralen Stellenwert. Zum anderen werden Monic Meziane und Bruno Netter, zwei blinde, in Paris lebende Schau­spieler gezeigt. Diese im Erwachsenenalter Er­blindeten mussten sich eine neue Quelle des Lichts und ein anderes Wahrnehmen aneignen. Sic berichten über ihre Erfahrungen und wie es ihnen gelang, sich in ihrem Alltag zurecht­zufinden. Als weiteres Element sind Bilder aus dem Lichttheater des italienischen Teatro Gioco Vita in den Film integriert und – in Variationen - eine Hommage an die Stadt Paris und an die Schönheit der Berge.

Auch wenn durch die Vielzahl der Impres­sionen manchmal die Linie des Films verloren zu gehen scheint und die Bezüge von Blindheit und Licht als Metapher der Erkenntnis und des inneren Sehens etwas pathetisch wirken mögen, brechen Inhalt und Form jedoch nie auseinan­der, da gerade durch die kontrastreichen Ge­genüberstellungen eine eigene, künstlerische Struktur eingehalten wird. So regt Jour de nuit durch seine Reichhaltigkeit an verschiedenen Bildbezügen, Blickweisen und Ideen, die alle auf die Thematik von Licht, Sehen und Wahrnehmen verweisen, den Zuschauer dazu an, sich wieder einmal explizit mit diesen auseinan­der zu setzen.

Andrea Reiter
geb. 1973, Studium der Germanistik, Filmwissenschaft und Philosophie.
(Stand: 2018)
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