So genannte Adoleszenzdramen handeln vom Abschied und Noch-nicht-Ankommen, vom Herauswachsen aus dem kindlichen Bewusstsein (und Sein) und vom langsamen Erwachen. Die Zürcher Regisseurin Marie-Louise Bless erzählt in ihrem Spielfilmerstling eine solche Geschichte. Vom I Ieute entfernt, aber nicht in eine rein künstliche Vergangenheitswelt entrückt, spielt Der Onkel vom Meer in den Sechzigerjahren in einem Zürcher Arbeiterquartier. Der Film blickt zurück, indem er ein stadtarchitektonisch beinahe neutrales, zeitloses Bild bietet, dagegen in Licht, Farben und in den Kostümen jene Zeit heraufbeschwört.
Die elfjährige Lisa (Ana Xandry) lebt mit ihrer allein erziehenden Mutter (Agnes Dünneisen) - einer Kellnerin -, ihrem kleinen Bruder Willy (Robin Dreja) und der deutschen, etwas seltsamen Grossmutter (Giselle Vesco) in einer Altbauwohnung. Im Hof draussen steht das Indianerzelt, Spielort für die Kinder. Lisas Mutter will wieder heiraten, was bei Lisa zu ablehnenden Gefühlen führt. Die Heirat würde es auch mit sich bringen, dass die Oma ins Heim müsste - prompt protestiert die Alte mit einem Kartonschild mit der Aufschrift «Meine Tochter will mich ins Lager schicken’». Für die Indianerspiele scheint Lisa allmählich zu alt. Dafür stellt sich zum jungen Italiener Antonio (Michele Cuciuffo), dem freundlichen Nachfolger in Bärtschis Schuhmacherei, eine noch nie gekannte Verbundenheit ein. Wer die Hände ganz fest an die Ohren presst, kann Lawinen hören. Oder Meeresrauschen. Das Meer ist denn auch für Lisa ein Fluchtpunkt, ein Sehnsuchtsort. Dort will sie hin, angesichts der familiären Entwicklungen erst recht. Mit dem Zug (das entsprechende Bild ist als Vorblende schon ganz früh im Film zu sehen) soll es ans Meer gehen, fort von hier. Genua ist am nächsten, findet Lisa heraus. Bevor die Fahrt tatsächlich unternommen wird, kommt der geliebte, beinahe vergötterte Onkel Franz (Jarg Pataki) zu Besuch. Von seinen Seefahrten hat er Geschenke mitgebracht: ein Seidenkleid; für Willy einen Chinahut und eine Single mit der «Internationalen» drauf. In einer etwas unvermittelt dramatischen Szene wandelt sich der gute Onkel zum bösen: Franz wird zudringlich, Lisa wehrt sich mit dem Messer. Ein weiterer trauriger Grund, die ungewisse Flucht ans Meer anzutreten.