CONSTANTIN WULFF

GRENZGÄNGE, BLICKWECHSEL — EIN AUTOBIOGRAFISCHER STREIFZUG DURCH DEN SCHWEIZER FILM DER ACHTZIGER- UND NEUNZIGERJAHRE

ESSAY

Um einen «Blick von aussen» hat man mich gebeten. Als einer, der nicht in der Schweiz lebt, der manches anders sieht als gewohnt. Der zwar mit dem Schwei­zer Film der letzten beiden Jahrzehnte vertraut ist, aber aus der Distanz, weni­ger voreingenommen, eine andere Perspektive entwickeln möge.

Ein idealer «Fremder»: Dahinter steckt vielleicht die Idee, dem Schweizer Film könne mit einem weniger engen Blick begegnet werden. Mit einer ande­ren Sicht, entwickelt an einem anderen Ort.

Eine Idee, die nicht nur einige grundsätzliche Fragen aufwirft (wie definiert sich so ein «Blick von aussen»?), sondern mir auch aus biografischen Gründen einige Probleme bereitet. Deshalb nütze ich die Möglichkeit, mehr als fünf­zehn Jahre Schweizer Filmgeschichte, die ich als Zeitzeuge in der einen oder anderen Form miterlebt habe, Revue passieren zu lassen. Aus diesem Grund erwarte man im Folgenden keine Analyse des Schweizer Filmschaffens seit 1984. Ich versuche, einige Erinnerungen zu ordnen und einige Erfahrungen mit dem Schweizer Kino zu rekonstruieren. Was mich interessiert, ist die Beschrei­bung eines langsamen Blickwechsels. Einer Wahrnehmungsveränderung, die, so glaube ich, auch mit der Veränderung des Schweizer Films in den Achtziger- und Neunzigerjahren selbst korrespondiert.

Meine ersten Kinoerfahrungen habe ich in Bern gemacht. Ich bin dort auf­gewachsen. Den Schweizer Film habe ich, wie viele andere meiner Generation, zuerst im Fernsehen entdeckt und im Kino als Sonntagsmatinee. Und während der Schulzeit als beliebte Ergänzung zum Deutschunterricht. Schliesslich im regulären Kinobetrieb. Sowohl Ueli der Knecht (1954) und Dällebach Kan (1970) als auch Les petites fugues (1979) und Die Schweizermacher (1978) (sowie als Berner Sonderfall Kleine frieren auch im Sommer [1978]) gehören zum festen Bestandteil meiner Kindheits- und Jugenderinnerungen. Später, als das Interesse für Film zu meinen ersten journalistischen Gehversuchen führte, habe ich begonnen, Filmkritiken zu schreiben, für die Berner Zeitung und den Bund: Schwerpunkt Schweizer Film. Das erste Zeitungsinterview habe ich mit Clemens Klopfenstein geführt, und das Thema meiner ersten Reportage waren die Solothurner Filmtage.

Seit 1985 bin ich, wie man so sagt, ein Auslandschweizer. Ich lebe in Wien und bekomme regelmässig von der Botschaft die Schweizer Revue zugesandt, die Zeitschrift für Auslandschweizer, die mich an Abstimmungstermine erinnert und auf die Aktivitäten der Schweizervereine im Ausland hinweist. Unter der Anrede «Liebe Landsleute in Österreich» werde ich auf Delegiertentagungen aufmerksam gemacht oder auf Haydn-Konzerte, die auf Schloss Eszterhäzy im Burgenland stattfinden und von Abendveranstaltungen in Heurigenkellern be­gleitet werden.

In den ersten Jahren in Wien habe ich weiterhin für die Berner Zeitung und den Bund geschrieben, über Filme, vor allem über Schweizer Filme. Ich begann auch für Wiener Zeitungen zu schreiben. So kam es, dass ich über die Öster­reichischen Filmtage in Wels als Schweizer Journalist berichtete und an den Solothurner Filmtagen als österreichischer Journalist akkreditiert war (mit dem Vorteil, dass mir als ausländischem Gast von beiden Festivals viel Aufmerksam­keit beschieden war, inklusive bezahltes Hotelzimmer).

Spätestens Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre verlor sich mein Interesse für den Schweizer Film etwas. Ich besuchte die Solothurner Filmtage nicht mehr regelmässig. Ich hatte inzwischen eine andere Filmkultur, andere Filmländer und andere Filmfestivals entdeckt, die mir wichtiger waren. Ausserdem wurde es immer schwieriger, Aussenstehende (den Redakteur, die Freunde) von der Bedeutung des Schweizer Films zu überzeugen. Denn aus Solothurn zurückkehrend, gab es zwar stets viel zu berichten, aber immer weni­ger herzuzeigen. Ich entdeckte immer wieder Filme, die ich mochte - die frühen Kurzfilme von Peter Liechti, die Videos von Pipilotti Rist, die Filme von Peter Mettler -, aber das reichte schon längst nicht mehr aus, um überzeugend ein «Filmland» als «Thema» zu vertreten.

1994 kam ich schliesslich mit einem eigenen Film nach Solothurn. Der Essay Spaziergang nach Syrakus, gemeinsam mit Lutz Leonhardt realisiert, zeigte eine Reise durch Italien: Nicht zufällig begann der Film an der schweizerisch­italienischen Grenze mit einem Abschied: ein paar Minuten in der Schweiz im Schnee - und dann fort in den Süden!

Erst seit Mitte der Neunziger habe ich den Schweizer Dokumentartilm intensiv wiederentdeckt - von Deutschland aus. Als Mitglied der Auswahl­kommission der Duisburger Filmwoche, zuständig für die österreichische Filmauswahl. Von Schweizer Filmschaffenden wurde ich deshalb immer öfter als «Wiener Journalist» oder als «Kollege aus Wien» wahrgenommen.

Seit 1997 leite ich zudem, zusammen mit Christine Dollhofer, die Diago­nale in Graz, das «Solothurn Österreichs». Zwischen dem «Festival des öster­reichischen Films» in Graz und den Solothurner Filmtagen gibt es einen regen Austausch: Abwechselnd haben wir die jeweiligen Filmpreisgewinner des Landes an den Festivals präsentiert, vor zwei Jahren Florian Flickers Suzie Washington (A 1998) in Solothurn und wenig später Marcel Gislers F. est un salaud (1998) in Graz.

Mein Blick auf den Schweizer Film war also seit Mitte der Achtzigerjahre der eines Grenzgängers. Eines Grenzgängers übrigens, der sich immer wieder über das Desinteresse der beiden Nachbarländer aneinander wunderte und über die Klischees, die dies- und jenseits der Grenzen voneinander im Umlauf waren. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie sah es Mitte der Achtziger aus mit dem Schweizer Film? Wenn man den Presseartikeln dieser Zeit Glauben schenkt, dann herrschte Krisenstimmung. Es ging, natürlich, ums Geld, um die geringen Fördermittel des Bundes. Und um die lauter werdenden Forderungen nach einem Publikumskino und die Ver­teidigung des Autorenfilms. Es gab Konflikte zwischen den Filmergeneratio­nen. Und man wandte sich gegen die Übermacht aus Hollywood.

Das sah ich damals alles ganz anders. Für mich bedeutete das Schweizer Kino Aufbruch - denn ich hatte es gerade entdeckt. Meine Leitfilme hiessen E Nacht lang Füürland (1981), Züri brännt (1980) und Reisender Krieger (1981) (die ein paar Jahre vorher entstanden waren). Ich hatte diese Filme jeweils unter quasikonspirativen Bedingungen gesehen: als vertrauliche Vorführung unter Gleichgesinnten im Berner Gymnasium oder zumindest spät abends im Fern­sehen. Die Bedingungen, unter denen ich E Nacht lang Füürland und Züri brännt sah, verstärkten das rebellische Potenzial, das ich in den Filmen sah, ungemein: Zu einer Zeit, da Begriffe wie «Eiszeit» und «Bewegung» jedem noch geläufig waren, wurden das Aufbegehren und die radikale Kritik am politischen System nicht nur filmisch formuliert, sondern waren für mich gegenwärtig. Ich sah die Filme nicht, wie andere, bereits als Dokumente einer vergangenen Zeit: Sie verbanden sich mit meinem Alltag und wurden Teil davon.

Später im regulären Kinoprogramm waren es Bernhard Gigers Der Ge­meindepräsident (1983) und auch Alain Tanners No Man’s Fand (1984), die ich wie Schmuggelware las: Ihr Thema war das Fremdsein im eigenen Land. Sic erzählten von den Möglichkeiten der Veränderung und vom Scheitern, wenn es darum ging, es vor Ort umzusetzen. Und sie erzählten ihre Geschichten in einer Art und Weise, die ich, ohne darüber nachzudenken, als etwas Eigenes, Vertrautes wahrnahm.

Zu jener Zeit war für mich der Schweizer Film völlig ausreichend für das, was ich vom Kino erwartete. Natürlich sah ich alles andere, was es damals in den Studiokinos zu sehen gab, und ich verehrte Jim Jarmuschs Permanent Vaca­tion (USA 1980) und Stranger than Paradise (USA 1984) und Lars von Triers Element of Crime (Dänemark und GB 1984), und ich fand, dass Tarkowskis Nostalghia (I 1983), Wim Wenders’ Paris, Texas (BRD und F 1984) und Godards Prénom Carmen (CH und F 1983) aussergewöhnliche Filme waren. Aber sie bedeuteten mir vergleichsweise wenig.

Und dann kam noch Höhenfeuer (1985)! Ich sah den Film anlässlich seiner Uraufführung in Locarno. Und fieberte mit: Schliesslich wurde nicht nur die Premiere, sondern das gesamte Festival zum Triumph für Murer. Mit dem Hauptpreis wurde Höhenfeuer zur endgültigen Bestätigung meiner Vorstellun­gen: Hier erhob sich ein Schweizer Film in den Rang des international relevan­ten Kinos - Höhenfeuer erschien wie die logische Folge jenes Diskurses, der sich vehement für die Obsessionen und Freiheiten des Autorenfilms einsetzte und sich gegen die Rezepturen der Bürokratie wandte. Ich war damals über­zeugt, dass Höhenfeuer ein Meisterwerk war, dem noch viele andere folgen würden.

Meinen Rücken stärkten zudem, ohne sie damals zu kennen, die Schweizer Filme der Siebzigerjahre. Besser gesagt: ihr Mythos der «glücklichen Jahre». Und damit verbunden zwei wesentliche «Ereignisse», die ich aus eigener An­schauung kannte: die Solothurner Filmtage und die Filmzeitschrift Cinema.

Die Solothurner Filmtage waren wohl nicht nur für mich von Anfang an kein normales Filmfestival: Sie waren, wie es Urs Reinhart genannt hat, ein «fil­misches Rütli-Geschehen». Ich weiss nicht, wie es heute den Zwanzigjährigen geht, die nach Solothurn kommen, aber damals besassen die Filmtage Initia­tionscharakter. Sie infizierten mit einem Gemeinschaftsgefühl, dem man sich anvertraute und das man sogar in den Filmen selbst abgebildet zu sehen glaubte. Es herrschte die Gewissheit, dass Schweizer Filme, in irgendeiner Weise, be­deutsam waren. Dass sie etwas Besonderes besassen. Und wenn man sich die Filme ansah und später im Restaurant «Kreuz» darüber, nein: nicht debattierte, sondern sie begutachtete, dann sass man bereits in der Solothurner-Filmtage- Falle. Zudem überlagerten sich die Diskussionen mit anderen Ereignissen, die jene Diskussionen in den realen politischen Raum verlängerten: Ich erinnere mich, dass ich im «Kreuz» die frühen Versammlungen der GSoA, der Gruppe Schweiz ohne Armee, miterlebt habe.

Das zweite «Ereignis», die Zeitschrift Cinema, die von 1974 bis 1982 vier­teljährlich und zweisprachig erschien, war mein argumentatives Rückgrat. Mit Akribie sammelte ich, rückwirkend, alle Nummern - was gar nicht so leicht war angesichts des eher lückenhaften Vertriebssystems der Zeitschrift. Die klei­nen handlichen Broschüren, stets in Schwarzweiss gehalten und im ungewöhn­lichen Taschenformat, waren meine Bibeln. Insbesondere die Texte von Martin Schaub las ich wie Bekenntnisliteratur. Schon die Titel seiner Artikel über den Schweizer Film: «Fahren und bleiben», «Das verlorene Herz», «Von Geld und Geist»!

Heute, beim Wiederlesen der Texte, fällt auf, dass die redaktionelle Linie nicht, wie in der Erinnerung festgeschrieben, einheitlich war. Die eigenen Angelegenheiten, Martin Schaubs Studie zum neuen Schweizer Film, bildeten zwar den Konsens jener Jahre, aber die ästhetisch-politischen Schlussfolgerun­gen der Redaktionsmitglieder waren höchst widersprüchlich. So waren es vor allem die kämpferischen Positionen, die ich in die Achtzigerjahre übersetzte: die Gesellschaftskritik und die ästhetischen Normen.1

Deshalb hatten auch die praktischen Vorlieben, die Cinema pflegte, Kon­sequenzen. Einige Dogmen dieser Zeit (von der «Berner Schule» mit Vehemenz vertreten) waren im Dokumentarischen Verzicht auf gesprochenen Kommen­tar, unbedingter Einsatz von Originalton, «Thematisierung» des Autors (im Bild erscheinen!); im Eiktionalen die «realistischen» Sujets möglichst vor Ort gedreht, das Primat des «Authentischen» (Dialekt!) und wiederum möglichst Originalton.

Diese simplen Normen hatten nicht zuletzt eine Betonung des Provinziel­len und eine unbedingte Gegnerschaft gegenüber dem Kunstvollen, dem Stili­sierten, dem Experimentellen, zur Folge. Und wenn in Solothurn, selten genug, unkonventionellere Filme zu sehen waren, dann begegnete ihnen der «Berner Kreis» meist mit einhelliger Ablehnung (nicht mit Auseinandersetzung): Zum Schlimmsten gehörte es, wenn ein Film als «zu formal» disqualifiziert oder, schlimmer noch, nur «l’art pour l’art» in ihm gesehen wurde.

Hoch im Kurs dagegen stand Mitte der Achtzigerjahre die filmische Ent­deckung der Heimat (die Serie von Edgar Reitz lief gerade im Fernsehen). Be­sonders in Bern war dies von einiger Bedeutung, denn sowohl Bernhard Giger, Bruno Nick, Ueli Mamin und Felix Tissy entdeckten die eigene Stadt mitsamt Umgebung als Schauplätze ihrer Filme. Und Clemens Klopfenstein, der vom Cinéma Copain schwärmte und nach Genfer Vorbild von einer eigenen Groupe 5 im Bernbiet träumte, brachte mich schliesslich so weit, dass ich ein Round- Table-Gespräch mit mehreren Filmschaffenden in der Berner Zeitung lancierte und sie vom «Filmboom» in Bern sprechen liess.

So leicht ging das.

Meine Haltung zum Schweizer Film entsprach mehr und mehr jener eines Galliers. Des Galliers als Typus. Er lebte in einem überschaubaren Territorium, mit sich und seiner Welt zufrieden, und sah sich einem übermächtigen Gegner gegenüber. Ein Gegner, der zwar (fast) die ganze Welt besetzt hielt, dem es je­doch nicht gelang, diese letzte Bastion der Aufrechten zu erobern. Der Gallier leistete unverdrossen Widerstand. Er bewahrte sich sein Bild von Unabhängig­keit, indem er ab und zu ein paar Kämpfe ausfocht und mit Hilfe eines gehei­men Zaubertranks (basierend auf einer Zauberformel) unbesiegbar blieb, ln der Beschwörung seiner Eigenart war für den Gallier alles, was das Römische aus­machte, belächelnswert.2

Im Herbst 1985 kam ich nach Wien. Dort war vieles anders. Aber als echter Gallier schritt ich bald zur Tat: Nach etwas mehr als einem Jahr organisierte ich, gemeinsam mit Christof Schertenleib, der wie ich an der Wiener Filmakademie studierte, eine Schweizer Filmschau. Der offensive Titel: «Weg mit den Alpen - freie Sicht auf Schweizer Filme!» (Nein, das war uns damals keineswegs pein­lich.) Wir zeigten an drei Tagen eine Auswahl der Solothurner Filmtage, ergänzt durch einen Rückgriff auf wichtige Filme des neuen Schweizer Films: Alain Tanners Jonas (1975), Claude Gorettas L’invitation (1972), Michel Soutters La pomme (1969) und Richard Dindos Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. (1982) Und natürlich: eine Matinee mit Frühstück von Zun brännt (1980)! Die gesamte Veranstaltung war - publikumsmässig - ein grosser Flop.

Aber das konnte mich nicht erschüttern. Im Vorwort zu dieser Filmreihe hatten Schertenleib und ich etwas holprig formuliert: «Wir möchten ein biss­chen von dieser Aura von Solothurn nach Wien hinüberretten.»

Mein Selbstverständnis als «Gallier» wurde in den ersten beiden Jahren in Wien weiter bestätigt: Das Wiener Filmmuseum zeigte im Oktober 1985 eine Retrospektive mit Filmen von Daniel Schmid. Zwei Monate später fand eben­dort die Wien-Premiere von Gossliwil (1985) von Beatrice Leuthold und Hans Stürm statt, vom umtriebigen Schweizer Kulturattache mit ähnlich patrioti­schem Stolz präsentiert, wie ich es bei der Uraufführung an den Solothurner Filmtagen erlebt hatte.

Ab April 1986 lief dann Höhenfeuer im Wiener Stadtkino, neben dem Film­museum die zweite Hochburg der Wiener Cineasten-Gemeinde, wo einige Jahre zuvor auch Les petites fugues zu sehen war. Wenig später präsentierte das Stadtkino eine vollständige Retrospektive des Werks von Predi Murer, kurz darauf eine Auswahl der Solothurner Filmtage. Auch die Filme von Clemens Klopfenstein waren zu dieser Zeit in Wien zu sehen, ebenso wie Marcel Gislers Tagediebe (1987).

Der Schweizer Film war Mitte der Achtziger nicht nur in den Wiener Kinos präsent. Zu jener Zeit besass das helvetische Kino für das österreichische Film­schaffen Vorbildcharakter. Vor allem in kulturpolitischer Hinsicht: Von Ende der Siebziger bis Mitte der Achtziger erreichte die Debatte um eine Neuord­nung der Filmförderung in Österreich ihren 1 föhepunkt. Die staatliche Förde­rung des österreichischen Films und der Aufbau einer Filmkultur waren bis dahin nahezu inexistent.

Zum Vergleich: In der Schweiz gibt es seit 1964 ein Filmgesetz, das die Filmförderung des Bundes regelt; in Österreich erst seit 1980. Die Solothurner Filmtage werden seit 1966 veranstaltet, kontinuierlich, jedes Jahr; Österrei­chische Filmtage gibt es seit 1977, an wechselnden Orten, immer wieder mit Unterbrüchen. Die österreichischen Fördermittel sind in den Achtzigerjahren vergleichsweise bescheiden; erst in den Neunzigerjahren kann man von einer vom Fernsehen unabhängigen, halbwegs funktionierenden Produktionsland­schaft sprechen.

Aber nicht nur auf Grund der Erfahrungswerte, vergleichbaren Strukturen und internationalen Erfolge des Schweizer Films der Siebziger war das Nach­barland damals filmpolitisch das Bezugsland Nummer eins für Österreich. Was die Filme von Murer, Yersin, Tanner, Goretta, Imhoof veranschaulichten, war nicht so sehr ein gewisser Landstrich namens Schweiz, sondern sie standen viel­mehr für ein Filmschaffen, das sich radikal von den Traditionen des alten Schweizer Films losgesagt hatte und seine politischen Haltungen auch adäquat formulierte.

Wen interessierte in Wien schon, wie es in der Schweiz aussah? Was zählte, war die Art und Weise, wie diese Filme einen Gesellschaftsbefund und ein Generationenporträt entwarfen, das über die Grenzen hinweg Identifikationen anbot. Für die Generation der Dreissig- bis Vierzigjährigen, die Mitte der Acht­zigerjahre die Filmpolitik in Österreich gestalten wollten, war der neue Schwei­zer Film deshalb ein zentraler Bezugspunkt - Aufmerksamkeit erregen für ein nationales Filmschaffen als kulturpolitischer Effekt!

Nicht zuletzt aus diesem Grund waren das Wiener Stadtkino, mit seinem kulturpolitisch aktiven Kinoleiter, und das Filmmuseum, das lange Zeit ein wichtiges Forum für junge österreichische Filmschaffende darstellte, die zwei wichtigsten Kinos für den Schweizer Film.

Gegen Ende der Achtzigerjahre wurden Schweizer Filme in Wien aller­dings immer seltener gezeigt: Im Stadtkino startete 1988 zwar noch Alain Tan­ners Une flamme dans mon cœur (1987), und im Filmmuseum waren die Filme von Heinz Bütler zu sehen (auf Grund ihres Wien-Bezugs, den Porträts der Künstlergruppe in der Nervenheilanstalt in Gugging). Aber da sich auch in Österreich das kulturpolitische Argument von der «Identitätsstiftung» zur «Umwegrentabilität» verlagerte, wurde der Bedarf an filmischen Belegen aus dem Nachbarland immer geringer. Eine dürftige Bilanz für das Selbstverständ­nis eines richtigen «Galliers» - aber richtig erschütternd geriet dann das nächste Kinojahrzehnt: In den Neunzigerjahren fand in Wien weder eine Retrospek­tive eines Schweizer Filmschaffenden im Filmmuseum statt, noch gab es einen Kinostart eines Schweizer Films im Stadtkino. Ein tiefer Fall.

Welcher Schweizer Film war sonst noch präsent im Wien der Achtziger- und Neunzigerjahre? Zur Veranschaulichung und als guter Gradmesser sei hierfür die Auswahl der Viennale angeführt, das alljährlich stattfindende Filmfestival in Wien, in seiner Bedeutung für Kinointeressierte vergleichbar mit dem Festival in Locarno: Gelegenheit, internationale Filme zu sehen, abseits des Studiokino-Angebots.

Die Auswahl der Viennale von 1984 bis heute - es sind insgesamt 22 Filme - ist nicht überraschend: Sie bestätigt, dass der Schweizer Film ausserhalb der Landesgrenzen in dieser Zeit vorwiegend als dokumentarisches Kino wahr­genommen wird. Die Auswahl reicht von Daniel Schmids Il bacio di Tosca über Richard Dindos Dani, Michi, Renato und Max und Erich Langjahrs Ex voto sowie nach ein paar mageren Jahren Anfang der Neunziger von Franz Reichles Lynx über Peter Liechtis Signers Koffer, Werner Schweizers Noel Field bis zu Thomas Imbachs Ghetto, Ulrike Kochs Die Salzmänner von Tibet, Richard Dindos Grüningers Fall und Franz Rickenbachs Eine Synagoge zwischen Tal und Hügel im letzten Jahr. Die Auswahl zeigt, dass nahezu jedes Jahr ein aus­sergewöhnlicher Schweizer Dokumentarfilm ausgewählt wurde, aber kaum mehr Spielfilme - eine Tendenz, die man auch im Programm vieler anderer internationaler Filmfestivals sehen kann. In den Neunzigerjahren gelangten nur die Dubini-Brüder an die Viennale mit ihrem in der Schweiz leider unter­schätzten Ludwig 1881.3

Andere Schweizer Filme waren in Wien im Rahmen von Spezialreihen oder von unabhängigen Initiativen zu sehen: immer wieder die Kurzfilme von Fischli/Weiss oder die Animationsfilme von Georges Schwizgebel. Und natür­lich im regulären Kinoeinsatz Humbert/Penzels Step Across the Border (1990) oder Franz Reichles Das Wissen vom Heilen (1996). Diese Filme werden in Wien jedoch weniger als Schweizer Filme wahrgenommen: Sie sind im Studio­kino-Angebot Genrefilme für Special-Interest-Gruppen (das coole Musiker­porträt, die Studie zur Alternativmedizin oder der ethnologische Reisefilm). Daniel Schmids Beresina etwa, der explizit Schweizer Historie verhandelt, be­kam nicht nur schlechte Kritiken, sondern war in Österreich ein Misserfolg.

In Wien, aber wohl nicht nur dort, steht der Schweizer Film nicht mehr zur Debatte. Er hat sowohl als kulturpolitisches Argument als auch als ästhetisch­politische Chiffre ausgedient. Die Filme aus der Schweiz stehen heute in Kon­kurrenz und im Dialog zu Filmen von Aki Kaurismäki, Nanni Moretti oder Claire Denis und weniger zum finnischen, italienischen oder französischen Kino, um in Europa zu bleiben. Und wenn, im Zuge der Hysterie um Dogma 95, zurzeit das dänische Filmschaffen als Vorbild einer Nationalkinematografie dient, dann beschränkt sich diese Debatte zumeist auf das geschickte Marke­tingkonzept und übersieht die dahinter stehende filmpolitische Anstrengung.

In der Schweiz und in Österreich, wie andernorts, hat sich die Diskussion verlagert: An Stelle einer inhaltlichen Debatte steht nun die Diskussion um die Eroberung von Marktanteilen und um internationale Vernetzung im Vorder­grund. Vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, dass in den Neunzigern kaum mehr der Versuch unternommen wurde, aus Filmen wie Signers Koffer und Well Done, Noel Field und Das Wissen vom Heilen «gemeinsame Themen, Motive, Obsessionen und Träume» herauszulesen, so wie es Martin Schaub für den neuen Schweizer Film von 196} bis 1987 getan hatte. Natürlich wird man selbst bei oberflächlicher Betrachtung feststellen, dass sich als Beleg für gemeinsame Merkmale nicht ohne weiteres eine so umfassende Filmliste zusammenstellen liesse, wie es Schaub für die Epoche des neuen Schweizer Films plausibel getan hat. Es blieben Fragmente, Differenzen. Daraus ergibt sich kein geschlossenes Bild, ja nicht einmal eine Skizze eines nationalen Filmschaffens. Aber würde dies, um im Bild zu bleiben, nicht in erster Linie das gallische Dorf erschüttern und weniger das Römische Reich?

In Österreich hat sich mein Blick aufs Kino verändert. Ich habe begonnen, eine Filmkultur zu entdecken, die mir bislang unbekannt war (und in deren Ent­wicklung ich immer mehr eingebunden wurde). Sehr rasch habe ich gesehen, dass sich in Wien nicht nur das Filmangebot unterschied von anderswo, sondern dass auch anders über Filme gesprochen wurde. Ich bin heute der Überzeu­gung, dass sich an jedem Ort, an dem so etwas wie eine Filmkultur existiert, ein spezifischer Filmdiskurs herausbildet, um den sich gewisse Leitfilme gruppie­ren. Und dass dieser Diskurs natürlich auch im Dialog steht zur jeweiligen Filmproduktion. Es ist schade, dass es dazu kaum Texte oder eingehendere Ana­lysen gibt - wenn ich jetzt meine Erfahrungen in Wien festhalte, dann verein­fache ich natürlich und bleibe vieles, was es dazu zu sagen gäbe, schuldig.

Meine filmische Sozialisation geschah durch den Kinofilm: Ich hatte, Mitte der Achtzigerjahre aus der Schweiz kommend, bis anhin keinen Film gesehen, der nicht dem Erzählkino zuzurechnen gewesen wäre - auch das dokumentari­sche Kino, das ich kannte, war ein narratives Kino. Die Entdeckung des Avant­garde-Films war deshalb für mich die Entdeckung von etwas ganz Fremdem, Neuem, Überraschendem. Es war nicht schockierend, verstörend oder beunru­higend, auch wenn dies die Begriffe sind, die die Rezeption der Avantgarde bis heute begleiten. Es war eher so, wie wenn man als Kind Erwachsenen zuhört und nicht ganz versteht, um was es geht, und sich mühevoll ein Verständnis erarbeiten muss. Der Weg des Avantgarde-Kinos ist oft einer der Reduktion und (buchstäblichen) Rekonstruktion: «Fr führt», wie es Peter Tscherkassky einmal formuliert hat, «zurück zu den Bausteinen des Films, um diesen in eige­nen Arrangements immer wieder neu zu erfinden.»

Das «Immer-wieder-neu-Erfinden»: Die Filme von Kurt Kren möchte ich an dieser Stelle hervorheben, nicht nur weil sie von zentraler Bedeutung für das österreichische Avantgarde-Kino sind, sondern weil sie, oft auch aus Zufall, meine Entdeckung dieses unbekannten Kontinents beschleunigten. Kurt Kren war Mitte der Achtziger ein Mythos in Wien. Er lebte in den USA, und die Wis­senden sagten mir, dass Kren neben Peter Kubelka der bedeutendste österrei­chische Filmemacher seit den Fünfzigerjahren sei - und ich kannte nicht einmal seinen Namen, geschweige denn hatte ich jemals einen Film von ihm gesehen. Wie wenn man über den Schweizer Film reden würde und sagte: Predi Murer - nie gehört!

Ich habe Kurt Kren ein paar Monate nach seiner Rückkehr nach Wien, Ende der Achtziger, kennen gelernt. Freunde hatten ihn aus den USA, wo er am Rande des Existenzminimums lebte, nach Wien zurückgeholt. Er fühlte sich damals ausgebrannt, wie er sagte, und ich glaube, er war froh, wieder in Wien zu sein. Ausserdem war er überrascht, dass es neben dem Wien, vor dem er in den Sechzigerjahren geflüchtet war, nun auch ein Wien einer jungen, interessierten Kunst- und Filmszene gab. Bald war Kren nicht mehr wegzudenken aus dem Wiener Filmleben: Wann immer es eine Filmveranstaltung mit unkonventio­nellen Arbeiten gab, war er da. Ex Underground hat Hans Scheugl sein Buch über Kren genannt und damit neben einer filmhistorischen Einschätzung vor allem eine Lebenshaltung beschrieben: Kren lebte, auf seine Weise, eine un­bedingte Autonomie, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Eine Form der Unabhängigkeit, die ihm erst sein künstlerisches Arbeiten ermöglichte. Durch Kurt Kren, der vor zwei Jahren gestorben ist, habe ich gesehen, was es heisst, wenn jemand «Film lebt».

Man müsste die Traditionen des Avantgarde-Films in Wien (und anderswo) ausführen, um die Bedingungen dieses Filmschaffens zu veranschaulichen und um die Position Kurt Krens darzustellen. Man müsste natürlich Namen nennen wie Peter Kubelka, Marc Adrian, Ferry Radax, Valie Export, Hans Scheugl, Dietmar Brehm, Linda Christaneil, Lisi Pongcr, Peter Tscherkassky und Mar­tin Arnold - bereits diese paar Namen sind nur einige aus der Fülle einer Film­kultur, die sich immer wieder erneuert und alle Jahre wieder eine neue Filmer­generation in Österreich generiert.

Was hat dies alles mit dem Schweizer Film zu tun?

In Krens Arbeit und in seiner Persönlichkeit habe ich etwas gefunden, was mir am Schweizer Kino, jenseits der Gelddiskussionen, zunehmend fehlte: die Bereitschaft zu radikaler Kritik am eigenen Medium und der Versuch des Neu- Erfindens der eigenen Ausdrucksformen. Was auffällt am Schweizer Experi­mentalfilm, den es ja durchaus gegeben hat und gibt, ist seine völlige Nicht­präsenz im Bewusstsein der filmästhetischen und kulturpolitischen Debatten. Bis heute fehlt eine publizistische Gesamtdarstellung dieses Filmschaffens in der Schweiz. Man vergisst leicht, dass Fredi Murer nicht nur in diesem filmi­schen Territorium gross geworden ist, sondern dass er bis heute im Grunde ein Experimentalfilmer geblieben ist. Und wovon etwa Jürg Hasslers schöner Film Les débordants spricht und anschaulich zeigt, ist das völlige Fehlen von An­erkennung und von Kontinuität in diesem Bereich.

Ein zweiter wichtiger Einfluss, der mich das Kino neu sehen liess: Es gab in Wien eine junge Generation in Filmkritik, -théorie und -praxis, die mit gros­sem Wissen und umtriebig das Kinoleben spätestens seit Ende der Achtziger­jahre kommentierte und energisch mitgestaltete. Es war ein Aufbruch auf vie­len Ebenen: In unzähligen Filmschauen, Symposien und vielfältigen Events fand dieser Neubeginn seinen Ausdruck. Wo konnte man schon, innerhalb kur­zer Zeit, solche Kinoereignisse erleben: einen Abend lang den Anekdoten von Billy Wilder zuhören; im Rahmen einer Retrospektive Michelangelo Antonioni mit einer Standing Ovation begrüssen; eine umfangreiche, komplexe I ilmschau zum Melodram sehen; mit Marcel Ophüls in seinem Hotelzimmer über das «Phänomen Haider» debattieren (und über die Pariser Intellektuellen herziehen, natürlich); an einem Symposium von Fachgrössen die Zusammenhänge von Film und Musik erklärt bekommen; eine ziemlich komplette Geschichte des österreichischen Avantgarde-Kinos studieren; mit Budd Boetticher dessen psychologische Western (wieder) entdecken; eine profunde Auswahl des Hong­kong-Kinos bestaunen; den filmischen Aufbruch des New Hollywood in einer umfassenden Retrospektive nachvollziehen; Martin Scorsese persönlich in kon­zentriertem Gespräch erleben; Harun Farocki über die Bedingungen des Filme- machens nachdenken sehen; mit Frieda Grafe über den Beginn der Nouvelle Vague plaudern; eine internationale (Avantgarde-)Filmschau mitsamt Vorträ­gen angeboren bekommen und im Filmmuseum Peter Kubelkas einzigartige Vorträge zur Filmgeschichte mitverfolgen? Man hätte sich, um ein ähnlich dich­tes Angebot zu finden wie im Wien der Neunzigerjahre, auch im Mekka der Filmkultur, in Paris, längere Zeit aufhalten müssen. Diese komplexe Filmkultur sah vor allem keinen Widerspruch mehr zwischen radikalem Autorenfilm und Hollywoodkino. Im Gegenteil: Das Kino wurde als Teil einer umfassenden Populärkultur begriffen und sollte sich am besten im intensiven Dialog mit möglichst vielen (Kunst-)Sparten befinden.4

Ich gewöhnte mir an, bei den Grössen des Kinos nicht nur an die nahe liegen­den Namen zu denken (wovon ich viele wie Buster Keaton, F. W. Murnau oder John Ford erst in Wien entdeckte: Was konnte man in Bern schon sehen!): Es war die allmähliche Erweiterung meines persönlichen Olymps um ganze Kino­kontinente (von Ernst Lubitsch und Max Ophüls über Robert Bresson und Jean Eustache zu Chris Marker und Straub / Huillet, um nur einige wenige zu nennen) und die umfassende Entdeckung des Dokumentarischen (von den Lumières zu Robert Flaherty und von Robert Gardner bis Raymond Depar­don) und des Avantgarde-Films (von Maya Deren über Stan Brakhage zu Ken­neth Anger und Bruce Conner), die meinen Kinohorizont grundlegend ver­änderten. Und es war ein Diskurs, der das Zentrum des Kinos, das Industrielle, das Populäre, den Trash, nicht aussparte und mit Erkenntnisgewinn versah. Ein Double-Feature mit einem Western von John Ford und dem zweiten Teil der Mad Max-Serie war für mich keine provokative Geste mehr, sondern ein selbst­verständliches Kombinieren von unterschiedlichen Kinoformen.

Dies brachte es mit sich, dass ich begann. Vertrautes mit anderen Augen zu sehen - auch den Schweizer Film. Meine wichtigste (Wieder-)Entdeckung im Schweizer Kino waren die Filme von Christian Schocher. Schocher, der zu den grossen radikalen Figuren des europäischen Autorenfilms gehört, wird in der Schweiz bis heute kaum wahrgenommen. Und wenn, dann sieht man sein Werk, dem ein zentraler Platz in der Schweiz, zustünde, als Marginalie. Kein Zufall, dass es bis heute aus helvetischer Feder keinen akzeptablen umfassenden Text zu seinen Filmen gibt, von einer Monografie ganz zu schweigen.5

Ähnlich wie mit Schocher ging es mir in den letzten Jahren auch mit andercn neuen Schweizer Filmen: Wo ich Neues, Interessantes zu sehen glaubte (etwa in Matthias Caduffs Blindnis oder Rudolf Barmettlers Mini Händ wärdid rucher, immer rucher) oder wo ich Innovatives im Kinofilm entdeckte (von Bruno Molls Hammer bis zu Ludwig 1881 von Donatello und Fosco Dubini), wurde ich von eidgenössischen Kinoexperten mit den «Fehlern» und dem «Un­fertigen» dieser Filme belehrt. Diese Diskussion, die das Kino stets auf die Rea­litätsbank spannt, zielte letztlich (was den Spielfilm betrifft) immer wieder auf das vermeintliche Zentrum des Schweizer Films (Xavier Koller, Daniel Schmid und andere), wo ich, wie viele andere auch, nur die Konvention regieren sah. Aber konnte das genügen?

Vielleicht müsste man sich davon verabschieden, das Schweizer Kino als Spiegel der Gesellschaft begreifen zu wollen. Das zwingt die ästhetische Aus­einandersetzung in die Grenzen ihrer soziopolitischen Argumente. Warum nicht stattdessen das Schweizer Kino - so denke ich mir in den letzten Jahren, wenn ich die Zeremonien des Schweizer Filmpreises in Solothurn verfolge - von den Rändern her definieren: von den Filmen eines Christian Schocher, Thomas Imbach und Jürg Hassler, eines Peter Liechti oder Peter Mettler. Dort am Rand, im Territorium des Eigensinns, liesse sich ein neues gallisches Dorf bauen: mit einer radikalen Ausdehnung der Grenzen, basierend auf den Bau­steinen des Kinos selbst. Und auf diesem Terrain, mit dem Verständnis für einen umfassenden Filmbegriff und dem Mut für zeitgemässe Formen, müsste man eine Geschichte des Schweizer Films schreiben können. Eine andere Ge­schichte, möglicherweise.

Seit 1983 erscheint Cinema als Jahrbuch - und mit dem Erscheinungsbild hat sich auch die Funktion der Zeitschrift grundlegend ver­ändert, nicht nur für mich. Die erste Ausgabe in der neuen Form war zwar noch zur Gänze dem neuen Schweizer Film gewidmet, als Höhe­punkt und Zusammenfassung des Diskurses der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre. Allmählich wurde jedoch das Spektrum der Autorinnen breiter, die Sujetwahl reichhaltiger, der Begriff von Kino umfassender. Der Schwei­zer Film war nur noch ein Thema unter vielen (übrig geblieben davon ist der Kritische Index der Schweizer Jahresproduktion). Wie bei an­deren Filmzeitschriften vollzog sich mit dem Generationenwechsel vor allem in den Neun­zigern auch ein Wandel der Schreibweisen.

Den Begriff des «Galliers» hat Alexander Horwath in einem Artikel über den österrei­chischen Film verwendet, um die gegensätz­lichen Positionen in der Filmpolitik Österreichs Mitte der Neunzigerjahre zu beschreiben. Im Gegensatz zum populistischen «Volkstribun», der gegen die «elitären Cineasten ins Feld» zieht, ist es dem Gallier ein Gräuel, «dass zu einem normalen Filmland wohl auch viele schlechte, ein paar konservative und ein paar massentaugliche Filme gehören. Das einzelne missratene Werk wird ihnen gern zum Symbol fürs furchtbare Ganze.» (Profil, 11. Oktober 1999)

Die Schweizer Filme, die seit 1984 an der Viennale gezeigt wurden: 1984 Chapiteau von Johannes Flütsch, 1985 // bacio di Tosca von Daniel Schmid, 1986 Höhenfeuer von Eredi Murer und Der Rekord von Daniel Helfer, 1987: -, 1988: Jenatsch von Daniel Schmid, Dam, Michi, Renato und Max von Richard Dindo und Ex Voto von Erich Langjahr, 1989: Pestalozzis Berg von Peter von Gunten, 1990: -, 1991: -, 1992: Lynx von Franz Reichle, 1993: Spaziergang nach Syrakus von Lutz Leonhardt und Constantin Wulff, 1994: Ludwig 1881 von Donatello und Fosco Dubini, 1995: Signers Koffer von Peter Liechti und Jean Seberg - American Actress von Donatello und Fosco Dubini, 1996: Noel Field von Werner Schwei­zer, 1997: Ghetto von Thomas Imbach, Das Wissen vom Heilen von Franz Reichle, Die Salzmänner von Tibet von Ulrike Koch und Mim Hand war did rucher, immer rucher von Rudolf Barmettler, 1998: Grümngers Fall von Richard Dindo und Ricardo, Miriam y Fidel von Christian Frei, 1999: -, 2000: Eine Syna­goge zwischen Tal und Hügel von Franz Rickenbach und Summertime von Anna Luif.

Diese Idee war in Wien natürlich keine singuläre Erscheinung, sondern vollzog sich zeitgleich auch an anderen Orten. Eine ähn­liche Dynamik konnte man in den Neunzigern in der Schweiz vor allem im filmwissenschaft­lichen Bereich miterleben.

Im Rahmen der Diagonale 1998 in Graz haben wir das Gesamtwerk von Christian Schocher erstmals in Österreich präsentiert. Ich erinnere mich, wie cs vor allem junge öster­reichische Filmschaffende waren, die mir be­geistert von ihren Schocher-Film-Erlebnissen erzählten und sein Kino als Möglichkeit eines Anknüpfungspunktes sahen! Als Würdigung der Filme von Christian Schocher sei der Text von Alexander Horwath empfohlen, der im Diagonalc-98-Katalog erschienen ist («Walk the Walk. Der Filmemacher Christian Scho­cher»).

Constantin Wulff
geb. 1962, lebt in Wien. Filmschaffender (Spaziergang nach Syrakus, 1993; Treid, 1999), Publizist (Mitherausgeber von Schreiben Bilder Sprechen - Texte zum essayistischen Film, Wien 1992; von Marcel Ophüls - Widerreden und andere Liebeserklärungen: Texte zu Kino und Politik, Berlin 1997) und seit 1997 Ko-Leiter der «Diagonale», des Festivals des österreichi­schen Films in Graz.
(Stand: 2018)
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