PATRICK STRAUMANN

«WAS IST DER FILM? NICHTS. WAS WILL ER? ALLES.» — JEAN-LUC GODARDS HISTOIRE(S) DU CINEMA

ESSAY

Joints were none that mortar seales: Together scarce with line revealed The blocks in symmetry congealed

Herman Melville, Greek Masonry

I

Im dritten Teil von Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey (USA 1966) ge­winnt der Astronaut Dave Bowman die Erkenntnis, dass die Informatikausrüs­tung, aut der seine Expedition bislang gründete, das Gelingen der Mission auch gefährden kann.1 Nach der Eskalation seines Konflikts mit dem Bordcomputer Hal lobotomisiert er die Maschine und begibt sieh auf eine phantasmagorische und visuell fantastische Reise durch das Sonnensystem. Der Film endet mit einer Szene, die die Vermutung nahelegt, dass Bowman, während der Zeitfluss eine Beschleunigung erfährt, schliesslich zum Augenzeugen des eigenen Schicksals wird. Jean-Euc Godards Histoire(s) du cinema (E 1988-1998)2 laden ihr Publikum zu einer ähnlich gearteten Begegnung mit der Zeit- und Kultur­geschichte ein: Als Gegenstück zum Computer figurieren die Techniken und das Denken des 19. Jahrhunderts, und an die Stelle der chronologischen His­torie tritt eine assoziative Erzählstruktur - getreu dem Satz. Walter Benjamins, wonach die Geschichte einer Konstellation gleicht, in der die Vergangenheit, die Gegenwart und die «splitterartig darin enthaltene messianische Zeit» eine vergleichbare Leuchtkraft besitzen.3

In ihrem ausgesprochen undidaktischen Aufbau sind die Histoire(s) allenfalls unter Vorbehalten mit einer konventionellen Filmgeschichte vergleichbar. Die acht Kapitel (1a/1b — 4a/4b), die mit James Stewarts Fernrohraus Rear Window (Alfred Hitchcock, USA 1954) beginnen und mit einer Rosenknospe enden, gründen in erster Linie auf den Reproduktionsmöglichkeiten der Videotechno­logie. Die Zergliederung von Filmaufnahmen in Slowmotion sowie in Stand­bilder und die nachträglichen Überblendungen öffnen der filmischen Analyse zwar neue Perspektiven, auf eine ähnliche Weise, wie die Fotografie der Kunst­geschichtsschreibung einst zu neuen Impulsen verholfen hat. Wer hingegen ver­sucht, zwischen den verschiedenen angeschnittenen Themen einen kausalen Zusammenhang zu finden, wird auch auf Ungenauigkeiten stossen; auf wider­legbare Thesen, Bonmots und Kalauer, deren Originalität ihrWahrheitsdefiz.it kaum wettmachen kann. So wurde das Drehbuch entgegen der in Kapitel 2b formulierten These nicht von einem kleinen Buchhalter der Mafia erfunden. Auch der Fotoapparat von Emile Zola hat kaum etwas mit der Erfindung des lumièreschen Cinématographe zu tun (ib). Und selbst die Behauptung, der Mathematiker Poncelet (der während seiner Inhaftierung in einem Moskauer Gefängnis die Gesetze der projektiven Geometrie beschrieb) hätte mit seinen Arbeiten der Erfindung der Filmvorführung Pate gestanden, hielte kaum einer historischen Überprüfung stand.

Dass Godards Anspruch, Geschichte darzustellen, dennoch Bestand hat, liegt an seiner Grundthese, dass «die Geschichte zu einem bestimmten Zeit­punkt im Film ihren Ausdruck gefunden hat, dass sie sich darin eingenistet hat wie ein Virus»4 und dass sie sich dementsprechend auch nicht im Kommentar isolieren, sondern allenfalls in der Textur der Filme nachweisen lässt.

Als Collage von Bildern, Tönen und grafischen Schriftzügen, deren Schichtun­gen die Verständlichkeit des viereinhalbstündigen Werks zeitweise stark strapa­zieren, erlangen die Histoire(s) eine Dichte, die eine eigentliche Herausforde­rung an ihre Klassifizierung stellt. In ihrem demiurgischen Gestus liessen sich die Histoire(s) mit dem Golem oder auch mit Frankenstein vergleichen. Sie tra­gen aber auch autobiografische Züge, wobei der Fundus, aus dem Godard seine Erinnerungen bezieht, grundsätzlich der allgemein bekannten Kulturgeschichte entspricht. Eine weitere Vergleichsmöglichkeit böte André Malraux’ Musée imaginaire. Hinsichtlich ihrer intellektuellen Physiognomie, ihrer Struktur und ihrem Anspruch erinnert Godards Arbeit jedoch insbesondere an Walter Ben­jamins Passagen-Werk, das seinem Autor ebenfalls jahrelange Arbeit abverlangt hat: Auch die Histoire(s), die an ihrer Oberfläche aus mehreren hundert Zitaten aus Filmen und Kompositionen, Texten und christlich-religiösen Gemälden bestehen, lassen sich in ihrem neuralgischen Zentrum als «Kommentar zu einer Wirklichkeit»5, als eine individuelle Bestandesaufnahme der kulturellen Reak­tionen auf die Zeitgeschichte verstehen.

IV

Mit seiner Differenzierung zwischen den «Essays» und den «Romanen» hat Godard öfter selbst den Verwandtschaftsgrad definiert, in dem die Videoarbei­ten wie Puissance de la parole (F 1988) und Soft and Hard (F/GB 1985) mit sei­nen jüngeren Filmen stehen. Trotz aller Unterschiede, die die beiden Gattungen trennen, gelten zwei Prämissen, die sich durch sein gesamtes Werk ziehen und die auf besonders prägnante Weise wieder in den Histoire(s) zum Ausdruck gelangen: Erstens sind die Filme Godards von einem Geschichtsbewusstsein geprägt, die sein fiktionales System anreichern. Bereits A bout de souffle (F 1960) lebt unter anderem von der Spannung, die aus der Konfrontation des Truppen­aufmarsches auf der Avenue des Champs-Elysées zu Ehren Eisenhowers mit Jean Cayrols Text zu Resnais Film Nuit et brouillard (F 1955) aus dem Off entsteht. Zweitens zieht Godard die Verpflichtung, die den Filmemacher ans gefilmte Bild bindet, dem «filmischen Vertrag» vor, den das Werk mit dem Pub­likum eingeht. Diese Überzeugung, deren Relevanz meist nur im Rahmen des ethnografischen Filmschaffens anerkannt wird, gründet auf Godards funda­mentalem Einverständnis mit der These, die André Bazin in seinem Essay «Die Ontologie des fotografischen Bildes» formuliert: Jede fotografische Wieder­gabe ist gleichermassen Erinnerung und Reliquie des Bezugsobjekts.6 Godard zieht aus Bazins programmatischer Frage: «Qu’est-ce que le cinéma?» densel­ben Schluss, wenn er antwortet, der Film habe auf Grund seiner ihm wesent­lichen Eigenschaft - das Sichtbare mit der Erinnerung zu verbinden - auch eine historische Verantwortung.

V

Das Zitat als Reminiszenz der Kulturgeschichte ist eine Stilfigur, die Godards Publikum seit dessen Anfängen bekannt ist. A bout de souffle erinnert - unter anderem - an Anthony Mann, Rembrandt und Faulkner; Pierrot le fou (F 1965) an Hitchcock, Les Pieds Nickelés an Rimbaud, während Le mépris (F 1963) Fritz Lang, Vermeer und Brecht zitiert. Die Zitate sind so augenfällig, dass man sie in der Kontinuität von Godards Aktivität als Kritiker lesen kann, als Dialog mit jenen Regisseuren und Künstlern, deren Werk dreissig Jahre später, für die Histoire(s) du cinéma, den Grundstock seines Arbcitsmatcrials liefern wird. Jerzy, der Regisseur in Passion (F/CH 1981), nimmt dieselbe Methode für sich in Anspruch, wenn er sagt: «Ich mache gar nichts, meine Sophie. Ich beobachte, verwandle, verschiebe, ich kürze, was zu lang ist, das ist alles.» Allerdings zielt Godards Methode nicht darauf ab, den postmodernen Film zu schaffen; eines der Leitmotive der Histoire(s) besteht im Gegenteil darin, in den Zitaten die Überlieferung von - auch ausserfilmischem - Vergangenem zu sehen: «Le cinéma filme le passé, c’est-à-dire ce qui s’est passé et qui repasse», lautet einer der Off-Sätze, und: «Le cinéma regarde le passé et ainsi re-garde ce qui s’est passé.» Das Filmbild wird hier zum Zitat der Umwelt; zitieren heisst an das Bezugsobjekt und nicht an das Bild glauben.7 Der radikalste Versuch - und des­halb wohl auch der schockierendste -, ein solches Bild der Vergangenheit zu zitieren, bildet zweifellos jene Sequenz in Je vous salue, Marie (F 1983), in der der Körper Myriem Roussels zum Ort der «unbefleckten Empfängnis» wird. Bazin hat auf diese essenzielle und naturgegebene Beziehung zwischen Gegen­wart und Vergangenheit in der figurativen Kunst hingewiesen, indem er in der Malerei und Bildhauerei der Antike den psychologisch motivierten Versuch sah, den «sterblichen Körper gegen die Zeit zu verteidigen»8. Obschon Godard die gegenteilige Perspektive einnimmt, artikuliert sich seine Arbeit rund um dieselbe Überzeugung: Sowohl der Mythos von Orpheus und Eurydike, den er via Jean Cocteaus Film zitiert, als auch sein Kommentar bezüglich des Schick­sals von Lots Frau, die sich in eine Salzsäule verwandelt, weil sie nach Sodom und Gomorra zurückblickt, ermöglichen ihm das Wortspiel, es sei das Privileg des Films, «die Vergangenheit mit Hilfe einer Salzlösung auf dem Zelluloid zu fixieren» und damit den Blick auf die Vergangenheit freizugeben.9 Dem Schrecken entgegensehen, ohne daran zu Grunde zu gehen: Ein schwaches Echo aut diesen Satz findet sich am Ende des letzten Kapitels, als Godard, Jorge Luis Borges zitierend, das Werk mit den Worten schliesst: «Si un homme tra­versait le paradis en songe, qu’il reçût une fleur comme preuve de son passage et qu’à son réveil il trouvât cette fleur dans ses mains, que dire alors, j’étais cet homme.»

VI

Die Erwähnung von Lots Frau ist nicht das einzige Anzeichen in den Histoire(s), die von Godards Auseinandersetzung mit der Theologie beziehungs­weise von deren Instrumentalisierung zeugt. «Der Film ist weder eine Kunst noch eine Technik, sondern ein Mysterium», ist im Kapitel 2a vor dem Hinter­grund von Pier Paolo Pasolinis II vangelo secondo Matteo (I 1964) zu verneh­men. Wenig später spielt Godard auf das eigentliche Glaubensbekenntnis an, auf dem die Beziehung zwischen dem Publikum und der Fiktion gründet: «Wie das Christentum basiert auch der Film nicht auf einer geschichtlichen Wahr­heit.» Einige biblische Themen wurden in seinen letzten Filmen auch direkt behandelt. Je vous salue, Marie zitiert die Verkündigungsszene, während Nou­velle vague (F/CH 1990) die Auferstehung zum Thema hat. Es ist jedoch ins­besondere der Satz «L’image viendra au temps de la résurrection», der sich mehrmals typografisch über die Bilder der Histoire(s) zieht (unter anderem als effizienter Kontrapunkt zur Schlussszene von King Vidors Duel in the Sun [USA 1945]), der seit dem Beginn der Neunzigerjahre eine zentrale Position in Godards Arbeit einnimmt.10

Der Zusammenhang zwischen Konzept der Auferstehung und Geschichte wird besonders im Spiegel von Benjamins «Uber den Begriff der Geschichte» offensichtlich, ln der zweiten These dieses Textes liest sich folgender Satz: «Dann ist uns, wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen.» Die messianische Aufgabe, die Godard dem Film zuteilt-das Bild zu liefern, das sich gemäss der jüdischen, christlichen und gnostischen Tradition als heilbringend erweist,11 und das heisst bezüglich des historischen Projekts von Godard, das Bild des 20. Jahrhunderts kongruent wiederzugeben -, kann von keiner anderen Kunstform erfüllt werden, weil sich keine andere Ausdrucksweise, weder die Literatur noch die Malerei, weder die Musik noch das Theater oder die Medien, so sehr wie der Film eignet, die «Wirklichkeit einzubalsamieren». Am unmissverständlichsten kommt die The­matik des Heilsbegriffs, der auf der Idee der Auferstehung beruht, am Ende des Kapitels ib, im Querverweis auf Hitchcocks Vertigo (USA 1958) zum Aus­druck. Godard zitiert jene Szene, in der James Stewart (als Polizist Scott Fergu­son) Kim Novak vor dem Ertrinkungstod rettet. Novak spielt die Figur der Lucy, die vorgibt, Madeleine zu heissen, an Amnesie zu leiden und von der Seele einer Verstorbenen beherrscht zu sein. Nach dem fingierten Selbstmord von Madeleine begegnet Lucy Ferguson zum zweiten Mal. Nun verliebt sie sich in ihn und beginnt, auf sein Drängen hin die Gestalt Madeleines anzunehmen. Die folgenden Sequenzen des Films sind ausschliesslich dem Versuch Fergusons ge­widmet, im Körper der zweiten Frau das Bild der Vergangenheit zu erkennen. Die Auferstehung der fiktiven Geliebten nimmt schliesslich mit Lucys (wirk­lichem) Selbstmord ein Ende: Sie springt vom Kirchturm, als sie eine Nonne die Worte «I heard voices ...» aussprechen hört.

VII

«Der Chronist, welcher die Ereignisse hererzählt, ohne grosse und kleine zu unterscheiden, trägt damit der Wahrheit Rechnung, dass nichts, was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu geben ist», schreibt weiter Benja­min. Der Film - und das ist das zweite grosse Credo der Histoire(s) du cinéma - kann dieser Anforderung bezüglich der Geschichte des 20. Jahrhunderts gerecht werden, wiewohl er als Technik und Ästhetik im 19. Jahrhundert ver­ankert ist. Dem Wort «montage», das die Leinwand neben dem Wort «histoire» wohl am häufigsten überzieht, kommt die Aufgabe zu, diesen Widerspruch zu transzendieren. Als einzige authentische Erfindung des Films - Godard ver­gleicht den Schnitt mit der Entstehung der Perspektive in der Malerei – wird er zum Schlüssel der Geschichte und der Geschehnisse des 20. Jahrhunderts, ln einem f rühen Text, dessen Titel «Montage, mon beau souci» gleich in mehreren Kapiteln der Histoire(s) angeführt wird, lässt sich denn auch einer seiner schönsten und präzisesten Aphorismen lesen: «Wenn inszenieren sehen bedeu­tet, dann kommt der Schnitt dem Herzschlag gleich». Der Schnitt bedingt die Möglichkeit, den Lauf des Sichtbaren zu unterbrechen beziehungsweise das Gesehene zu wiederholen; der Film besitzt deshalb ein syntaktisches Potenzial, das jeder anderen Ausdrucksform, abgesehen von der Literatur, an Präzision überlegen ist.

In der Architektur der Histoire(s) spielt der Schnitt eine entsprechend zent­rale Rolle. Die montagebedingten Assoziationen werden hier zum eigentlichen Kitt der Ereignisse des 20. Jahrhunderts und erhalten die bestimmende Funk­tion einer Syntax. Insofern sind auch Godards streckenweise sehr freie und auch ahistorische Themen- und Ideenassoziationen nicht zufallsbedingt. Die Bausteine der Histoire(s), die in ihrer Abfolge an eine schlecht geordnete Biblio­thek erinnern, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als Steinbruch, dessen metaphorische Schichtung wie geologische Ablagerungen von den wichtigsten Kulturmomenten und Ereignissen des Jahrhunderts zeugen. Das Projekt er­weist sich insgesamt als einzigartiger Versuch, den audiovisuellen Ausdruck einem ethischen Massstab zu unterwerfen. Allerdings - und aus dieser Über­zeugung scheint denn auch jener melancholische Gestus zu resultieren, der sich durch Godards gesamtes Spätwerk zieht - zeichnet sich hinter den barocken Dimensionen der Histoire(s) auch die Erkenntnis ab, dass der moralische Impe­rativ, den er an das Medium Film richtet, gerade im anspruchsvollsten Moment, nämlich während des Zweiten Weltkriegs, krass mit der filmischen Wirklichkeit kontrastierte.

VIII

Eine Sequenz der Histoire(s) erinnert daran, dass die Schauspielerin Danielle Darrieux, die in der Verfilmung des Romans Le bai (Wilhelm Thiele, F 1931) die Hauptrolle spielte, 1942 einer Einladung nach Berlin nachkam; während die jüdische Autorin des Buches, Irène Nemirovsky, fast zur selben Zeit deportiert wurde. Auch andere Stellen, wie jene, die das seelische Ringen von Maria Casa- rès in Robert Bressons Les dames da bois de Boulogne (F 1945) mit dem Schick­sal des Resistance-Märtyrers Jean Moulin assoziiert, unterstreichen allein durch ihr Pathos die Machtlosigkeit der Regiearbeit - «Je lutte»: Der fast stumme Aufschrei der Schauspielerin dient offensichtlich als Bindeglied zwischen dem französischen Widerstand und der nationalen Filmproduktion. Wenn Filmzitate und auch Reproduktionen der Werke von Goya, Seurat und Monet formal da­rauf verweisen, dass das Visuelle in der Bildung der Erinnerung des Jahrhunderts eine übergeordnete Rolle innehat, denunziert das Werk in erster Linie die Tatsache, dass der Film die an ihn gerichteten Erwartungen nicht erfüllt hat. Wort gegen Bild: Godard, der dem Film vorwirft, den Holocaust trotz all sei­nes Potenzials nicht darstellen zu können, stellt dem audiovisuellen Medium die Literatur gegenüber: «... que la poésie soit d’abord résistance. Mandelstam, évidemment, le savait.»

IX

Der Film als Medium, das /Mr excellence dazu befähigt wäre, die Geschichte zu reflektieren, wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts ihm nur nicht eine andere Funktion - insbesondere die Funktion des Entertainment - zugetedt hätte: Wie artikulieren die Histoire(s) die Korrelation zwischen diesen beiden zentralen Postulaten? Godard weiss mit André Malraux, dass das Wechsel­verhältnis von Kunst- und Zeitgeschichte auch die Evolution der Filmsprache tangiert. Im Gespräch mit dem französischen Kritiker Serge Daney, das die Episode 2a eröffnet, situiert er die Geburt des Films in der Mitte des 19. Jahr­hunderts. Eine Filmstunde später, nachdem Julie Delpy fast ein Kapitel lang Charles Baudelaire rezitiert und Sabine Azéma aus Hermann Brochs Der Tod des Vergil gelesen hat, kommt er auf die Entstehungsgeschichte des Films zurück. Bezug nehmend auf einen Text von Georges Bataille12, zeigt er eine Serie von Gemälden Edouard Manets - die Olympia, Un bar aux Folies-Bergère, Berthe Morisot - und formuliert die folgende These: Mit diesem Maler hat das Konzept des künstlerischen Subjekts ein Ende genommen, nach Manet ist «die innere Wirklichkeit der Menschen nicht mehr subtiler als der Kosmos». Mit Manet («dessen Modelle stets zu sagen scheinen: «Ich weiss, was du denkst»») hat sich zwischen Subjekt und Objekt ein Gleichgewicht eingestellt; ein Gleichgewicht, das sich im Dialog entlang der Blickachse zwischen Zuschauer und Modell zum ersten Mal auch zu konkretisieren vermag. Die moderne Male­rei - das heisst mit Godards Worten: «Formen, die sich in Richtung der Sprache hinbewegen» - beginnt mit der Erfindung des Gegenschusses, dessen kreatives Potenzial sich im gemalten Spiegel von Un bar aux Folies-Bergère übrigens be­reits auch thematisch abzeichnet.

Es ist dieser Austausch, der Dialog mit dem «Anderen», der die Bewahrung der Erinnerung garantiert. In diesem Kontext erhält auch die Szene aus Charles Laughtons The Night of the Hunter (USA 1955) ihren Sinn, die als einziger län­gerer Ausschnitt eines Films Julie Delpys Rezitation von Baudelaires Voyage hinterlegt ist. Godard zitiert jene Szene des Films, in der die Kinder das Boot ihres Vaters nehmen, um vor dem falschen Priester, der am Ufer steht und sie töten will, zu fliehen und vom Mord, dem sie beigewohnt haben, Zeugnis ab­zulegen.

Trotz ihrer angeblichen Naivität lässt sich die Szene mithin unschwer als Überleitung zu einem Thema verstehen, das Godard als Synthese der beiden Postulate in seinem Monumentalwerk zum Ausdruck bringen will: dass die Darstellung des Holocaust auch eine Neuformulierung der Beziehungen zwi­schen Filmsprache und Geschichtskonzept bedingt.

X

Als Korrelat zu seinem Anspruch der immanenten Historizität des Films hat Godard öfter auf jene Zäsur verwiesen, die der Zweite Weltkrieg auch in der Kunstgeschichte hinterlassen hat. Der Titel seines «offiziellen» Films über die Filmgeschichte, 2 fois 50 ans de cinéma (GB 1995), den er zusammen mit Anne- Marie Miéville korealisiert hat, zeugt ebenso davon wie die rhetorische Frage, die im Kapitel 3a auftaucht: «Was ist der Film? Nichts. Was will er? Alles.» Denn in den Vierzigerjahren hat sich der Film als unfähig erwiesen, auf die his­torische Wirklichkeit zu reagieren: «Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung», befindet die Off-Stimme der Histoire(s) und fügt hinzu: «Seit nun fast fünfzig Jahren verbrennt das Volk im Kinosaal seine Fantasie, um die Wirklichkeit zu wärmen. Nun rächt sich diese und verlangt nach wirklichen Tränen und wirklichem Blut. Die grossen Spielfilmregisseure haben sich als un­fähig erwiesen, die Rache zu kontrollieren, die sie zwanzigmal inszenierten.»

In einem kürzlich erschienenen Essay hat Jacques Rancière darauf hin­gewiesen, dass die Unvergleichbarkeit des Holocaust darauf zurückzuführen sei, dass er zu einer Vergangenheit gehört, die nicht teilbar ist.13 Erstmals ent­stehe mit Auschwitz die Geschichte einer Negation : der Negation von Lebens­berechtigung, die sich nicht nur in der physischen Vernichtung, sondern auch in der Zerstörung jeglicher Erinnerung äussert. Davon zu zeugen, ist die neue Herausforderung, die sich an jegliche Form der Darstellung richtet: Godard - wie Claude Lanzmann und auch Paul Celan, die er beide zitiert - teilt nicht Theodor W. Adornos Schluss, wonach die Kunst nach den Konzentrations­lagern unmöglich geworden sei. An Stelle einer kongruenten Darstellung der Ereignisse gilt es vielmehr, «die Negation eines Teils der Bevölkerung darzu­stellen». Denn es fehlt nicht an Zeugenaussagen - Primo Levi, Robert Anteime und Charlotte Delbo beschreiben mit Präzision die Geschichte ihres Über­lebens. Das Problem der Nachkriegszeit besteht deshalb darin, die Berichte, die vom Geschehen zeugen, auch in Bezug auf unsere Gegenwart zu denken und die «Unmenschlichkeit an sich mit der Menschheit in Verbindung zu bringen».

XI

Die Intuition hinsichtlich der brachliegenden Möglichkeiten der Filmsprache zeichnet sich in Godards Arbeit seit den Achtzigerjahren ab. In Sauve qui peut (la vie) (F 1979) illustrieren die Fahrradsequenzen, die in Slowmotion gedreht sind, seine ersten Versuche, die Beschreibung der Bewegung der Zeitdarstellung unterzuordnen. Seine Arbeit mit der eigentlichen Textur des filmischen Mate­rials erinnert hier noch an Antonionis Blow up (I 1967), der die Analyse seiner Bilder allerdings im Rahmen eines konventionellen Film-Noir-Dispositivs vor­nahm. Die späteren «irrationellen Schnitte» betrafen die Dissoziation von Ton und Bild, die insbesondere Prénom Carmen (F 1982) (beispielsweise während der Proben der Beethoven-Streichquartette) und Passion (das Stottern der Ge­werkschafterin) zunächst eine schwierige Rezeption bescherten. In gewisser Hinsicht lassen sich auch die Histoire(s) in dieser Kontinuität lesen. Zu Beginn des ersten Kapitels ist den zitierten Filmausschnitten mittels Überblendung wiederholt das Bild eines Schneidetischs unterlegt, auf dem eine Filmrolle vor- und rückwärts spult. Am Ende des Kapitels ib illustrieren die Bilder Etienne Jules Mareys und Eadweard Muybridges wortspielartig die These, die Mängel des Films lägen in seiner technologischen Evolution begründet, die zwischen einer analytischen Phase - Mareys Chronofotografie - und der Synthese - Lumières Cinématographe - eine signifikante Etappe übersprungen habe. Des­wegen habe der Film die Lager weder vorausahnen (wie dies Franz Kafka mit der Strafkolonie gelang) noch nachträglich heraufbeschwören können (wie dies beispielsweise Celan in der Todesfuge unternahm). Will der Film das 20. Jahr­hundert «denken», muss sich seine Sprache den Lektionen der Geschichte öff­nen. Auch in diesem Bestreben klingt indes Walter Benjamins in «Uber den Begriff der Geschichte» formulierte These mit: «Das wahre Bild der Vergan­genheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augen­blick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten. Denn die Wahrheit ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint er­kannte.»14

XII

Die einzigartige Form der Histoire(s), ihr Ausmass sowie ihr Anspruch, den Film selbst in seiner Stofflichkeit auf die Grenzen seines Potenzials zu prüfen, provozierte die amerikanische Kritik zum Vergleich mit James Joyce und Ezra Pound. Noch näher jedoch ist Godard wohl Stéfane Mallarmé, dessen moder­nistisches Projekt, das (ultimative) Buch zu schaffen, in Godards Opus mag­num zum filmischen Ausdruck kommt. So schrieb der Autor von Un coup de 185 dés jamais n’abolira le hasard beispielsweise in einem Brief: «Je suis maintenant impersonnel, et non plus Stefane, que tu as connu - mais une aptitude qu’a l’uni­vers spirituel à se voir et à se développer, à travers ce qui fut moi.»15 Godards physische Präsenz – unter zwei Lampenschirmen, die sehr indirekt auf die Brü­der Lumière verweisen; hinter einem Mikrofon, das direkt aus Orson Welles Mr. Arkadin (USA 1955) zu entstammen scheint - zeugt von einem vergleich­baren Versuch, sich sozusagen als Medium dem eigenen künstlerischen Schaf­fen zu verdingen, zumal seine körperliche Erscheinung neben den Bild- und Tonassoziationen zu einer eigentlichen Stilfigur in seinen jüngsten Werken ge­worden ist. Die Slapstick-artigen Improvisationen in Hélas pour moi (F/CH 1993), die Rolle des Oncle Jean in Prénom Carmen, aber auch die düstere Into­nation seiner Stimme - insbesondere während der Lektüre von Victor Hugos eloquentem Plädoyer für Serbien, das er in den Histoire(s) effizient als Vertei­digungsschrift der bosnischen Nation zitiert - machen deutlich, dass ihn seine Zuwendung zur Vergangenheit auch persönlich berührt.

Diese langsame Hinwendung zur eigenen Geschichte erscheint umso in­teressanter, als sie sich bereits in Sauve qui peut (la vie) erahnen lässt, dessen Herstellung mehr oder weniger mit Godards Rückkehr in die Schweiz zusam­menfällt. Nouvelle vague und Hélas pour moi sind an den Orten seiner Kind­heit gedreht, während sich JLG/JLG (F 1994) formal und thematisch als Selbst­porträt gibt. In diesem Film taucht auch zum ersten Mal eine Aufnahme aus Godards Kindheit auf, die hinsichtlich des Alters und des Ausdrucks stark an jene emblematische Fotografie eines gleichaltrigen Jungen erinnert, der zu ei­nem Symbol des Warschauer Ghettos geworden ist.16 Natürlich zielt dieses zweifellos persönlichste Zitat - das Bild aus Polen steht am Anfang des Kapi­tels 4b der Histoire(s) - nicht darauf ab, die jüdische Geschichte zu usurpieren; angesichts von Godards künstlerischem Projekt lässt sich die Anspielung auf die Warschauer Aufnahme vielmehr als ein anspruchsvoller Versuch verstehen, das audiovisuelle Medium mit seiner eigenen Verantwortung zu konfrontieren. Mehr als das Ufer des Genfersees, das als Grenzzone zwischen Land und Was­ser zum Dekor und zur Materie seiner letzten Filme geworden ist, erinnert diese Jugendaufnahme daran, dass für Godard die eigene Geschichte, die er nach sei­nen eigenen Worten der Filmgeschichte zu verdanken hat, untrennbar mit jener des Jahrhunderts verbunden ist.

Der Text entstand int Anschluss an einen Artikel, der am 7. Juli 2000 in der Neuen Zür­cher Zeitung erschienen ist. - Für Anregungen und Kritik danke ich Margrit Tröhler und Ben­jamin Straumann.

Histoire(s) du cinema, Gaumont, 4 Video­kassetten.

Walter Benjamin, «Über den Begriff der Geschichte», in: Illuminationen, Frankfurt am Main 1977, S. 251.

Jean-Luc Godard, in: «Spécial Histoire(s) du cinéma», Cahiers du Cinéma 5 37 ( 1999), S. 2.

Vgl. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk I—11, Frankfurt am Main 1983, II, S. 1028.

Vgl. André Bazin, Qu’est-ce que le ci­néma?, Paris 1985.

Vgl. Jacques Aumont, Amnésies, Fictions du cinéma d’apres Jean-Luc Godard, Paris 1999, S. 61.

Bazin (wie Anm. 6), S. 9.

Vgl. Aumont (wie Anm. 7), S. 40.

In seinem Essay «L’image immémoriale» verweist Giorgio Agamben darauf, dass die christliche Philosophie bereits im 3. Jh. n. Chr. zum Schluss gelangt ist, dass sich das Dogma der Auferstehung nicht auf den Körper be­zieht, sondern sein Bild betrifft, das trotz allen materiellen Verwandlungen seines Bezugs­objekts jeweils identisch bleibt. Jeder Bezug zur «Vergangenheit und jeder Versuch ihrer Bewahrung bedingt den Rückgriff auf ein Bild, denn nur das Bild ermöglicht die Kenntnis und die Identifikation dessen, was gewesen ist». Giorgio Agamben, «L’image immémoriale», in: ders., Image et mémoire, Paris 1998, S. 82.

Hinsichtlich dieses Aspekts von Godards Arbeit hat sich Agambens Teilnahme an der «Table ronde» in Locarno 1995 als besonders erhellend erwiesen. Vgl. eine Zusammenfas­sung seiner Intervention: Giorgio Agamben, «A propos de Jean-Luc Godard», in: Le Monde (6. Oktober 1995), S. X.

Vgl. Georges Bataille, Œuvres complètes I-XII, Paris 1979, IX, S. 103 ff.

Jacques Rancière, «La constance de l’art», in: Trafic 11 (1997), S. 40.

Benjamin (wie Anm. 3), S. 253.

Vgl. den Brief vom 14. Mai 1867 an Henri Cazalis, in: Stefane Mallarmé, Œuvres com­plètes, Paris 1998, S. 714.

Vgl. Alain Bergala, «L’Ange de l’His­toire», in: Alain Bergala (Hg.), Nul mieux que Godard, Paris 1999, S. 221.

Patrick Straumann
geb. 1964, studierte Filmwissenschaft, arbeitet als freier Filmjournalist, lebt in Paris.
(Stand: 2018)
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