Um mit einem Brief anzufangen:
«Solothurn ist hier zu Lande für die meisten Filmschaffenden noch immer eines der wichtigsten Podien (manchmal gar das Einzige), [um] ihre Arbeit vorzustellen respektive ans Publikum zu bringen. In der Berichterstattung ist diese Tatsache in den letzten Jahren immer mehr zur Nebensache geworden; da hat eine Art Wahrnehmungsverschiebung stattgefunden (nicht nur in der NZZ). Zeitungen und Fernsehen sind offenbar weniger darauf aus, diesen für die Filmer sehr wichtigen Podiumseffekt des Festivals in die Öffentlichkeit hinaus zu verbreitern. Das eh schon wuchernde Funktionärswesen in der Kultur wird da noch zelebriert, indem wir immer mehr über Veranstalter, Kommissionen, Zuschaueranalysen, Subventionspolitik, Techniktrends ... erfahren, aber kaum mehr etwas vom Objekt, worum sich der ganze Zirkus dreht: dem Film nämlich. Ohne eine lebendige Vorstellung vom aktuellen Filmschaffen durch entsprechende Information kann ich mir nur schwer vorstellen, warum sich der Durchschnittsleser für Schweizer Filmpolitik und ihre Bürokraten interessieren sollte. Für mich war im Übrigen Deine Beobachtung zum Nachwuchs», schliesst der Brief, «im Vergleich zum gestandenen Kuchen besonders interessant. Wie sieht dieser Nachwuchs wohl die gestandene Festivalberichterstattung?»
Ein zweiter Brief:
«Sehr geehrter Herr Egger, Ihre [xy]-Kritik trifft die Mängel dieses Schweizer Films im Kern. Insofern habe ich als Co-Autor des Films nichts cinzuwenden. [...] Da ich hoffe, dass Sie noch viele Schweizer Filme von mir kritisieren werden, muss ich trotzdem etwas Grundsätzliches klarstellen, [xy] ist kein Autorenfilm! Wenn Sie also durch den ganzen Artikel hindurch von den Autoren im Plural sprechen, machen Sie [N.N.] und mich verantwortlich für vieles, wofür wir überhaupt keine Verantwortung tragen, schlimmer noch, worüber wir uns beim Ansehen des fertigen Werks grün und blau ärgern! Als Drehbuchautoren hatten wir keinen Einfluss auf das Casting, auf die Kostüme, auf die Inszenierung, auf die stilistische Umsetzung des Zeitgeists und auf die Filmmusik [...]. Und schon gar nicht auf den künstlichen, «unhistorischen» Dialekt! (Wir haben beim Schreiben die Dialoge von Menschen der Fünfzigerjahre sprechen lassen!) Kommt hinzu, dass während der Dreharbeiten für den dramatischen Ablauf entscheidende Szenen fallen gelassen wurden oder so verändert wurden, dass die dramatischen Intentionen ins Gegenteil verkehrt wurden. Natürlich ist auch der Drehort [...] eine Katastrophe. Aber das war weder der Wunsch der Autoren noch des Regisseurs. Dieser Drehort wurde allein durch die Finanzierung erzwungen. [...] Sicher hat unser Drehbuch dramatische Schwächen. Aber der gedrehte Film hat sich so weit von der Vorlage und unseren Intentionen entfernt, dass [...] über das Drehbuch kaum diskutiert werden kann.» Der Brief schliesst wie folgt: «Ich bitte Sie, diesen Brief nicht als Leserbrief zu gebrauchen, da es mir widerstrebt, in der Öffentlichkeit meine Kollegen anzuschwärzen. Sie haben zum Teil fast Unmenschliches geleistet. Sind doch die Produktionsbedingungen im Schweizer Film derart unbefriedigend. Wobei ich nicht meine, dass die Kritik den Schweizer Film unter Denkmalschutz zu stellen hat!»
Mit dem exakt gleichen Datum habe ich übrigens zum selben Film eine zweite, sehr viel kürzere Zuschrift erhalten:
«Soeben habe ich Ihre Kritik gelesen und musste mich doch sehr ärgern. Eigentlich erwarte ich nicht viel, doch würde es mich ungemein freuen, wenn Sie im Stande wären, die Namen der Schauspieler in richtiger Reihenfolge zu schreiben, das würde Ihrer spitzfindigen Kritik mehr Glaubhaftigkeit verleihen.»
Der Betreffende, ein Nebendarsteller, war im Text nicht einmal erwähnt; es geht um die Bildlegende, wo infolge der Nachlässigkeit des Verleihs Namen vertauscht wurden. Bevor ich aber auf einige der oben angesprochenen Punkte eingehe, sei noch ein drittes Beispiel zitiert. Es geht mir wiederum in keiner Weise darum, nachträglich nun noch den Filmemacher blosszustellen, nachdem ich ja bereits seinen Film in der Zeitung ziemlich scharf kritisiert habe. Ich zitiere ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Stellen:
«Nach der Lektüre Ihrer Kritik über meinen Film [xy] war ich zuerst schockiert, dann verärgert. Dies nicht etwa, weil der Film nicht in der Art gelobt wurde, wie man sich dies als Realisator eines Films selbstverständlich wünscht. - Ich habe an die Kritiken der Filmseite der NZZ einen anderen Anspruch, als dass sich eine Kritik mehr oder weniger darin erschöpft, «Fehler» buchhalterisch aufzuzählen. Warum schreiben Sie fast nichts über die Geschichte des Films, über Felder (geglückt oder nicht), die der Film versucht anzugehen? Warum erfährt der Leser so wenig von den «stimmigen, einleuchtenden Momenten» oder von den Absichten, die in Ihren Augen nicht oder zu wenig eingelöst sind. An Stelle einer fundierten Auseinandersetzung, die ich sonst von Ihnen gewohnt bin, stellen Sie einen Katalog von «Fehlern», die keine sind (siehe unten), zusammen. Das sind Unkorrektheiten Ihrerseits, die ich in einer seriösen Zeitung nicht akzeptieren kann, [...] zudem [damit] zum Teil auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von mir zu Unrecht angegriffen werden. [...] Wenn man akribisch auf der Suche nach Anschlussfehlern ist, kann man den Zweitagebart und die deutschschweizerische Landschaft, die in einer Einstellung im Hintergrund vorbeizieht [die Szene spielt im Tessin], bemängeln. Nun, wie Sie wissen, ist [xy] mit sehr kleinem Budget hergestellt worden. Solche Fehler (sehr enger Drehplan!) sind sicher Konsequenzen aus diesem Umstand. Doch finde ich, dass man sich bei diesem Film an interessanteren Ort[en] verweilen könnte, wie das bis jetzt auch sehr viele Leute gemacht haben und diese Ungereimtheiten auch gar nicht festgestellt haben.»
Kunst oder Politik?
Die Zuschriften stammen alle aus der ersten Hälfte der Neunzigerjahre. Ich hätte gerne auch etwas jüngere Beispiele gegeben, aber soweit ich mich erinnere, habe ich seither keine Briefe von Filmschaffenden mehr erhalten. Weshalb dem so ist, weiss ich natürlich auch nicht. Daran, dass ich seither stets so positiv beziehungsweise so milde geschrieben hätte, dass eine Reklamation einfach nicht nötig war, kann es nicht liegen. Ich meine natürlich nicht das noble Schweigen auf einen Verriss, das ich sehr achte, weil die Betroffenen damit auf Rechtfertigungen verzichten, die ihrerseits leicht einen Anstrich von Kleinlichkeit gewinnen können. Im Übrigen reagieren Filmschaffende, dies meine Erfahrung, von ganz, ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, nur auf «negative» Kritiken. Bei den positiven scheinen sie der gutschweizerischen Devise zu folgen: Wenn man nichts sagt, wars schon recht.
Anlass für das erste Schreiben war meine Berichterstattung von den Solothurner Filmtagen, die ich dem Briefschreiber - einem Filmemacher und guten Freund von mir - auf seinen Wunsch zugeschickt hatte. Der Verfasser spricht darin einen, wie ich glaube, tatsächlich fundamentalen Unterschied zwischen Kunstschaffenden und Berichterstattern an: Ob zu Recht oder nicht, sind wir Journalisten doch eher der Auffassung, es gehe nicht an, einen Festivalbericht als reine Aufzählung des Gesehenen abzufassen. Unserer Meinung nach sollte neben den Filmen, um die es natürlich primär geht, doch auch der Anlass Gegenstand der Reflexion sein. Hier ging es zudem um einige für das Fortbestehen des schweizerischen Subventionsfilms nicht ganz, unwichtige Podiumsdiskussionen. Die Filme - zumindest die längeren - kommen in der Regel ja irgendwann auch noch ins Kino, und dann muss ohnehin noch einmal darüber geschrieben werden. Die Kommissionen und die Subventionspolitik hingegen - dies unsere Hoffnung - sind möglicherweise für die Leute mit politischem Einfluss von Interesse. Keine Antwort habe ich leider auf die letzte Frage meines Freundes, der selber zur mittleren Generation der Schweizer Filmschaffenden gehört, wie wohl der Nachwuchs die «etablierte» Festivalberichterstattung sieht.
Das Kunstwerk also und nicht die Politik, so liesse sich vereinfachend der eine Wunsch der Filmemacher an die Kritik formulieren. Der Autor des zuletzt zitierten Briefs wünscht sich seinerseits eine «fundierte Auseinandersetzung» an Stelle eines «Katalogs von »Fehlern»», von denen er zudem sagt, dass sie gar keine seien. Er ist ausserdem der Meinung, «dass man sich interessanter und produktiver über seinen Film streiten könnte». Dieser Vorschlag zu einer Streitkultur soll hier nicht weiterverfolgt werden. Ein anderer Punkt bringt uns hingegen zu einem zentralen Aspekt, der Hinweis nämlich, dass ich ja wisse, dass sein Film mit sehr kleinem Budget hergestellt worden sei. Der daraus resultierende «enge Drehplan» schafft jedoch nicht nur dem Filmemacher Schwierigkeiten, er bringt letztlich auch den Kritiker in Verlegenheit, indem er ihn nämlich um Nachsicht auf Grund von Produktionszwängen bittet. Das beständige Werben um Verständnis für die «Armseligkeit» von schweizerischen Produktionen ist nämlich eine durchaus zweischneidige Angelegenheit: Es ist doch sehr die Frage, ob das Publikum besonders motiviert wird durch die Aussicht, jetzt einen besonders kargen, bescheidenen und mit einfachsten Mitteln realisierten Film sehen zu können ...
Der Brief des Drehbuchautors erinnert daran, dass ein Film ein höchst arbeitsteiliges Produkt ist und dass die Rede vom «Autor» beispielsweise ein Notbehelf ist und in vielen Fällen einer Klärung bedürfte. Er zeigt auch, dass über einen Film zahlreiche verschiedene und durchaus gegensätzliche Interessen zum Ausdruck kommen können. Wenn auch er am Schluss sagt, dass die Produktionsbedingungen im Schweizer Film derart unbefriedigend seien, dass zwangsmässig vieles zum Scheitern verurteilt sei, bringt er uns trotz dem eben Gesagten auf einen fundamentalen Punkt. Die Ausgangslage für den Kritiker des nationalen Filmschaffens ist ja grundlegend verschieden von derjenigen des Kritikers des internationalen Films. Noch nie habe ich es erlebt, dass von der Produktion eines fremdsprachigen Films eine Reaktion auf eine Kritik gekommen wäre, und, soweit ich mich erinnere, auch noch nie aus dem deutschsprachigen Ausland. Wenn also grundsätzlich gelten mag, dass zu Hollywood mehr oder weniger jeder Blödsinn ungestraft hinausgehen darf – Sanktionen allenfalls von Verleiher- oder Kinoseite zu gewärtigen wären, die keine Anzeigen mehr schalten wollen –, so muss man sich seine Worte zu einem einheimischen Produkt tatsächlich zweimal überlegen.
Persönliche Bekanntschaften
Aus verschiedenen Gründen. Auf der Hand liegen die persönlichen. Kritiker und Filmschaffende kennen sich persönlich, nachdem sie ein paar Jahre im Geschäft gewesen sind: Das ist bei der Kleinheit der hiesigen Verhältnisse fast unausweichlich. Man lernt sich bei Drehbesuchen, Interviews, an Festivals kennen, in Gremien, in paritätisch zusammengesetzten Kommissionen. Mit vielen duzt man sich, und mit manchen ist man vielleicht sogar befreundet. Das ist der «Objektivität» des Urteils nicht förderlich, gewiss. Anderseits ist natürlich diese postulierte Objektivität ihrerseits eine Fiktion - besser wäre es in jedem Fall, mit deklarierter Subjektivität zu argumentieren. Bei Befangenheit ist der Kritiker zu grösster Vorsicht angehalten, allenfalls muss er auch in den Ausstand treten. So gibt es Filmschaffende, über deren Arbeiten ich nur noch schreibe, wenn mein Urteil mehrheitlich zustimmend ausfallen wird, um jeden Eindruck zu vermeiden, ich «verfolge» sie. Keine Schwierigkeiten habe ich hingegen damit, die Arbeit von befreundeten Filmemacherinnen und Filmemachern zu loben - wenn sie mich entsprechend überzeugt. Wenn ich Vorbehalte habe, ist es vielleicht der Öffentlichkeit gegenüber leichter, aber jedenfalls schwieriger den Filmschaffenden gegenüber. Die Filmkritikerinnen und Filmkritiker sind ja gewissermassen Auslandredaktor und Lokaljournalist in einem. Dass sie Hollywood in der Regel nicht wehtun, wenn sie dessen Erzeugnisse hohnlachend verreissen, wurde gesagt. Bei der Beurteilung des einheimischen Schaffens müssen sie jedoch nicht nur allfällige persönliche Empfindlichkeiten in Rechnung stellen. Wie die Lokalberichterstattung müssen sie mit einer breiten Leserschaft rechnen, die die geografischen, kulturellen oder politischen Umstände, in denen der Film seine Figuren zeigt, mindestens so gut wie sie kennt, wo nicht besser. Ich habe einmal gewagt, bei der Besprechung von Friedrich Kappelers Film über Gerhard Meier dessen Wohnort Niederbipp im Solothurnischen anzusiedeln, ohne diesen Sachverhalt zuvor verifiziert zu haben. Postwendend, per Telefon und per Fax, wurde mir mehr oder weniger freundlich mitgeteilt, dass Niederbipp gefälligst nach wie vor zum Kanton Bern gehöre. Das sind keine weltbewegenden Versäumnisse, gewiss. Es sind aber doch Indikatoren dafür, dass Kritik, Filmkritik zumal, nicht in irgendeinem luftleeren Raum stattfindet, sondern über die Sphäre der Kunst hinaus mit der Alltagswirklichkeit in Berührung tritt.
Mit gleicher Elle messen?
Die Nähe zum Geschehen, die Vertrautheit mit den Problemen - sie bergen natürlich die Gefahr des «tout comprendre c’est tout pardonner» in sich. Die Arbeitshypothese, unter die ich diese Ausführungen zunächst gestellt habe, geht in der Form, in der sie sich im Titel ausdrückt, auch davon aus. «Die enge Beziehung zwischen Filmschaffenden und Kritik, die für die Anfänge des neuen Schweizer Films kennzeichnend war», hiess es da, «hat sich in der Folge gelockert. War es für die Kritik zunächst darum gegangen, einer neuen <Idee> zur Durchsetzung zu verhelfen, so hätte die erreichte neue, internationale Respek- tabilität eigentlich auch verlangt, dass an die Produkte nun dieselben Massstäbe angelegt würden wie an die Weltkinematografie. Die (wieder) zunehmend beengten Verhältnisse, unter denen hier zu Lande produziert wird, lassen jedoch die Filmschaffenden aut nicht mehr von vornherein wohlwollende Kritik nervös reagieren; die Kritik ihrerseits sieht sich einem massiv gesteigerten Filmangebot gegenüber, das Eingehen auf die besonderen Umstände oftmals als zu mühsam erscheinen lässt.»
Nun, die Thesen, die hier formuliert werden, bedürften einer genaueren Überprüfung. Die «enge Beziehung zwischen Filmschaffenden und Kritik», von der eingangs die Rede war, galt gewiss zu keinem Zeitpunkt uneingeschränkt; sie lässt sich für einige der wichtigeren Repräsentanten der Kritik aber vertreten. «Gleiche Massstäbe anlegen» meint selbstverständlich, Gleiches mit Gleichem vergleichen. Warum nicht immer wieder fragen, weshalb es denn in der Schweiz nicht möglich sein solle, beispielsweise einen Film wie The Straight Story (USA 1999) zu realisieren? ln diesem Fall haben wir Glück. Yves Yersins ein Vierteljahrhundert davor entstandener Les petites fugues (1979) ist nicht nur in vielem vergleichbar, er ist in manchem sogar noch reicher ausgestaltet als der Film von David Lynch. Aber in leider gar nicht so wenigen Fällen gibt es in der Schweizer Produktion eine Einfallslosigkeit zu beklagen, die zunächst einmal nichts mit knappen finanziellen Mitteln und fehlenden Stars zu tun hat, sondern viel mit Biederkeit bei der Wahl und mit bescheidenem handwerklichem Können bei der Umsetzung des Sujets.
Das bezieht sich in erster Linie auf das Spielfilmschaffen, von dem in den letzten fünfzehn Jahren in der Tat nicht allzu viele Impulse ausgegangen sind. Fredi M. Murers Höhenfeuer (1985) ragt nicht nur als einer der künstlerisch geschlossensten Filme dieser jüngsten Epoche heraus; er ist auch wie kein anderer von Publikum und Kritik gleicherweise honoriert worden. Dabei gibt es durchaus Künstler von vergleichbarer Originalität. Einer ist Michel Rodde, ein Meister des Kurzfilms. Seine längeren Arbeiten, Le voyage de Noémie (1986) und jüngst L’amour fou (1998), lassen bei aller Poesie jedoch leider den auch nötigen «grossen Atem» vermissen. Matthias Zschokke ist ein anderer; von ihm war zuletzt Erhöhte Waldhrandgefahr (1996) von der Öffentlichkeit unbemerkt auf ein paar wenigen Leinwänden zu sehen. Seine Arbeiten bleiben aber wohl doch zu radikal in ihrer hermetischen Kunstwelt befangen. Einzigartig geblieben sind bedauerlicherweise so hervorragende künstlerische Arbeiten wie Chartres (1989) und Holozän (1992) von Heinz Bütler und Manfred Eicher.
Eher spärlich vertreten ist der Nachwuchs. Zum Teil ist es beim Versprechen eines ersten langen Films geblieben, das der zweite in keiner Weise mehr zu bestätigen vermochte, wie jüngst bei Grosse Gefühle (1999) von Christof Schertenleib nach Liebe Lügen (1995) oder, einige Jahre davor, bei Joe & Marie (1994) von Tania Stöcklin nach Georgette Meunier (1988), wie denn gerade die mit viel Anfangslorbeeren bedachten jungen Frauen enttäuscht haben. Es wird sich zeigen müssen, ob die zahlreichen Absolventinnen schweizerischer Filmschulen mit viel versprechenden Abschlussarbeiten aus jüngster Zeit nun die dadurch geweckten Erwartungen zu erfüllen vermögen.
In einzelnen Fällen ist es aber auch beim Fehlstart mit unmittelbar anschliessender Bruchlandung geblieben wie bei Geteilte Nacht (1993) von Pius Morger, einem derWortführerdes selbst ernannten Nachwuchses, damals, 1984, in Solothurn. Innovativster Kopf der aus der «Bewegung» Anfang der Achtzigerjahre hervorgegangenen Filmemacher und Filmemacherinnen ist zweifellos Samir, der sowohl im Ausland gearbeitet wie sich als Produzent etabliert hat.
Auf den auch schon wieder in die Jahre gekommenen Nachwuchs von 1984 ist derjenige der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre gefolgt. Hier wurden schon gar keine Manifeste mehr verfasst und in Solothurn vorgetragen, sondern gleich ausgewachsene Filme gemacht. Der Glücksfall heisst Nacht der Gaukler (Michael Steiner/Pascal Wälder, 1996), die penible, im Kino aber mit mehr als einem Achtungserfolg reüssierende Variante Exklusiv (Florian Froschmayer, 1999).
Zwei traditionell «starke» Schweizer Disziplinen sind der Dokumentarfilm und der kurze Animationsfilm. Hier ist der internationale Vergleich auch deshalb zulässig, weil in der Regel auch andernorts mit eher bescheidenen Budgets gearbeitet wird. Auch da gilt es zu konstatieren, dass die Filme zwar nach wie vor State of the Art repräsentieren, aber für Aufsehen haben sie im Ausland, also vor allem an den einschlägigen Festivals, in den letzten zehn, fünfzehn Jahren selten gesorgt. Darunter sind zahlreiche Filme, die ich sehr schätze, und einige, die ich sogar höchst gelungen finde. Aber nur wenige gehen ihr Sujet auf ganz ungewohnte, verblüffende oder gar verstörendc Weise an.
Hat der Wind gedreht?
Aber ich bin etwas vom Thema abgekommen. Die These des Titels hat sich als reine Hypothese erwiesen. Suggeriert wird damit ja erstens, dass die Kritik «früher» - also in den «Anfängen» des neuen Schweizer Films - so schonend mit dessen Produkten umgegangen sei, wie es sich für Hervorbringungen gehört, die dem rauen Wind der Wirklichkeit nicht ungeschützt ausgesetzt werden dürfen. Zweitens behauptet sie, dass es inzwischen anders geworden sei: In die freie Wildbahn entlassen, hätten die Filme nun eben auch bei der Kritik keine Schonung mehr zu erwarten, sondern ums nackte Überleben zu kämpfen. Doch für diese Behauptung brauchte man handfeste Belege: quantitative Untersuchungen über mehrere Jahre und am besten auch für die verschiedenen Regionen: Zürich, Bern, Basel, Ost- und Innerschweiz, um bloss in der Deutschschweiz zu bleiben.
Meines Wissens gibt es derartige Untersuchungen bisher nicht. Und an meinen eigenen Texten habe ich den Sachverhalt nicht einmal verifizieren können. Unverändert Gültigkeit hat die Tatsache, dass ich lieber begeistert bin von einer Sache, als dass ich ihr indifferent gegenüberstehe. Ich schreibe also lieber positiv als schlecht über einen Film, auch wenn es gar nicht immer einfach ist, ein Lob auch zu begründen. Verrisse hingegen betrachte ich mit zunehmendem Misstrauen. Gerade auch die eigenen. Natürlich muss man dort, wo es nicht anders geht, Misslungenes beim Namen nennen. Als junger Kritiker glaubt man aber gerne, beweisen zu müssen, wie unheimlich «kritisch» man ist und dass sich die Filmwelt künftig nun aber wohlweislich in Acht zu nehmen habe. Heute ist es vielleicht eher so, dass ich zu einem scharfen Urteil gelange, weil «es» sich immer noch nicht gebessert hat, weil immer noch die alten Fehler gemacht werden, kurz, weil die Welt einfach nichts aus meinen Kritiken hat lernen wollen...
Und sonst hat sich nichts geändert? Doch. Mindestens zweierlei: Verändert hat sich die Wahrnehmung der Filmschaffenden, mindestens diejenige der älteren - die eben die «guten alten Zeiten» noch miterlebt haben, als jeder neue Schweizer Film noch ein den Widrigkeiten des Zeitgeists abgetrotztes Ereignis war. Am letztjährigen Filmfestival in Locarno hat sich offenbar besonders Markus Imhoof über die Kritik in publizierter Form geärgert, wie sie den Schweizer Filmen zuteil wurde. Der Verband Filmregie und Drehbuch hat dann das Thema aufgenommen und cs Anfang Jahr an einer informellen Gesprächsrunde, zu der verschiedene Medienvertreter eingeladen waren, auf den Tisch gelegt. Dabei wurde deutlich, dass die Filmschaffenden natürlich nicht «gegen» Kritik an sich sind. Dass es Kritik braucht, und zwar eine öffentlich legitimierte, so unbedarft sie im Einzelfall sein mag, wird ja von keinem der Beteiligten ernsthaft in Frage gestellt. Möglicherweise ist dabei zu wenig deutlich geworden, dass sich die Filmschaffenden, wie mir einer von ihnen beim Hinausgehen sagte, vor allem gegen die Tendenz zum «Hämischen» wenden, die sie in vielen Kritiken wahrnehmen.
Wahrnehmungsprobleme
Natürlich ist das ein Wahrnehmungsproblem. Von der Kritik ist das häufig, würde ich vermuten, gar nicht so gemeint: ein flotter Spruch, eine Pointe, ein Effekt, denen eben ein bisschen Genauigkeit und damit Wahrheit und damit Anstand geopfert werden. Dazu ist zu sagen, dass es der Kritik zunächst einmal wohl immer wieder gut tut, sich zu vergegenwärtigen, dass ihr Geschäft, in erster Näherung, Anmassung ist. Sanktionierte Anmassung, gewiss, aber eben doch Anmassung. Dabei ist die Frage nach dem Recht, mit dem sie über die künstlerischen Fiervorbringungen von andern urteilt, wohl noch am einfachsten zu beantworten. Seit der Aufklärung ist der Diskurs über die Dinge und Geschälte der Kunst ja öffentlich geworden und institutionalisiert. Und seit gut zweihundert Jahren wissen wir auch, dem grossen Lessing sei Dank, dass die Kritikerinnen und Kritiker die Dinge, die sie kritisieren, nicht besser machen zu können brauchen.
Schwieriger ist die Frage nach der Legitimation der Kritik nicht über den öffentlichen Auftrag, sondern über die persönliche Kompetenz. Ich will mich dabei nicht lange bei allgemeinen Überlegungen aufhalten, sondern direkt zum Sonderfall Filmkritik übergehen. Man kann ja lange die Meinung vertreten - und mit schlagenden Beispielen belegen -, dass Kritik in erster Linie formal zu verfahren habe und erst in zweiter inhaltlich. Das Publikum will es nun einmal anders. Mit andern Worten, es will Antwort auf die Frage: Wovon handelt es? Und nicht: Wie ist es gemacht? Damit sind wir beim, wie ich es nenne, «Paradox der Filmkritik», das darin besteht, dass diese einerseits - angesichts der Materie - von geradezu überwältigender «Breitbandkompetenz» sein müsste angesichts der unendlichen Vielfalt der Themen und Gegenstände, die im Film wie in keiner andern Kunstgattung abgehandelt werden. Und anderseits - aus Gründen, die mit der Geschichte des Films zu tun haben, die aber auch im Populärcharakter des Kinos liegen - darf, etwas drastisch ausgedrückt, jeder Trottel ihr obliegen. Viel mehr als in den etablierten Kunstgattungen ist die Kritik beim Film ja Einstiegshilfe in den Journalismus, Anfängersache. Das hat natürlich wiederum damit zu tun, dass der Film, wie er im Kino zur Aufführung gelangt, ja erst gerade hundert Jahre alt ist - und dass die Geschichte des Fachs Filmkritik noch sehr viel jünger ist. (Wobei wir alle wissen, dass die Filmkritik bereits in den Zwanziger- und zumal in den Fünfziger- und Sechzigerjahren eine Qualität des Diskurses erreicht hat, von der heute leider keine Rede mehr sein kann.) Zum Trost soll uns die Hoffnung gereichen, dass mit der akademischen Etablierung des Kinos, der Filmwissenschaft, auch die Kritik profitieren möge.