Dass ausser Sprache und Landschaft, ausser persönlichen Umständen auch der Staat den Menschen beeinflusst, ist selbstverständlich. Es muss daher Gemeinsames geben. Ich weiss nicht, was es ist. Ich will es nicht wissen.
Das Gemeinsame beeindruckt mich nicht, Gemeinsamkeiten schläfern ein...
Peter Bichsel,
Des Schweizers Schweiz, 1969
In Spiel- und Dokumentarfilmen sowie verschiedenen Fernsehproduktionen setzen sich Schweizer Filmemacherinnen seit Mitte der Achtzigerjahre vermehrt mit der gesellschaftlichen Identität des Fremden und des Eigenen auseinander, indem sie über die mosaikartige Dynamik des Erzählens vielstimmige Figurenkonstellationen inszenieren. Nicht individuelle Hauptfiguren bestimmen die dramaturgische Linie dieser Filme und zentrieren die Wahrnehmung und emotionale Einbindung der Zuschauerinnen, sondern die Filmemacherinnen situieren die Figuren im sozialen Geflecht einer Gruppe, integrieren sie in ein offenes Netz von Begegnungen oder kreieren ein schillerndes Puzzle von einzelnen Porträts zu einem Thema. Ich möchte diese filmischen Ausdrucksformen hier in einer kulturwissenschaftlichen Perspektive als ästhetisches, narratives und soziales Projekt ansehen, das keine spezifisch schweizerische Realität widerspiegelt: Dezentrierte Erzählmuster ohne eindeutige Hauptfiguren stellen spätestens seit den Neunzigerjahren ein transkulturelles Phänomen dar und können in keinem nationalen Kontext verankert werden. Ebenso wenig lassen sie sich einer politischen Bewegung oder ästhetischen Schule zuschreiben, auch wenn sie durch die Filmgeschichte hindurch - wie in den Zwanziger- und Siebzigerjahren - immer wieder einem solchen Engagement dienten.
Wenn ich einem Phänomen nachspüren will, das die Grenzen der Nation, der Medienformen und Gattungen sprengt, so kann ich die Schweizer Produktionen weder als ökonomischen oder motivgeschichtlichen «Sonderfall» noch in Bezug auf die internationalen Einflüsse und Differenzen behandeln.1 Sondern: Dezentrierte Erzählmuster in Schweizer Filmen interessieren mich, weil sie an dem allgemeinen Phänomen teilhaben und das mediale Angebot - das, was Zuschauerinnen heute in der Schweiz kulturell geboten bekommen - mitbestimmen. Ausserdem nehme ich sie als Beispiele für eine Wahrnehmungsform, die auch die erzählten Geschichten beeinflusst und sie in ein quasi ethnografisches Verhältnis zur aktuellen Wirklichkeit stellt, genauer: zum aktuellen Diskurs über Wirklichkeit. Wenn, so meine These, die Zuschauerinnen die Möglichkeit erhalten, sich über die vielstimmigen kleinen Differenzen im dezentrierten Figurenmosaik mit dem Fremden im Eigenen und dem Eigenen im Fremden auf gesellschaftlicher und persönlicher Ebene zu konfrontieren, erscheint auch die Frage nach dem kulturell Spezifischen innerhalb eines globalen Phänomens in einem anderen Licht.
Als Grundlage für meine Überlegungen dienen Spielfilme wie Hinter verschlossenen Türen (Anka Schmid, 1991), Aus heiterem Himmel (Felix Tissi / Dieter Fahrer, 1992), Liebe Lügen und Grosse Gefühle (Christof Schertenleib, 1995 und 1999) oder Pas de café, pas de télé, pas de sexe (Romed Wyder, 1999). Im Dokumentarfilmbereich stütze ich mich auf II bacio di Tosca (Daniel Schmid, 1984), Dani, Michi, Renato und Max (Richard Dindo, 1987), Der Kunde ist König (Josy Meier, 1993), Babylon 2 (Samir, 1993), Klatschmohn - aus dem Leben mit Heroin (Stephan Laur, 1994), Ghetto (Thomas Imbach/Jürg Hassler, 1997) und La bonne conduite (Jean-Stéphane Bron, 1999). Doch auch der Animationsfilm Kino (Isabelle Favez, 1995) und die Fernsehserien Pascht e Lamilie (1994-1998) und Abenteuer Robinson (1999) entwickeln Erzählmuster, die keine einzelnen Figuren ins Zentrum stellen, sondern die Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen auf ein differenziertes Beziehungsgeflecht lenken oder einen Fächer von individuellen Situationen und sozialen Zusammenhängen entfalten, in welche die Figuren auf unterschiedliche Weise eingebunden sind.
Im internationalen Vergleich können wir an die Filme von Robert Altman, Jacques Rivette oder Ettore Scola denken, die seit den Siebzigerjahren als Altmeister des «Genres» gelten können. Eine jüngere Generation, zu der auch mehr Filmemacherinnen zählen, manifestierte sich in den Neunzigerjahren unter anderem mit L’âge des possibles (Pascale Ferran, F 1996), La vie ne me fait pas peur (Noémie Lvovsky, F 1999) oder Nachtgestalten (Andres Dresen, D 1999). Ähnliche Muster finden sich aber auch in den asiatischen Filmen von Wong Kar-wai, Tsai Ming-liang und Hou Hsiao-Hsien oder in Auf Streife (Minjing Gushi, Ning Ying, China 1995) und Die Bastarde von Peking (Beijing Zazhong, Zhang Yuan, China 1993). Für den Dokumentarfilm, der oft mit den Grenzen zwischen Fiktion und Nichtfiktion spielt, sind Coûte que coûte (Claire Simon, F 1996) oder Walk the Walk (Robert Kramer, F/CH 1995) zu nennen. The Blair Witch Project (Daniel Myrick/Eduardo Sanchez, USA 1999) erzielt, sozusagen vom andern Ufer her, als Fiktion, die sich dokumentarische Stilmittel zu eigen macht, einen ähnlichen Effekt. Dass mosaikartige Erzählmuster mit ihrer Tendenz zur sozio-kulturellen Beschreibung sich gerne dieser Gattungsvermischungen bedienen, scheinen auch die seit ein paar Jahren sehr beliebten «fiktional-authentischen Alltagsreportagen» wie Das wahre Leben (D 1994) oder Big Brother (NL 1998, D 1999, CH 2000) zu bestätigen. Aber auch Soap-Operas wie Emergency Room (USA, ab 1994) und die Sitcom Friends (USA, ab 1994) fügen sich in das Bild einer medialen Landschaft, das es rechtfertigt, von einem transkulturellen Phänomen zu sprechen. Obwohl es hauptsächlich die Produktionen so genannter Industrieländer betrifft, können wir davon ausgehen, dass diese im medialen Angebot beinahe auf der ganzen Welt präsent sind.
Das kulturelle Angebot
Um zu bestätigen, dass das Phänomen von den Medienkonsumentinnen auch wahrgenommen wird, müsste man den Fragen der Rezeption nachgehen: Wie viele Leute haben wo welche Filme gesehen, in welchen sozialen Kontexten, und was für Verhaltensformen entwickeln sich daraus? Auf diese Weise liesse sich das Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Deterritorialisierung des Medienmarktes einerseits und lokaler Mediennutzung andererseits im internationalen Vergleich erforschen. Man könnte so Rezeptionsprozesse als integrale Bestandteile populärkultureller Praktiken zu fassen suchen, wie dies len Ang in ihrem Plädoyer für einen kritisch ethnografischen Ansatz in den Cultural Studies verlangt: Die Konsumforschung, welche Statistiken von Einkauf, Vertrieb und Verleih für einen gegebenen geografischen Raum sowie Einschaltquoten am Fernsehen einbezieht, muss mit empirischen Rezeptionsstudien kombiniert werden. Nur auf diese Weise, so Ang, könne die Forschung ein Bewusstsein entwickeln für die relevanten Asymmetrien zwischen Produktion, Distribution und Konsum, zwischen dem Globalen und dem Lokalen.2 Für meine Untersuchung gehe ich hier jedoch von theoretischen Annahmen zum medialen Angebot aus, um ein paar Gedanken zur Zirkulation von Bildern und Tönen und zur Verbreitung von Erzählmustern zu äussern.
Zumindest in Europa haben Zuschauerinnen heutzutage die Möglichkeit, Filme aus vielen Ländern der Welt zu sehen und zu vergleichen. Vor allem in der Schweiz ist das Kinoangebot (durch relativ gut entwickelte alternative Strukturen in Verleih und Spielstätten) in vielen Städten sehr breit. Denn die Schweiz betreibt keine protektionistische Politik und unterstützt nicht nur die eigene Nischenproduktion, sondern auch andere marginalisierte Kinematografien. Die allgemeine Förderung von Filmen verbindet einen kulturellen Modus (über staatliche Unterstützung, Abkommen mit dem Fernsehen) mit einem politischen (zum Beispiel über den Trigon-Verleih) und unterscheidet sich so vom vorherrschenden industriellen Modus in grossen Produktionsländern.3 Zudem ist das Kabelfernsehen in der Schweiz stark verbreitet, der Zugang zu elektronischen Bild- und Informationsnetzen über Computer ebenfalls, und die Medien- und Filmbesprechung in der Presse ist verhältnismässig gut ausgebaut. In Bezug auf den gesamten Kulturbetrieb bietet die Schweiz als «Grossdort» (wie sie die Soziologinnen nennen) in ihren vergleichsweise kleinen Städten, die jedoch kulturell keine Provinzstädte sind, eine grosse Dichte an lokalen und internationalen Darbietungen. Diese Situation ermöglicht den Mediennutzerinnen in der Schweiz, sich an das «globale» Angebot anzuschliessen und sich in einer umfassenden Medienlandschaft, zu der auch die Reflexion über Funktion und Entwicklung der Medien gehört, zu situieren.
Mosaikartige Erzähl- und Darstellungsweisen müssten also hier zu Lande als Phänomen wahrgenommen werden können. Sie finden sich zurzeit in beinahe allen Medien und tragen bei zur Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Massenproduktion sowie zwischen deren Gebrauchswert und Bildungsanspruch. Sie sind - auch über die konkreten Figurenkonstellationen hinaus - gegenwärtig in Literatur, Film- und Videoproduktionen der verschiedensten Gattungen, im Fernsehen als Programmfluss und in gewissen seiner Sendeformen anzutreffen. In einem abstrakteren Sinne finden wir mosaikartige Präsentationsformen und das Arbeiten mit Versatzstücken in den Installationen der visuellen Kunst und in der Musik als Sampling; aber auch der Aufbau und die praktische wie künstlerische Nutzung des Internets bedienen sich oft ähnlicher dezentrierter Muster.
Die theoretische und empirische Erforschung dieses transkulturellen und transmedialen Phänomens wird durch zwei unlösbare Fragen erschwert: Wie kommt es zu Stande, und was lässt sich über seine Auswirkungen sagen? Die gegenseitige Beeinflussung von Medienformen - mit ihren je eigenen Ausdrucksmöglichkeiten und Traditionen - sowie zwischen Produktionsländern und Individuen ist eingebunden in ökonomische, ideologische und symbolische Kräfteverhältnisse. Sie wird zudem von den Auflagen der Förderungsinstitutionen wie den Fernsehstationen wesentlich mitbestimmt: wenn in Frankreich viele Kinofilme als Fernsehspiele konzipiert sind; wenn die Privatsender allgemein gerne Doku-Soaps produzieren, weil sie nicht sehr kostspielig sind; oder wenn das Deutschschweizer Fernsehen unterstützungswerten Dokumentarfilmen die obligate Länge von 52 Minuten auferlegt und verlangt, dass aus dem ursprünglichen Figurenmosaik eines Rekrutenjahrgangs in Gemachte Männer (Sibylle Ütt/Klaus Affolter, 1998) ein Einzelporträt hervorgehoben wird.
Die zweite Frage ist nicht weniger verwickelt und bleibt letztlich ebenfalls offen: Was die Leute auswählen aus der Ton- und Bilderflut des potenziellen kulturellen Angebots, lässt sich über Statistiken und empirische Rezeptionsstudien, wie sie len Ang verlangt, annähernd erforschen; die Konsumgewohnheiten von soziokulturellen Gruppen können im internationalen Vergleich transparent beschrieben werden. Doch die Praktiken und Bedeutungszuschreibungen der Zuschauerinnen und Nutzerinnen im Umgang mit den Medien sowie deren Wirkungen und Konsequenzen im spezifischen kulturellen Kontext entwischen der Analyse immer wieder - ein Problem, das Vorjahren schon Tamara Liebes und Elihu Katz in ihrer ethnografischen, komparativen Untersuchung zu Dallas, für die sie Gespräche mit fünf ethnisch-kulturell verschiedenen Gruppen geführt hatten, aufzeigten.4
Dezentrierte Erzählmuster: Ein historischer Abriss quer durch die Gattungen von Fiktion und Nichtfiktion
Unter dem Blickwinkel von Gestaltungs- und Wahrnehmungsaspekten wie auch in ihrem ethnografischen Verhältnis zur Wirklichkeit erinnern die dezentrierten Erzählmuster an den Querschnittfilm aus den Zwanzigerjahren. Die Kritiker und Theoretiker der Zeit benutzten den Begriff «Querschnittfilm» für Montageexperimente, Reportage- und Spielfilme, solange diese «die charakteristischen Ereignisse des Lebens [...]: nicht eines Menschen zufälliges Leben, sondern das typische Leben schlechthin» repräsentierten. Trotz der strengen Komposition kenne «die Szenenreihe [...] keine im voraus bestimmte Richtung, keine beabsichtigte Steigerung, kein genau bestimmtes Ziel. Es ist, als bewegten sich alle Szenen teppichartig auf der gleichen Ebene.»5 Und: um das «Gewebe des Eebens» zu spiegeln, müsse der «Faden, der die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verknüpft, [...] durch die Strassen führen».6 Diese Idee des Querschnitts scheint den Filmen von Dziga Wertow, Walter Ruttman, Alberto Cavalcanti und andern zu Grunde zu liegen. In Menschen am Sonntag von Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer (D 1929) verbindet sich der dokumentarisch-experimentelle Aspekt ihrer Grossstadtfilme mit einer fiktionalen Figurenkonstellation: In einem offenen Mosaik sind die fünf Figuren und ihre Geschichten zu Anfang des Films in die Bewegungen der Stadt Berlin verwoben. Nach und nach entsteht ein Beziehungsnetz zwischen ihnen, das schliesslich vier der jungen Leute in eine Gruppe zusammenführt; gemeinsam verbringen sie dann, wie viele andere Menschen auch, den Sonntag am nahe gelegenen Badesee.
Ein ähnliches ästhetisches und soziales Konzept taucht mit dem «film corale» im Neorealismus wieder auf, so in Domenica d’agosto (Luciano Emmer, I 1950) oder in I vitelloni (Federico Fellini, I 1953).7 Im Dokumentarfilm bleibt die Idee des Querschnitts, worin immer auch die musikalischen Kompositionsprinzipien der Symphonie mitschwingen, zum Beispiel in den Produktionen und ästhetischen Diskussionen der «britischen Schule» durch die Vierzigerjahre hindurch präsent.8 In den Sechziger- und Siebzigerjahren taucht das Konzept, in veränderter Form, verstärkt wieder auf, etwa bei Alexander Kluge, Louis Malle, Agnès Varda sowie in den Schweizer Filmen Siamo italiani von Alexander J. Seiler, June Kovach und Rob Gnant (1964), Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind von Fredi M. Murer (1974) oder Behinderte Liebe von Marlies Graf (1979). Auch der Spielfilm experimentiert in dieser Zeit erneut mit dezentrierten Mustern: so die Filme von Altman, Rivette, Scola oder René Allio. Für die Schweiz können wir an Les Arpenteurs von Michel Soutter (1972), L’invitation von Claude Goretta (1973), Jonas qui aura 23 ans dans l’an 2000 von Alain Tanner (1975) und Das Boot ist voll von Markus Imhoof (1980) denken.
ln den Achtziger- und Neunzigerjahren sind mosaikartige, assoziative Ausdrucksformen zum Inbegriff des Postmodernen geworden. Dabei zeigt sich aber gerade an diesem Beispiel, dass die mehrstimmige Ästhetik des Fragments und die eklektische Wahrnehmung von Komplexität nicht auf unsere Epoche beschränkt bleibt. Dennoch: Was zu einer bestimmten Zeit wahrgenommen und durch Bilder, Töne, Schrift umgesetzt werden kann, ist immer historisch bedingt - in einem referenziellen und in einem selbstreferenziellen Sinne -, und Filme mit dezentrierten Erzähl- und Darstellungsmustern machen nicht durchwegs dieselben kulturellen Aussagen. So lässt sich in Bezug auf die Wahrnehmung des kulturellen andern, des Eigenen und des Fremden, zwischen den Sechziger-, Siebzigerjahren und den Achtziger-, Neunzigerjahren ein Paradigmenwechsel feststellen, auf den ich noch zurückkommen werde.
Mosaikartige Präsentation in Dokumentär- und Spielfilmen
Serpenti von Daniel Walser und Oliver Martin (CH 1997) zeichnet in einer knappen Viertelstunde ein eigenwilliges Porträt einer Strasse in einem belebten populären Quartier in Rom. Der Film entfaltet ein Puzzle der Anwohnerinnen, Laden- und Barbesitzerinnen, ihrer Aktivitäten und Lebenseinstellungen. Die facettenreichen Gesprächsmomente und bunten audiovisuellen Eindrücke der Alltagsgesten wie des religiös und kulturell rhythmisierten öffentlichen Treibens stehen in einem verschachtelten Arrangement nebeneinander. In den Selbstdarstellungen der Leute (abwechslungsweise im In- und Off-Ton) kommen unterschiedliche Haltungen zum Ausdruck: Fatalismus, Ausdauer im Kampf mit den kleineren und grösseren Widerwärtigkeiten des Lebens, alltäglicher Rassismus. Probleme wie Jugendarbeitslosigkeit oder das Altwerden ohne Rente werden angetippt.
Man spürt die Nähe der Filmemacher zu den sozialen Akteuren, ihre quasi physische Präsenz. Im Kontrast dazu steht die freche Montage, in der sich die Bilder und Töne wiederholen und überlappen und sich in ein kollektives, vielstimmiges Bild der Strasse fügen. Der ethnografische Blick lässt die persönliche Faszination am alltäglichen Fremden erkennen, doch auch Distanz: Sie äussert sich zum Beispiel in der Ironie, wenn immer mal wieder in den «ungelegensten Momenten» ein Handy schrillt, wenn auf das Bild von Kindern mit Maschinenpistolen aus Plastik in einem harten Schnitt eine Prozession folgt und hier erst ein ballerndes Geräusch zu hören ist.
In Hinter verschlossenen Türen von Anka Schmid (BRD/CH 1991) stellt ein Mehrfamilienhaus in Berlin, an einer überirdischen U-Bahn-Linie gelegen, den Knotenpunkt der verschiedenen Geschichten seiner 17 Bewohner dar: ein altes, vergrämtes Hauswartsehepaar, eine allein erziehende Mutter mit zwei Teenagern, eine Männerwohngemeinschaft, ein vorwitziges kleines Mädchen, sein arbeitsloser, Kung-Fu-versessener Vater... Auch hier spielen die Geräusche eine wichtige Rolle für die Verbindung der Situationen, und unterschiedliche Stimmungsmomente überlagern sich, wenn das Geigenspiel von Sandra durch das ganze Haus erklingt; wenn irgendwo im Treppenhaus eine Türe geht, als Micha nachts nach Hause kommt; wenn der Wecker des alten Kempinski - oder ist es das Metronom von Sandra? - plötzlich aus einer der Schwarzaufnahmen tickt, die die Sequenzen punktieren und den Tag-Nacht-Rhythmus des Hauses angeben - dazu immer wieder U-Bahn-Lärm und -Bilder im Hintergrund der Szenen oder als Zwischenbilder. Die Bewegungsrichtungen der Züge schaffen analoge und kontrapunktische Übergänge zwischen den einzelnen Begebenheiten. Zudem sind die Figuren durch Begegnungen im Treppenhaus vernetzt: Auf dem Trottoir vor dem Gebäude spielen Kinder, sie werden von einem Fenster aus beobachtet, und manchmal setzt sich dann die Erzählung in dieser Wohnung fort. Die alternierende Montage schafft einen Effekt der Gleichzeitigkeit zwischen den Szenen, die dennoch nebeneinander in der Zeit voranschreiten, unterstützt von der staffettenartigen Narration, welche den Figuren in ihren alltäglichen Tätigkeiten folgt, von einem Ort zum andern oder zu einer anderen Figur. Gegen Schluss laufen alle Geschichten für einen Moment aufeinander zu: Man feiert gemeinsam den achtzigsten Geburtstag des Fotografen Kempinski. Am andern Morgen ist er tot. Die Nachricht geht durchs Haus, dann nimmt das Leben wieder seinen Lauf. Im Abspann fährt die Kamera - wie zu Anfang des Films - Häuserfassaden entlang, und wir sehen von der Hochbahn aus in andere Wohnungen, wo sich wohl ähnliche Geschichten ereignen.
Auch in diesem Film sind die Szenen auf Augenhöhe und von einem beteiligten, manchmal stark spürbaren Blickpunkt aus gefilmt und durch die Montage in ein ornamentales Arrangement zusammengefügt. Distanz und Ironie entstehen formal durch die schwarzweissen Bilder und semantisch über die Parallelität der ungleichen Situationen. Die wiederkehrenden S-Bahn-Aufnahmen und Häuserfassaden wecken die Erinnerung an die Grossstadtfilme der Zwanzigerjahre: das «andere Sehen» des Alltags in der Stadt.
Spiel- und Dokumentarfilm kreieren hier auf ähnliche Weise ein Interesse für die Figuren als kulturell verankerte andere und doch Vertraute sowie für die filmische Beschreibung des sozialen Geflechts. Auch in Sitcoms, Soap-Operas und neueren Formen der Doku- oder Real-Soaps wie Das wahre Leben, Abenteuer Robinson oder Big Brother treibt das Beziehungsgefüge und die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Positionen die Erzählung an. Nur erscheinen die Figuren darin abstrakter und typenhafter, und das Geschehen zielt stärker auf die emotionale Dramatisierung der Alltagsgesten und -Situationen.9
In den beiden oben beschriebenen Filmen entwickelt sich die Narration über eine Kette von Episoden10, die auf den konsekutiven Ablauf von Tätigkeiten in alltäglichen Szenarien und uns allen bekannten Bildern von Alltag auf bauen.11 In der Montage werden sie assoziativ und plastisch durch parallele und zirkulär wiederkehrende Momente, Bewegungen, Bild- und Tonmotive verknüpft. Neue ästhetische und semantische Beziehungen entstehen. Dabei neigt die Fiktion stärker zur Vernetzung der Figuren in der diegetischen Welt und zur inszenierten Zufallsbegegnung, während die Nichtfiktion klarer die Collage affirmiert und Brüche zulässt. Beide Filme gestalten jedoch über die sozial eingebetteten Porträts der Figuren und Akteure ein buntes, dynamisches Mosaik, welches sie ausserhalb des Films an einem einheitlichen, realen Ort verankert: eine Stadt, ein Quartier, eine Strasse, ein Haus.
Die strukturellen Anleihen zwischen dokumentarischen und fiktionalen Diskursmodi - oder, wie Christine N. Brinckmann sie nennt, die teilfiktionalen Strukturen im Dokumentär- und die entfiktionalisierenden Effekte im Spielfilm - führen zur Annäherung des Status der Bilder in Bezug auf die Wirklichkeit. Beide Gattungen zeugen von einem ethnografischen Blick für das Alltägliche, aber auch von einer experimentierfreudigen Montage- und Kameraarbeit. Sic schaffen halb fiktionale (wenn auch nicht in jedem Fall fiktive) «mögliche Welten»12, in denen die Figuren als mögliche «Personen» sehr wirklichkeitsnah erscheinen. Die fragmentarischen Eindrücke von kleinen Gesten und Interaktionen zwischen den Figuren in alltäglichen Szenarien fügen sich in eine Gesamtkomposition, die komplexe, diskontinuierliche Zusammenhänge erkennen lässt.13
Die Tendenz zur soziopolitischen Beschreibung in dezentrierten Figurenmosaiken geht einher mit einer chronikalischen Erzählhaltung14: Aus respektvoller Distanz beobachtet sie die Figuren genau, aber von aussen, in der Gegenwart; sie erklärt die Situationen nicht, bewertet sie nicht, sondern stellt sie mit Hilfe der Montage in eine Beziehung von Ähnlichkeit und Differenz. Dennoch ist sie alles andere als neutral: Sie ist deutlich spürbar in der Auswahl der Bilder und Töne, der Gestaltung des Diskurses, der Konstruktion der möglichen, imaginären Welt, welche euphorisch, ironisch oder zynisch gefärbt sein kann. Distanz entsteht auch durch die häufigen Momente, die eher Schauwert haben als Erzählfunktion und die ebenfalls die kausale Logik aufweichen: in Musik-, Tanz- oder Poesiecinlagen. Und die expressive Montage macht den Film selbst zur Performance. So bewegt sich die filmische Narration zwischen ethnografischer Beschreibung, Attraktionskino und Selbstreflexivität.
Ich gehe davon aus, dass sich die Zuschauerinnen von dieser Ausdrucksebene zum spielerischen Kombinieren verleiten lassen (auf Grund dessen, was Arnheim den «Ornamentiertrieb» nannte)15, dass sie durch semantische und plastische Assoziationen die Figuren und Situationen verknüpfen, vergleichen und differenzieren, manchmal mitten in die Szenen hineingezogen, dann wieder zum kontemplativen Schauen und Staunen an den Rand der Szene gedrängt und auf die Machart aufmerksam gemacht: zwischen Faszination und Entfami- liarisierung hinsichtlich der kleinen Differenzen des ähnlichen andern.
Die Figur als überindividueller Ausschnitt und Durchschnitt
La Nouvelle Vague était un rapport à l’imaginaire, pour utiliser le mot dans un sens convenu. Nous étions plus proche des hommes des cavernes, du mythe de la caverne en tout cas. Le rapport au réel est venu plus tard, en même temps que l’idée que le vrai imaginaire exige, pour dire les choses naïvement, de passer par le réel: tourner dans la rue, filmer sa copine, ou l’histoire de sa copine, etc.
Jean-Luc Godard, Cahiers du cinéma, April 2000
Mosaikartige Erzählungen sind meist geografisch lokalisiert und in der heutigen Gegenwart situiert, in einem Bereich zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, in der Beziehung zwischen dem, der Einzelnen und anderen Einzelnen oder einer manchmal versprengten Gemeinschaft. Die Figuren bewegen und kreuzen sich in einem sozial und räumlich eingegrenzten Gefüge, meist in einem urbanen Kontext. Der Schwerpunkt liegt auf der Reibungsfläche zwischen den Porträts der einzelnen Figuren und den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die angesprochenen Erfahrungsbereiche ebenso wie die darin angetippten sozialen Probleme appellieren an intersubjektive und transkulturelle, globale Erfahrungen, die dennoch auf die feinen Unterschiede aufmerksam machen.16
Die grossen Fragen der Zeit und des Lebens sind durch die individuellen Variationen der einzelnen Figuren und deren unterschiedliche Situationen aktualisiert. Sie lassen keine Utopien, keine bissige politische Kritik erkennen, wie dies noch in den Siebzigerjahren bei Goretta, Tanner und andern der Fall war. Die dezentrierten Filme der Neunzigerjahre haben nichts Programmatisches in Bezug auf neue Lebensformen, einen kollektiven Gedanken oder ein gemeinsames Engagement. Sie zeigen individuelle Erfahrungsmomente immer in der diversifizierten Mehrzahl und im historischen (trans)kulturellen Kontext sowie im sozialen Netz verankert.
Von ihrer Konzeption her sind die Figuren Facetten eines ausgewählten sozialen Mikrokosmos, metonymische Ausschnitte einer Gesellschaft (als angrenzende Teile in einem unfassbaren, uneinheitlichen Ganzen). Sie sind Ausschnitte, wie sie auch der Querschnittfilm formal und poetisch in die filmische Repräsentation des städtischen Alltags umzusetzen versuchte. Sie sind aber auch Ausschnitte im Sinne eines Durchschnitts: keine tragischen, keine exemplarischen Figuren, weder eindeutig positiv noch negativ gewertet oder stilisiert. Sie sind keine Aussenseiterlnnen, und wenn sie eine ethnisch oder sexuell minoritäre Gruppe vertreten, so sind sie in ihrer Ähnlichkeit und Differenz möglichst gleichberechtigt in das Gefüge der andern integriert. Auch wenn die beiden oben beschriebenen Schweizer Filme im Ausland entstanden sind, so thematisieren sie ebenso wenig wie Babylon 2, Der Kunde ist König, Ghetto, Pas de café, pas de télé, pas de sexe und andere, die im Fand gedreht wurden, das «grosse Fremde». Jenes, das Martin Schaub 1983 als Thema für eine ganze Reihe von Spiel- und Dokumentarfilmen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren feststellte.17 Sie handeln weder von der gesellschaftlichen Entfremdung, dem Fremdsein im eigenen Fand, der Sehnsucht nach der Fremde oder dem Fremden als Rätsel, noch von der Ausländerinnenproblematik. Sie situieren sich auch nicht in einer Auseinandersetzung mit der Geschichte als dem verdrängten Andern und in dem Sinne Fremden, wie dies Das Boot ist voll und andere politische Filme der Siebzigerjahre taten.
Ihr Engagement konzentriert sich vielmehr darauf, das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen, in einem vertrauten sozialen Umfeld, auszumachen: keine Identitätssuche oder wenn, dann geht sie in jenem Teil an Andersartigkeit und Ähnlichkeit, in der kleinen und manchmal auch grösseren Differenz zu den andern im Alltäglichen auf. Hier beginnt jedoch auch die Konfrontation mit der Vielfalt kultureller Identitäten, die das Globale im Spezifischen und das Spezifische im Globalen erahnen lässt oder den Austausch zwischen den Kulturen anstrebt. So zum Beispiel in Q - Begegnungen auf der Milchstrasse (Jürg Neuenschwander, 2000), in dem Viehhalter aus Mali, Burkina Faso und der Schweiz Zusammentreffen und sich den Eigenheiten des jeweiligen andern im Umgang mit seinen Tieren gegenübersehen. Im direkten Kontakt zwischen den Akteuren zeichnen sich Parallelen und grundsätzliche Unterschiede zwischen den kulturspezifischen und individuellen Positionen ab. Uber die Kontrastierung der einzelnen Porträts verortet der Dokumentarfilm zudem eines der ältesten Konsumprodukte, die Milch, in globalen wirtschaftlichen Zusammenhängen, die alle Beteiligten, wenn auch in unterschiedlicherWeise, betreffen.
Imaginäres Beziehungsnetz und «ethnische Identität»
Durch die offenen Figurenkonstellationen, die Mehrfachfokalisierung von aussen, den vergleichend «dialogischen» Aspekt von Standpunkten und Lebensformen, können sich die Zuschauerinnen durch «kreatives Verstehen»18 in ein imaginäres Beziehungsnetz involvieren mit ihren persönlichen Sympathien und Antipathien. Tun sie dies, so sind sie intellektuell und emotional als soziale Subjekte gefordert - vor allem auch durch das poetische, plastische Arrangement, die filmische Ubertragungsleistung, welche profane Alltagserfahrung ästhetisch symbolisiert und im besten Fall zu einer neuen Wahrnehmung des Vertrauten führen kann, weil sie als «künstlerische Darbietung [...] die vielfältigen Verfahrensweisen der Vergesellschaftung» aufdeckt.19
Die besprochenen Filme situieren die einzelne Figur (und eventuell also auch die Zuschauerin) in Freundschafts- und Bekanntschaftsnetzen; sie betten sie ein in heterogene Gemeinschaften zwischen dem privaten, intimen und dem öffentlichen Bereich. Für die Interpretation nehme ich hier den Gedanken von Mario Erdheim auf, dass die Familie nicht (mehr) die symbolische Einheit und den lebenslangen Kreis der Erfahrung und Begleitung für das Individuum repräsentiert. Sie bietet nicht den einzigen, fixen Referenzrahmen, sondern wird erweitert oder gar ersetzt durch das dynamische, soziale Beziehungsnetz. Dieses integriert die, den anderen, das Fremde in die eigene Kultur, in den Alltag, und räumt ihm über die parallele, zirkuläre Montage im Geflecht der Vergleiche seinen eigenen, gleichwertigen Platz ein. Denn «Kultur ist das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, sie stellt das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden dar».20 So ermöglichen diese Filme die Ausdifferenzierung einer «ethnischen Identität» zwischen Familie und Gesellschaft. Sie konstituiert sich ausserhalb der Begriffe von Klasse, Rasse, Geschlecht und Nation als psychische Struktur, «die Orientierungshilfen anbietet, indem sie die Kategorien des Eigenen und des Fremden in ein Verhältnis zueinander bringt».
Die ethnische Identität ist zwar eng verwoben sowohl mit der Sprache als auch mit der Region, in welcher die Gemeinschaft lebt, zu der das Individuum zählt, aber sie kann sich auch davon lösen und sich auf einen symbolischen Kosmos beziehen, der nicht mehr regional verankert sein muss.21
Die Auffassung von Erdheim lässt sich den Positionen annähern, die len Ang, Stephen Crofts oder Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius in der Multikulturalismus-Debatte innerhalb der Cultural Studies vertreten: Parallel zur Tendenz der Globalisierung des Marktes und zur «kulturellen Synchronisation» fordern sie die Erforschung von «transkulturellen Solidaritäten», die sich auf Grund von multikulturellen, hybriden Identitäten entfalten.22 Denn im Gegenzug zur transkulturellen Bewegung beobachten sic das Entstehen von subkulturellen und kollektiven Teilwelten, die sich im Kleinen über soziale, geografische und kulturelle («ethnische» für Erdheim) Erfahrungshorizonte bilden: Die Region, die Stadt, das Quartier, ein Lebensalter oder -Stil, eine soziokulturelle Gruppe, bieten differenzielle Einbindungsmöglichkeiten für jeden und jede Einzelne in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext. Diese Parzellierung der Nationen als kollektive, «imaginierte Gemeinschaften»23 findet in allen Industrieländern statt, und die Medien leisten das ihre zur globalen Verbreitung der neuen Gruppenidentitäten und deren imaginärer Vernetzung.
Das kulturell Spezifische
Für Paul Willemen ist ein kulturspezifisches Kino, das diese unterschiedlichen Teilwelten anspricht, prinzipiell antinationalistisch; es ist marginal und finanziell abhängig, da es auf der Ebene der Nation nicht homogenisierend wirken kann und für den internationalen Markt nicht tauglich ist.24 Hingegen scheint das transkulturelleund transmediale Phänomen derdezentrierten Darstellungsund Erzählmuster in seinen unterschiedlichen Ausdrucksformen auch das Spezifische kleiner Teilwelten zu befriedigen: Der ethnografische Blick auf das Alltägliche, die diskursive Haltung der Chronik und die differenzielle Montage ermöglichen kulturell nuancierte Aussagen. Filme, die in einem schweizerischen Dekor spielen, sprechen einen individuellen, soziopolitischen Erfahrungshorizont an, den jene Zuschauerinnen mit dem Film teilen, die sich eine ähnliche ethnische Identität konstruieren. Wenn die einen in Grosse Gefühle anhaltende Diskussionen um den Auftrag und die Existenz einer alternativen Buchhandlung führen und ein anderer sich in den Jura zurückgezogen hat, dann bietet der Film mit Sicherheit einen Wiedererkennungseffekt für eine bestimmte Gruppe und Generation - und zwar nicht nur einen authentifizierenden, sondern auch einen cinephilen, was einen Teil seiner ebenfalls kulturell gefärbten Ironie ausmacht. Er wird zum «Familienfilm», der facettenreich, von einem teilnehmenden Standpunkt aus, schweizerische Realitäten in einer bestimmten Zeit spiegelt und in die diskontinuierliche, fragmentarische und vernetzende Repräsentation von Alltagswahrnehmung übersetzt.
Man kann sich vom Spezifischen dieser Darstellungen angesprochen fühlen oder nicht, kann diesen Spiegel mögen oder nicht, es ist auf jeden Fall immer ein deformierter Spiegel, eine Mischung von Bekanntem und Unbekanntem, zwischen dem Eigenen und Fremden wie in der Konstruktion einer ethnischen Identität. Die Filme fordern ein differenziertes und relationales Wahrnehmen. Sie laden ein zur kulturellen Selbstanalyse (nicht zur Identitätssuche im Selbst und schon gar nicht im Nationalen): distanziert, doch involviert und oft ironisch über die Selbstreflexivität des Mediums. Gleichzeitig ermöglicht die enge Verbindung von transkulturellen und kulturell spezifischen Mustern - als veränderliche, instabile Inhalts- und Ausdrucksformen - die imaginäre Begegnung und den Austausch mit anderen subkulturellen Teilwelten in ihrer Ähnlichkeit und Differenz und spricht so auch globalere ethnische Identitäten an.
Haben all diese Filme deshalb einen geringeren «cultural discount», das heisst einen geringeren Attraktivitätszerfall beim Export?25 Die Frage nach der kulturellen Hegemonie, die ökonomischer, ideologischer, symbolischer Natur ist, muss im transkuhurellen Kontext neu gestellt werden. Andernfalls verfallen diese Überlegungen in einen weltfremden, «universalistischen Humanismus».26 Denn wir sollten uns daran erinnern, dass Dallas seit Mitte der Achtzigerjahre die Zuschauerinnen auf der ganzen Welt erobert hat, jedoch Fascht e Familie wohl ausserhalb der Schweiz kaum auf Interesse stösst; oder dass Short Cuts von Altman zwar uns Europäerinnen - über den Spass am Film hinaus - in eine imaginäre Auseinandersetzung über transkulturelle, ethnische Identitäten, über das Eigene und das Fremde, verwickeln kann, wohl aber weder Grosse Gefühle noch Pas de café, pas de télé, pas de sexe im Ausland je dasselbe auslösen werden. So meint auch Crofts, dass Cross-Cultural-Lesarten von Art-Cinema-Filmen und marginalisierten Produktionen schwieriger sind als für Hollywood-Produktionen, denn die heutige Welt ist eine kulturell und medial amerikanisierte.
Eine ethnografische Lektüre, die zu einem wirklichen Dialog mit anderen Kulturen führen soll, impliziert ausser dem «kreativen Verstehen» des andern, die Infragestellung des Eigenen und somit ein «doppeltes Aussenstehen».27 Kleine Teilwelten sind in ihren ethnischen Identitäten dazu wohl eher fähig als grosse, dominierende. Könnte die Schweiz als ein vielsprachiges Land mit einem dichten medialen Angebot, als ein Land, wo die kleinen Differenzen Tradition haben, nicht ein Paradies sein für die Wahrnehmung des kulturellen andern?