PETER PURTSCHERT

DAS PHÄNOMEN HÖHENFEUER

ESSAY

Erfolg

Höhenfeuer an Fredi M. Murer wurde 1985 am Festival von Locarno im inter­nationalen Wettbewerb uraufgeführt und mit dem Goldenen Leoparden aus­gezeichnet. Zudem erhielt der Film die Preise der Jungen und der Ökumeni­schen Jury. Den Preis der Ökumenischen Jury wies Fredi M. Murer einen Tag später zurück. Er konnte sich mit einem Satz zur Begründung des Entscheids nicht einverstanden erklären. Er lautete: «Der Film nähert sich subtil und vor­sichtig einer Randgruppe und zeigt auf eindringliche Art die tödliche Isolation und die Auswüchse, die nach unreflektierter Übernahme und unzeitgemässer Tradition entwachsen.»1 Die Jury der internationalen Filmkritik zeichnete Höhenfeuer «nur deshalb nicht [aus], weil sie ein solches Resultat prognosti­zierte und es deshalb vorgezogen hat, den Preis jungen, noch wenig bekannten Autoren zukommen zu lassen.»2

Höhenfeuer fand in der Folge ein zahlreiches Publikum: Mehr als 250'000 zahlende Zuschauerinnen und Zuschauer haben ihn 1985 in der Schweiz im Kino gesehen. Er wurde in sämtlichen Nachbarländern in die Studiokinos gebracht, ebenso in Grossbritannien, Belgien und Japan. In den USA wurde Alpine Fire zuerst am Festival von San Francisco gezeigt, wo auch ein Verleiher gefunden wurde, der sich aber zurückzog, nachdem auf die Anmeldung für einen Motion Picture Award (Oscar) keine Nomination durch die Academy er­folgte. Damit wurde die Kinoauswertung in den USA zwar verzögert, kam aber später doch noch zu Stande.

Seit mehr als einem Jahrzehnt nun wird Höhenfeuer von der schweizerischen Filmpublizistik als das Vorzeigebeispiel für Möglichkeiten, Berechtigung und Qualität einer schweizerischen Spielfilmproduktion gehandelt.3 Nur drei Filme haben in der Hit-Parade der Schweizerfilme von 1976 bis 19914 in der Schweiz mehr Kinobesucherinnen und -besucher erreicht: Schweizermacher (Rolf Lyssy, CH 1978) 933'000, Les petites fugues (Yves Yersin, CH 1979) 423'000 und Ein Schweizer namens Nötzli (Gustav Ehmck, CH/D 1988) 350'000. Einen Publikumserfolg in dieser Grössenordnung hat seit 1991 kein mehrheitlich in der Schweiz produzierter Spielfilm mehr gehabt. Reise der Hoffnung (Xavier Koller, CH 1990), Gewinner des Oscars für den besten nichtenglischsprachigen Film, verzeichnete im kommerziellen Kinoverleih in der Schweiz gut 100'000 Zuschauer, also nicht einmal halb so viele wie Höhenfeuer.

Einer der Gründe, warum Höhenfeuer als «Phänomen» bezeichnet wird, dürfte also das überdurchschnittliche Publikumsinteresse sein, das der Film auslöste.

Dieses Interesse wurde nicht durch eine raffinierte Werbekampagne oder Lancierungsstrategie in die Wege geleitet, sondern beruht, so man den Reaktio­nen und Kommentaren der Medien glauben kann, auf der Überzeugung, es mit einem Werk von hoher Qualität zu tun zu haben. Diese Qualität beruht nun auch meiner Ansicht nach unter anderem darauf, dass ein Autor mit künstleri­scher Raffinesse sein präzises ethnografisches Wissen und seine Erfahrung in dokumentarischer Filmgestaltung in eine fiktionale Erzählung, in eigenwilligen Bildern und Tönen, umzusetzen vermochte.

Autorenfilm

Höhenfeuer muss - so kontrovers der Begriff heutzutage auch sein mag - als Autorenfilm bezeichnet werden. Das ist schon daran zu merken, dass sich kaum jemand finden lässt, dem der Titel zwar ein Begriff ist, der aber nicht gleich­zeitig wüsste, dass es sich dabei um einen Film von Eredi M. Murer handelt. Der Autorengestus war unter den Bedingungen der Schweizer Filmbranche, wie sie sich 1983/84 präsentierten und die der Filmtheoretiker Thomas Maurer als «Manufaktur» bezeichnet, kein Nachteil.

Der Film trägt in allen Belangen, von der ursprünglichen Geschichte über die Produktion5 und Dreharbeiten, Montage und Vertonung bis hin zur Lancierung und publizistischen Begleitung die Handschrift Murers. Diese prägt die Kohärenz und Dichte der Geschichte ebenso wie die Ästhetik und die hand­werkliche Qualität des Films.

Das heisst nicht, dass der Film nicht arbeitsteilig hergestellt worden wäre: Pio Corradi (Kamera), Florian Eidenbenz (Ton), Mario Beretta (Musik), Helena Gerber (Schnitt), Greta Roderer (Ausstattung und Kostüm), Bernhard Sauter (Architekt), Mathias von Gunten (Regieassistenz), Patrick Lindenmaier (Ka­meraassistenz, Steadycam) und selbstverständlich auch die Schauspielerinnen und Schauspieler (Thomas Nock, Johanna Lier, Rolf Illig, Dorothea Moritz, Tilli Breidenbach und Jörg Odermatt) haben sich sicher mit ihren besten Mög­lichkeiten und Eigenheiten einbringen können, sich dabei aber auch auf die Arbeitsweise und künstlerische Vision Murers, seine persönliche Handschrift, eingestimmt. Drehbuchautor und Regisseur Murer hat auch ein umfassendes Storyboard des ganzen Films gezeichnet6 und bei der Suche nach Drehorten ein umfangreiches fotografisches Inventar von Bauernhäusern in verschiedenen Regionen der Schweiz zusammengetragen. Bei der Suche nach den beiden jun­gen Hauptdarstellern hat er selbst mehrere hundert noch nicht professionelle jugendliche Schauspieler gecastet.7

Ethnografische Präzision

Es lohnt in diesem Zusammenhang, Murers Dokumentarfilm Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind (CH 1974) mit Höhen­feuer zu vergleichen. Als Beispiel die Sequenz «Alpsegen»: Ein Senn ist zu sehen, dem der Hirtenhund um die Beine streicht und der den Segen durch einen Trichter singt. Die Kamera dreht sich 360 Grad um die eigene Achse. Ein Blick über das Tal, dann die Geröllhalden an der Bergseite, die Alp, Wohn- und Ökonomiegebäude im Hintergrund. Anschliessend Aufnahmen von Kindern, die im Haus durch eine Wandklappe in den Schlafraum und dann in die Betten klettern. Von draussen ist die ganze Zeit der leise Singsang des Segens zu hören. Als die Mutter das kleinste Kind ins Bett legt, ist die Kamera wieder draussen, zeigt das Fenster. Der Gesang geht zu Ende, und die Frau schliesst den Fenster­laden.

Der Blick der Kamera bleibt in den verschiedenen Einstellungen - aus den verschiedenen Distanzen - immer auf die Protagonisten bezogen. Die Kamera ist ihnen nahe, allerdings nie aufdringlich; Haus, Gegenstände und Tiere sind ebenso präsent wie die Berggipfel und Naturphänomene. Sie werden weder ignoriert noch abgefeiert und sind oft angeschnitten, aber trotzdem immer sichtbar. Hier werden Menschen gezeigt, die als Familie in einer Landschaft leben und wirtschaften, und nicht einsame Figuren, die einem gewaltigen Naturschauspiel ausgesetzt sind. Trotzdem bleiben Abgeschiedenheit und Be­drohlichkeit des Ortes immer spürbar.

Für Höhenfeuer kehrte Fredi Murer zehn Jahre später an diesen Drehort, auf dieselbe Alp im Schächental, zurück. Sie ist die Fluchtburg des Buebs, der jugendlichen Hauptfigur der Geschichte. Hier findet dieser zu sich selbst, aber auch zur körperlichen Liebe zu seiner Schwester. Die Figuren, die Präsenz der Landschaft und die Eindrücke der Natur auch in ihren magisch-geisthaften Stimmungen werden in Höhenfeuer auf eine sehr ähnliche Art und Weise über Bilder und Töne spürbar gemacht. (Auch die Klapptür, eine bauliche Beson­derheit dieser alpinen Bauernhäuser, spielt eine Rolle, ebenso wie das Beten und die Tiere.)

Für Freddy Buache sind es die präzisen Beobachtungen und atmosphärischen Schilderungen, die die Qualität von Höhenfeuer ausmachen:

Un sentiment de tragédie s’annonce à travers une lumière, un climat, une ombre, un paysage, par la matière filmique et non par la mince anecdote qui la fond. Le récit compte donc moins que les rythmes qui le parcourent, que la présence de la mon­tagne, du rocher, de l’herbe, d’une fleur, de la pluie d’un voile de brume, d’un geste banal à l’intérieur ou à l’extérieur du chalet, près de la fontaine ou à la cuisine. Le jeune arbre qui plie sous le vent ou qui tremble après l’orage en dit plus long qu’une dramatisation de l’action, parce que Murer sait lui conférer, hors de toute facilité symbolique, le rôle d’un élément du tissu narratif.8

Fredi Murer hat immer betont, Höhenfeuer könne überall zwischen Island9 und Japan spielen, es sei ihm aber auch immer klar gewesen, dass dieser Film mit ethnografischer Präzision in Szene gesetzt werden müsse, und so sei er eben wieder in der Innerschweiz, im Kanton Uri gelandet, seiner eigenen Heimat.

Die eigenen Bilder und Töne

Seit Menschengedenken gehörte das Heimwesen der gleichen Familie, der gleichen Sippe. Es war Brauch, dass jeweils der Jüngste der Stammhalter es erbte, weil so die Eltern am längsten Herr im Hause bleiben konnten. Der abgelegene Bergbauernhof lag nahe der Baumgrenze. Das meiste Land war steil. Von den darüberliegenden Bergen trugen Unwetter und Lawinen Jahr für Jahr Steine hinunter, die auf den Wiesen liegen blieben. Seit Generationen trugen sie Jahr für Jahr Steine zusammen und bauten damit Mauern und Mäuerchen in die Hänge. Die Gräben und Mulden die dahinter entstanden füllten sie mit Geröll und Humus auf, so dass im Lauf der Zeit über das ganze Land sanft ansteigende Grasterrassen entstanden.10

Selbstverständlich geht es hier um die poetisch verdichtete Beschreibung von land- und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Lebensbedingungen in den Ber­gen ansässiger Menschen. Aber man spürt zwischen den Zeilen neben einfühl­samer Bewunderung und analytischer Distanz auch feine Ironie, vielleicht auch eine Anspielung auf die Situation eines Schweizer Kulturschaffenden. Insbe­sondere wenn man in Betracht zieht, dass der Schreibende, von dem das Zitat stammt - Murer selbst - sich schon seit gut zwanzig Jahren dem Filmemachen verschrieben hatte und dabei oft gegen sehr widrige Bedingungen hat ankämp­fen müssen. Im Film wird dann aber auf diesen ironischen Unterton verzichtet. Das heisst aber nicht, dass auf Humor verzichtet wird.

Ich möchte dies anhand einer Erzählsequenz - bestehend aus einer einzigen Einstellung - aus dem letzten Drittel des Films verdeutlichen und mit einem Beispiel aus dem alten Schweizer Film vergleichen.

Die Höhenfeuer-Sequenz spielt in dem Abschnitt der Geschichte, wo der Bueb, der gehörlose Sohn der Bauernfamilie und Hauptfigur, zum zweiten Mal vom Hof verschwunden ist. Die Eltern vermissen ihn. Der Bauer liegt im Bett und spricht in halblautem Selbstgespräch und mit Stolz von seinem Sohn und dessen Stärke und Arbeitsfreude. Die Bäuerin liegt neben dim und betet leise zum heiligen Anton, dem Patron für das Wiederfinden verlorener Sachen, dann ein Vaterunser. Die Kamera «schwebt» quer über die beiden von der einen Seite zur anderen, «wendet» über dem tickenden Wecker auf dem Nachttisch, fährt zurück. In der Tonspur mischen sich Gebet und magische Vorstellungen synkretistisch und mit dem Selbstgespräch über die Alltagssorgen und den Geräu­schen zu einer poetischen Atmosphäre, die durch die ungewöhnliche Kamera­position und -bewegung noch verstärkt wird. In dieser Einstellung wird die Vertrautheit des alten Paares ebenso erfahrbar wie dessen Erstarrung und Iso­lation.

In Ueli der Knecht (Franz Schnyder, CH 1954), einem Klassiker des Schwei­zer Heimatfilms, geht es sehr lange, bis das Ehebett, das wahrhafte Zentrum der bäuerlichen Familienstruktur, ins Bild kommt, obwohl Gottheit den Roman dort beginnen lässt. Höhenfeuer, sieht man vom Prolog ab, beginnt übrigens auch dort. Schnyder inszeniert eine lange ungeschnittene Zweier-Einstellung aus halbnaher Distanz, die dann durch eine Fahrt langsam verdichtet wird. Er lässt das Paar miteinander reden - es geht um die Frage, wer als Bauernpaar die Nachfolge der beiden Alten antreten soll - und setzt dabei vor allem auf die komödiantischen Fähigkeiten des grossen Volksschauspielers Emil Heget­schweiler in der Rolle des alten Glungge-Buurs. Dabei werden die Unfähigkeit zur Entscheidung, die existenzielle Bedrohung, die Sturheit und Tragik der Alten, wenn auch taktvoll, ironisiert.

Der Dialekt hat bei Schnyder zudem den Charakter einer Kunstsprache, die weder mit der Sprache Gotthelfs - die Dialoge sind meist sehr nahe an der literarischen Vorlage oder sogar wörtlich übernommen und übersetzt - noch mit der mundartlichen Alltagssprache der Zeit oder jener der Mitte des vorigen Jahrhunderts viel zu tun hat. Zudem versuchte Schnyder, dessen Qualitäten als Regisseur, Erzähler und Produzent nicht in Abrede gestellt werden sollen, in einer durchaus kritischen, aber wertkonservativen Grundhaltung, die Aktua­lität der hundert Jahre alten Geschichte herauszuarbeiten, und blieb dabei einer moralisch-belehrenden Haltung verhaftet. Er verlässt sich dabei auf Gotthelf, einen der überragenden Epiker der deutschen Sprache, dessen Romane in seiner Zeit wohl einen unmittelbareren Eindruck gemacht haben dürften. Schnyders Filme trafen Mitte und Ende der Fünfzigerjahre auf eine Gesellschaft, die teils noch im nationalkonservativen «Eandi-Geist» der Kriegsjahre verharrte, teils von den Propagandaoffensiven des Kalten Krieges und den Modernisierungs­schüben der Nachkriegskonjunktur verunsichert wurde. In dieser Situation dürfte die vorsichtige Ironisierung eine gewisse emotionale Distanz und den Erfolg der Filme als populäre Unterhaltung befördert haben.

All dies trifft auf Höhenfeuer nicht zu. Murers Geschichte spielt in der Gegenwart und ist so angelegt, dass sie zwar den Figuren und der Handlung ein gewisses Geheimnis belässt, sich anderseits aber dem Drama der Geschichte eines konfliktuösen Generationenwechsels in der zugespitzten Situation fast totaler Abgeschiedenheit in direkter Unmittelbarkeit stellt.

«Seit Menschengedenken», «Sippe», «Baumgrenze», das tönt ja ebenfalls ver­dächtig nach Folklore, Chauvinismus, Nostalgie - kurz nach Heimat- oder Bergfilm. Diese Genrebezeichnungen lassen sich aber auf Höhenfeuer nicht anwenden. Es geht hier weder um eine heroische Auseinandersetzung mit un­gezähmter Natur und daraus folgendem Bezwingen und Domestizieren, noch um eine bukolische, beschauliche Geschichte vom natürlichen und gottgefälli­gen Leben, mit identitätsstiftendem Gemeinsinn und vaterländischem Ethos. Ein wohlwollender Kritiker hat trotzdem in seiner Filmbesprechung Max Frisch zum Thema Heimat zitiert: «Heimat ist unerlässlich, aber sie ist nicht an Ländereien gebunden. Heimat ist der Mensch, dessen Wesen wir vernehmen und erreichen. Insofern ist sie vielleicht an die Sprache gebunden.»11 In diesem Sinn hat Höhenfeuer «Heimat» oder «Wurzeln» - Murer bevorzugt diesen Be­griff. Die gesprochene respektive geschriebene Sprache spielt für die Figuren von Höhenfeuer nicht diese zentrale Rolle, auch wenn sie in den Dialogen und der dialektalen Färbung sehr präzise inszeniert und durch die Gehörlosigkeit der Hauptfigur zusätzlich problematisiert wird. Die Entwicklung des Dramas hat in Höhenfeuer ganz klar damit zu tun, dass sich die Figuren aus psycho­logischen und wirtschaftlichen Gründen und Zwängen an das Land, auf dem sie leben, gebunden fühlen. In diesem Aspekt unterscheidet sich Höhenfeuer wiederum gar nicht so sehr von Schnyders Gotthelf-Filmen.

Am Anfang von Höhenfeuer steht ein Prolog, der seinerseits die ganze Geschichte in eine kurze Sequenz poetisch verdichtet. Ein junger Bursche - der von allen so genannte sechzehnjährige Bueb - kontrolliert eingegrabene Maus­fallen, eine junge Frau - seine vier Jahre ältere Schwester Belli - arbeitet zuerst auf einem kleinen Acker, kommt dann zu ihm, und die beiden ziehen synchron und übers Kreuz je eine gefangene tote Maus aus dem unterirdischen Gang.

Dieser Prolog spielt übrigens auf dem tiefsten Punkt der Landschaftstopo­grafie, der grösste Teil der Geschichte beim und im etwas höher gelegenen Bauernhaus, der Mittelteil auf der obersten Alp, an der höchsten Stelle; das Ende findet wieder im Bauernhaus statt. Die Kamera wird das «Heimet» nie talwärts verlassen.

Zurück zum Filmbeginn: Ein Wecker schrillt, ein Hahn kräht, der Bauer steigt aus dem Bett, schaut aus dem Fenster und spricht den ersten Satz des Films: «Ich glibe, hit isch Gillewetter.» Das heisst, dass es Frühjahr und der Boden nicht mehr gefroren und feucht ist. Regen muss zwischenzeitlich aus­bleiben und später wieder fallen, denn dies garantiert ein optimales Eindringen der düngenden Jauche in die Grasnarbe. Jahreszeiten, Wetter und bäuerliche Tätigkeiten werden im Film sorgfältig und unaufdringlich miterzählt und wir­ken ihrerseits auf die Geschichte ein. Die meisten dieser Gegebenheiten sind elliptisch über Montage oder auch nur über den Ton miterzählt, erschliessen sich indirekt.

Eine weitere Qualität der Erzählweise von Höhenfeuer erschliesst sich aus der Anlage der Hauptfigur. Durch seine Gehör- und Sprachlosigkeit stellt der Bueb den Kontakt mit der Welt durch das Sehen her. Sein offener Blick ist fasziniert von visuellen Effekten, vom selbst gebastelten Fernrohr über die Lupe bis zu Spiegeln aller Art, vom Frisierspiegel der Schwester bis zum Fernglas - in den Bergen allgegenwärtig und umgangssprachlich ebenfalls Spiegel genannt, ln diesen Spielen des Buebs werden unaufdringlich die optischen Verfahren des Filmens mitreflektiert. Das Publikum wiederum achtet genauer auf den Film­ton, um zu verstehen, was der Junge alles nicht hört.

Martin Schaub fasst seinen Eindruck so zusammen:

Er [Murer] erzählt uns diese Welt in Bildern und mit Tönen, und diese erscheinen wieder als Ausdruck der Antinomie Natur - Kultur. Selbst wenn filmische Bilder so «natürlich» daherkommen wie in diesem Film, wirken sie auf den Zuschauer noch immer distanzierend, objektivierend. Murer ist sich dieses Effekts bewusst und vermeidet - mit Hilfe einer weichen Kameraführung und eines ebenso weichen Schnitts - die Erstarrung der Bilder in allegorischen Formeln.12

In Höhenfeuer gelingt es also, dem postkartengeschönten und dem nostalgisch­konservativ verbrämten herkömmlichen Bild der Schweizer Alpenlandschaft und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner eigene Bilder gegenüberzustellen. Höhenfeuer läuft deshalb nie Gefahr, zum Kitsch zu werden. Diese Bilder blei­ben nicht ausschliesslich diejenigen eines eigenwilligen Autors, der als Filme­macher immer auch ein Stück weit ein Aussenseiter gewesen ist. Inwiefern gerade dieses Aussenseitertum seinerseits die Radikalität und Stringenz von Höhenfeuer in seiner Erzählung und filmischer Umsetzung befördert oder überhaupt erst ermöglicht hat, soll hier unbeantwortet bleiben.

Ob der Erfolg beim urbanen oder zumindest in vorstädtischen Agglome­rationen Lebender von 1985 der ethnografisch-dokumentarischen Präzision, dem hohen Standard der handwerklichen Qualität der filmischen Arbeit oder der Eindringlichkeit der Geschichte zuzuschreiben ist, kann hier offen bleiben. Wahrscheinlich ist es das Zusammenwirken aller Faktoren. Jede Publikums­generation soll das wieder von neuem für sich selbst entscheiden. Martin Schaub fasst es für seine Generation so zusammen: «Nach Jahren des Strebens und Tastens erfüllte sich das Ziel des Aufbruchs: das schweizerische Bild der Schweiz. [Fredi Murer bewirkte mit Höhenfeuer] dasselbe Glücksgefühl, das erfüllte Ansprüche bescheren.»13

Universalität

In Höhenfeuer gelingt es aber nicht nur, eine fiktionale Geschichte präzise, überzeugend und eigenwillig zu erzählen, sondern die Erzählung sprengt am Ende auch den vorgegebenen Ort und bekommt universalen Charakter.

Der Filmkritiker Urs Meier hat die Frage aufgeworfen, ob Höhenfeuer wirklich ein Drama klassischen Zuschnitts sei. Der Film habe auch ihn gepackt, schreibt er, fügt dann aber hinzu, die Vergleiche mit antiken Tragödien würden einen vorwiegend realistischen Film - und in dieser Hinsicht sei der Film her­vorragend - in eine Form zwingen, die ihm fremd sei. Meier ist der Meinung, dass aus dem konkreten Leben, das so grossartig geschildert sei, nicht etwas all­gemein Gültiges herausdestilliert werden müsse.

In Höhenfeuer gibt es einen genauen Punkt, an dem die Filmerzählung um­schlägt in die allgemein menschliche Filmtragödie. Es ist die Stelle, an der Belli ihrer Mutter anvertraut, sie sei schwanger. Von da an bewegen sich die Men­schen wie auf einer Bühne.

[...] Die Abgeschiedenheit des Ortes wird endgültig zum Nirgendwo und Überall. Das alles passt zu der erdnahen, sorgsam entwickelten Geschichte etwa wie ein Zylinder auf den Kopf eines Berglers. [...] aus den Kritiken spricht ein gewaltiger Hunger nach dem Mythos, dem Magischen.14

Er bezieht sich dabei explizit auf den Artikel von Martin Schaub und endet:

Kritik aber hat die Aufgabe, dem Sog der Sehnsüchte Widerstand zu leisten, Kunst­produkte auf ihre innere Stimmigkeit und ihre äussere Funktion zu befragen. Sie leistet der Kunst keinen Dienst, wenn sie ihr falsche Hüte zugesteht, bloss weil sie Mode sind.15

Schaub ist einer der wenigen, die sich an eine - wenn auch poetisch verklausu­lierte - Aussage zum Inzest herantasten: «Die Töne locken den Zuschauer und Zuhörer auch in die Innerlichkeit der Geschichte, in ihre Natur hinein und las­sen ihn - in seinem Inneren - ein Tabu brechen, eine <Sünde> begehen, in aller Unschuld.»16 Ich selbst würde in der Interpretation nicht so weit gehen. Die Liebe der Geschwister berührt mich zwar emotional, aber ich kann mich wei­terhin als aussenstehenden Zuschauer begreifen und fühle mich nicht durch die Erzählung in eine moralische Zwickmühle gedrängt. Murer hatte nach eigenen Aussagen in einer frühen Phase des Drehbuchs zuerst eine Erzählklammer ge­plant, in der die Geschichte als Rückblende aus der Perspektive Bellis erzählt worden wäre. Belli lebt in der Stadt und hat einen fünfzehnjährigen Sohn. Eines Tages gibt sie ihm eine Geschichte zu lesen, die sie während eines mehrmona­tigen Gefängnisaufenthalts aufgeschrieben hat. Murer hat diese Idee dann verworfen. Es scheint mir auch überzeugender, auf eine chronologisch geordnete Gegenwartserzählung - mit Ausnahme einer einzigen Rückblende in die frü­here Kindheit der beiden Hauptfiguren -, auf die Wahrhaftigkeit der Beziehung zwischen Belli und dem Bueb und die Direktheit des Konflikts mit den Eltern zu setzen und mögliche Reaktionen auf Grund gesellschaftlicher Konventio­nen aus dem Film wegzulassen. So entwickelt sich die Erzählung effizient und mit Zug, die Dramatik der Ablösungsgeschichte der Generationen wird aus den eigenen Bedingungen zur Katharsis gebracht. Sie findet ein Ende und bleibt trotzdem offen.

An der Pressekonferenz nach der Uraufführung in Locarno wurde Murer gefragt, warum der Schluss des Filmes so brutal sei, nachdem sich die Liebes­geschichte so zart entwickelt habe. Er konterte, das habe er sich bei Euripides’ Tragödie Medea auch immer gefragt. Ziel seiner Arbeit sei, die ungeheuerlichen Dinge mit der grösstmöglichen Feinheit und Schönheit zu zeigen. Dem muss meinerseits nichts mehr hinzugefügt werden. Martin Schaub bezeichnet es als «die subversive Dimension dieses radikalen Films».17

Nachfolge

Höhenfeuer bleibt in mancherlei Hinsicht ein Einzelfall. Und das dürfte ein weiterer Grund sein, dass er in der Geschichte des Schweizer Films als «Phä­nomen» bezeichnet wird.

Für die beiden unisono hochgelobten Hauptdarsteller wird der Film nicht zum Sprungbrett. Der Kameramann Pio Corradi bleibt weiterhin einer der be­gehrtesten Kameramänner der Schweiz, was er zuvor schon war. Er konzent­riert sich in der Folge vorwiegend auf Dokumentarfilme, wurde vielleicht auch durch die Branchenverhältnisse dazu gezwungen. Ähnliches lässt sich von Ton­meister Florian Eidenbenz sagen. Eredi Murer dreht 1990 den eigenwilligen politischen Dokumentarfilm Der grüne Berg. Dieser handelt von Bauernfami­lien im Kanton Nidwalden, die von den Sondierbohrungen für eine Lagerstätte der Nationalen Agentur für die Entsorgung radioaktiver Abfälle betroffen sind. Erst 1999 stellt Murer mit Vollmond einen weiteren Spielfilm vor.

Höhenfeuer folgt für längere Zeit kein Film von auch nur annähernd glei­cher Qualität und Bedeutung, weder von Fredi M. Murer noch von anderen Autorinnen oder Autoren. So ist der Film nicht nur ein Höhepunkt, sondern auch das Ende einer Phase national erfolgreicher deutsch- respektive dialekt­sprachiger Spielfilmproduktionen. Es gab und gibt nachfolgende Filmemache­rinnen und Filmemacher, eine neue Generation. Diese haben aber den Kontakt zu einem auch zahlenmässig ins Gewicht fallenden Kinopublikum noch nicht gefunden.

Schweizerische Depeschenagentur, ini 0819-0959, 19. August 1985.

Urs Jaeggi, «Heimat - eine Kraft», in: Zoom 17 (1985), S. 5.

Daneben werden gelegentlich noch natio­nal und international erfolgreiche französisch-sprachige Filme von Alain Tanner, Claude Goretta, Michel Soutter und Yves Yersin er­wähnt, die vor 1984 entstanden.

Bundesamt für Statistik, Abteilung 16 (Kultur, Lebensbedingungen und Sport) und Bundesamt für Kultur: Der Schweizer Film und seine Verbreitung. Die kommerzielle Aus­wertung im Inland, Bern 1993, S. 71.

Produktion: Bernhard Lang. Kosten: 1,2 Millionen Franken. Budgeticrt waren 950000 Pranken. Die Filmförderung der schweizeri­schen Eidgenossenschaft hat davon etwa ein Drittel und die Koproduzenten Schweizer Fernsehen DRS und Westdeutscher Rundfunk WDR (an Stelle der Redaktion des ZDF, die sich nach der Stoffentwicklung vom Projekt zurückzog) haben zusammen nicht ganz die Hälfte beigetragen. Der Rest kam von kleine­ren Subventionsgebern, Stiftungen, zwei priva­ten Koproduzenten und aus Eigenleistungen. Zitiert nach Peter F. Stucki, Bei genauer Be­trachtung: Predi M. Murers Höhenfeuer, Frei­burg 1990, S. 63.

Beispiele dafür in: Benoit Peeters/Jacques Fanton I Philippe Pierpont, Storyboard: Le cinéma dessiné, Paris 1992. Ebenfalls: Martin Schaub, «An der Naht von Natur und Kultur», in: Das Magazin des Tages-Anzeigers 38 (1985), S. 30-35, hier S. 34.

Ausführliche Informationen dazu: Chris­tian Gehrig / Walter Keller, «Eredi M. Murer», in: Der Alltag 4/5 (1985).

«Im Licht, einer Stimmung, einem Schat­ten, einer Landschaft macht sich ein Gefühl von Tragödie bemerkbar, und zwar immer im filmischen Material, nie auf Grund irgendeiner dünnen Anekdote. Die Erzählung ist also weni ger wichtig als die Rhythmen, die sie durch­dringen, als das Vorhandensein eines Bergs, eines Felsens, des Grases, einer Blume, des Regens, eines Nebelschleiers, einer beiläufigen Geste, sei es im Haus oder draussen, beim Brunnen oder in der Küche. Der junge Baum, der sich unter dem Wind beugt oder der nach dem Gewitter noch zittert, ist mehr als blosse Dramatisierung der Handlung, weist Murer ihm doch - jenseits simpler Symbolhaftigkeit - die Rolle eines Elements der Erzählung zu.» Freddy Buache, Trente ans de cinéma suisse 7965-/995, Paris 1995,8. 100.

Er erwähnt zum Beispiel, während der Projektentwicklung bei einem Aufenthalt in Island einen Fjord als idealen Drehort aus­gesucht zu haben. Die Bauernfamilie wäre dort eine Fischerfamilie gewesen. Aus finanziellen Gründen habe er diese Idee nicht weiterverfol­gen können. Gehrig / Keller (wie Anm. 7).

Fredi M. Murer, Höhenfeuer, Zürich 1986, S.9.

Hans-Ulrich Schlumpf, in: Die Weltwoche 52(1985), S. 42.

Schaub (wie Anm. 6).

Martin Schaub, Film in der Schweiz, Zü­rich 1997, S. 115.

Urs Meier, «Höhenfeuer: Fragen an Film und Filmkritik», in: Zoom 20 (1985), S. 33.

Ebd.

Schaub (wie Anm. 6), S. 33.

Schaub (wie Anm. 6), S. 32.

Peter Purtschert
geb. 1958, studiert Geschichte und Filmwissenschaft an der Universität Zürich, arbeitet als Drehbuchautor.
(Stand: 2019)
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