Im Film Videodrome (CAN 1982) von David Cronenberg schiebt sich die Hauptfigur Max Renn in einer effektvollen Szene eine Videokassette in den Bauch: So sehr ist er abhängig von visuellen Reizen, dass auch sein Körper nach ihnen giert. Ivan Engler aus Winterthur, Jahrgang 1971, mag David Cronenberg. Weil das Werk des Kanadiers stets die Themen umkreist, die auch ihn, der soeben mit dem Kurzfilm Nomina Domini (CH 2000) die Filmklasse der Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst abgeschlossen hat und an den Wochenenden häufig als Video-Jockey auf Partys und an Konzerten unterwegs ist, brennend interessieren: Körperlichkeit, sozialer Körper, Verwandlung, Simulationsprozesse, das Fantastische und so weiter. Und weil auch er wie Cronenberg im Grunde Purist ist. «Ich ärgere mich jedes Mal, schaue ich MTV oder Viva, wenn ein Musikclip wie ein Kinofilm gestaltet ist. Das wird dem Medium Video nicht gerecht, verleugnet es doch dessen beschränkte Bildauflösung und suggeriert so einen Pseudo-Realitätsanspruch, den das Medium gar nicht erfüllen kann.»1 Engler argumentiert mit Marshall McLuhan, dessen Understanding Media auf seinem Nachttisch liegt (und den auch Cronenberg gerne zitiert).
Jedes Medium kann nur gewisse Sachen transportieren, eine Eisenbahn beispielsweise verfrachtet Güter und Personen. Mit seiner Low Resolution transportiert Video im Vergleich zum Film automatisch eine abstrahierte Form. Dieser ist bei der Bildgestaltung Rechnung zu tragen. Wer das nicht tut, dem fehlt das mediale Bewusstsein.
Während sich die Schweizer Jungfilmerinnen eher an traditionelleren, schlüssigeren und geschlosseneren erzählerischen Formen zu orientieren scheinen2 und also für das in der Folge umrissene Phänomen der Clip-Generation nur am Rande eine Rolle spielen, steht Ivan Engler als prototypisches Beispiel für eine ganze Reihe von Schweizer Jungfilmern3, die seit Mitte der Neunzigerjahre mit einer Bildsprache auf sich aufmerksam machen, die sehr direkt auf ihre Medien-Sozialisation schliessen lässt. Eines ist diesen Nachwuchsregisseuren gemeinsam: Sie sind nicht mehr in erster Linie mit dem Kino, sondern mit dem Fernsehen, mit MTV, mit Videoclips, -games und -kassetten gross geworden. Sie sind in einem medialisierten Umfeld aufgewachsen, in Sachen Bildern hochgradig kompetent und verfügen über ein entsprechendes theoretisches Wissen. Sie wissen, was «Zapping» oder «Sampling» heisst, und genau diese Techniken lassen sie in ihre Arbeit einfliessen. Engler: «Der Moment ist für mich entscheidend, mich interessiert die fortwährende Metamorphose. Schliesslich ist auch um uns herum alles im Fluss.»
Filmen in Zeiten, da der Erlebniswert zunehmend an Bedeutung gewinnt: Kritische Kategorien gehen da schon mal verloren respektive verlieren an Gewicht, wie Martin Schaub, auf die aktuelle Situation des Schweizer Kinos bezogen, geschrieben hat: «ln kurzer Zeit sind alle modernen aufklärerischen Positionen suspekt geworden; die Zeit der <Vordenker> ist vorbei.»4 Wer die Inflation und die Beschleunigung der Bilder und Töne mitgemacht hat, für den kann Film nicht mehr die «einmalige, alles mobilisierende Anstrengung auf ein Werk hin sein».5 Den treibt vielmehr auch die Lust am Hybriden, an der Vermischung und Auflösung von Traditionen, von Erklärungsmustern durch die Verknüpfung unterschiedlicher Diskurse, Genres und Realitäten. Bisweilen wird das Klassische dekonstruiert, indem es in einen anderen Zusammenhang gestellt oder bis zum Exzess vergegenwärtigt und überschrieben wird.
Nicht immer geschieht dies bewusst. Wirft man einen Blick auf Filme wie Florian Froschmayers Exklusiv (CH 1999) oder Nacht der Gaukler (CH 1996) von Michael Steiner und Pascal Wälder6, ist - so unterschiedlich die beiden Werke auch sind - vieles in erster Linie Spiel. Einmal ein Spiel mit Zitaten7: Diese findet man zuhauf - Bezugnahmen auf Filme (in Nacht der Gaukler beispielsweise werden Erinnerungen an The Third Man [GB 1949], Vertigo [USA 1958], Eraserhead [USA 1977], Metropolis [D 1925/26], Brazil [GB 1984], Fatal Attraction [USA 1987], A bout de souffle [F 1959] wach), auf andere Medien und Werbung, auf Comics und Videoclips, überhaupt auf alle Formen visueller Gestaltung. Design, Kleidung oder Wohnungsausstattung sind häufig codiert, Aufforderung an das Publikum, assoziative Einstiege zu finden. Die Bilder zwischen den Bildern sind zahlreich, ebenso die Kombinationsmöglichkeiten. Dies bestimmt den Look vieler Filme. Ausgiebig zitiert hat bereits Alain Tanner, doch seine Quellen waren vornehmlich literarischer Natur. Literatur hat zwar noch Platz wie das Beispiel von Nacht der Gaukler zeigt, aber als Symbol; Kafka wird nicht direkt zitiert, vielmehr handelt es sich um ein Bild eines Bildes von Kafka und seinem Herrn K., klingen doch im Werk alte Verfilmungen von Kafka-Stoffen an. Es handelt sich um den Kommentar eines Kommentars, das zentrale Merkmal einer Metaebene, auf der sich der postmoderne Diskurs mit seiner bewusst falschen Authentizität gerne bewegt.
Auch Jean-Luc Godard hat gerne Bilder zitiert. A bout de souffle ist eine Mischung unterschiedlicher (nicht nur) filmischer Diskurse und Genres, ein Mix aus Fragmentierung und Selbstreflexivität. Doch das Anliegen von «Authentizität als ethischem Schlüsselkonzept der Ara»8 war an bestimmte Bedingungen gebunden, die nicht durch die heute gerne kolportierte Anything-goes-Art einzulösen war. «Es gab einen ästhetischen Imperativ, kalkulierte Effekte zu unterlassen, atmosphärische Dichte herzustellen durch O-Ton, Originalschauplätze, «unverbrauchte» Darsteller, eine verhaltene Art der Lichtführung, um eine quasi dokumentarische Evidenz zu erreichen, so dass [...] der Fluss der Erzählung so viele Partikel wie möglich vom Ufer der Realität mit sich führte.»9 Gerade diese Bindung von Bild und Realität ist heute nicht mehr gegeben, wie der Filmwissenschaftler und -kritiker Ernie Tee in einem Text über Musikvideos zeigt. Als diese nämlich gegen Ende der Siebzigerjahre auftauchten, hat, so Tee, gerade eine Besinnung auf den Standort des bewegten Bildes stattgefunden. «Das Bild, das zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr aus dem Acetat des Films geformt wird, sondern seine Basis überwiegend in der Elektronik findet, beginnt sich langsam dem zu entziehen, was seit der Geburt des Kinos vielleicht als dessen Kern angesehen werden konnte: die Repräsentation wirklicher Personen, Geschehnisse, Handlungen; kurzum, die Repräsentation der Wirklichkeit.»10 Und weiter: «Es ist das Bewusstsein vom Zerfall der referentiellen Funktion der Bilder (eine Funktion, die direkt auf die abgebildete Wirklichkeit verweist), die durch die Musikvideos massiv bestätigt wird.»11 Der Kontext der Bilder ist vielfach ein rein medialer. Die Bilder - oft aus dem Zusammenhang gerissene Zitate - funktionieren primär als Zeichen. So ähnelt zwar das Musikvideo als Form von Found Footage vordergründig dem Experimentalfilm, aber es kommt ohne dessen dekonstruktive Strategien und ohne dessen kritischen Standpunkt aus. Beim Clip handelt es sich laut William C. Wees um eine Form der «Aneignung», die aus der «zweideutigen Natur der kinematographischen Repräsentation» Kapital schlägt.12
Das Musikvideo ist nur ein Teil der Veränderungen, die das Fernsehen in den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren durchlaufen und welche die Bildsprache und -organisation der Jungfilmer massgeblich geprägt hat. Das Fernsehen verlor in der erwähnten Periode seine werkorientierte Programmform, entwickelte sich zu einem offenen System eines Programmflusses mit den typischen Ausformungen der «Magazinisierung» und der Serialisierung. Diese Entwicklung leistete dem fragmentierten Sehen Vorschub: Im Wissen darum, dass es weitergeht, wird die Unabgeschlossenheit akzeptabel. Wer heute im Kino seine Geschichten auf vertrackte und verwickelte Weise erzählt, stösst kaum auf Widerstand. Im Gegenteil. Viele Mainstream-Filme der Neunzigerjahre sind geprägt von nichtlinearen Kausalketten und einem hohen Grad an Persönlichkeitsmetamorphosen. Die Enden sind gerne offen und zweideutig, und auch Happyends wirken öfter bedrohlich (graduell leicht unterschiedlich auch bei Nacht der Gaukler und Exklusiv). Visuelle, verbale und auditive Doppeldeutigkeiten sind zahlreich, der Tonfall ist ambivalent bis an den Rand der Unlesbarkeit. Je nach Sichtweise kann man dies als Effekthascherei oder Verfremdungseffekt bezeichnen. Das Entscheidende scheint mir dabei, dass der brechtsche Verfremdungseffekt so weit internalisiert ist, dass er lediglich ein weiteres Stilmittel ist. Ein solcher V-Effekt ist einverleibt und tragend für die Illusion. Gefühle werden nicht trotz, sondern gerade durch V-Effekte befördert.13
Durch die Entwicklung des Fernsehens haben sich kleinere Erzählbogen, Typisierungen und Schematisierungen durchgesetzt. Anfang und Ende dienen nur noch dem Ein- und Aussteigen aus dem Fluss des Geschehens. Dadurch verändert sich die innere Struktur, in der Unübersichtlichkeit geht die erzählerische Ordnung des Werks verloren. An ihre Stelle tritt die Korrespondenz mit dem Ähnlichen in anderen filmischen Formaten, die Wiedererkennung gleicher Muster wird erleichtert. «Magazin-Prinzip» und Serialisierung verstärken die Ästhetik der Gleichzeitigkeit, die mit der Schnelligkeit des Informationsflusses korrespondiert: Es geht um das ästhetische Konstrukt «Simultaneität», das Gefühl einer zeitgleichen Teilhabe an den Ereignissen in der Welt, am «Fluss des Lebens».14
Die zunehmende Kommerzialisierung, die an Stelle des Paradigmas der «Kulturveranstaltung» für das Fernsehen jenes des Marktes setzte, die damit verbundene Ausrichtung der Programme auf Unterhaltung, die veränderte Nutzung des Mediums mit einer verstärkten Selektion und Fragmentierung im Zuschauen durch ein übergrosses Angebot - dies alles hat in den letzten Jahren eine Intensivierung erfahren. Immer mehr finden sich ästhetisch aufgeladene Formen im Programm, die sich wie bei MTV nur noch auf das Programm beziehungsweise das Medium selbst beziehen. Und so tragen auch Filme immer mehr Partikel unserer eigenen Kultur- und Mediengeschichte mit sich.
Die Veränderung der Bild-Sprache zeigte sich bereits bei den Filmern der Zürcher Achtziger-Bewegung. Stand bei den früheren, politisch motivierten Videogruppen der Anspruch im Vordergrund, anderen zur Artikulation zu verhelfen, wobei eigene kreative Bedürfnisse oft ausgeblendet wurden, so begannen die Leute der Bewegung, die Möglichkeiten der elektronischen Bildverarbeitung und -manipulation zunehmend erzählerisch zu nutzen. So wurde etwa in Züri brännt (CH 1980) nicht mehr analytisch, sondern assoziativ und in einem bunten Mix montiert. Die politische Aussage sollte emotional vermittelt werden. Dokumentarisches trifft auf Satirisches, Lyrik auf Musik; gearbeitet wird mit Überblendungen, Doppelbelichtungen, Solarisationen, Zwischentiteln, Sprechblasen und anderem. So ähnlich funktionieren heute auch Werbefilme. Die Autoren des Videoladens haben bezüglich Aufweichung der Trennung von Fernsehen und Film, von Werbung und Kino vorgespurt.
Film ist für die Jungen in erster Linie Handwerk.15 «Das Visuelle muss erst mal dem Inhalt angepasst werden», sagt Steiner. Als Autoren, die ein politisches oder strategisches Konzept formulieren, verstehen sie sich kaum mehr. Im Prozess der Professionalisierung ist «der Enthusiasmus für das «Eigene» [...] weitgehend verlorengegangen»16 Natürlich wünschen sich Leute wie Oliver Rihs, dass sich ihre Filme durch eine Handschrift und ästhetischen Mehrwert auszeichnen, aber in erster Linie will die Kunst mit dem Kommerz und die Moral mit den Gesetzen des Marktes versöhnt werden. Am ausgeprägtesten ist dies bei Froschmayer der Fall. Vieles in Exklusiv ist dem Fragmentarischen, dem Heterogenen geschuldet, dem «zitierenden Formenflimmern», das laut Jean- François Lyotard zum Wesen postmodernen Denkens gehört.17
Die Tendenz zu abstrakteren Formen ist allgemein feststellbar. Dazu David Lynch:
Filme müssen abstrakter werden, denn es gibt inzwischen so viele Möglichkeiten für die Leute, sie mehr als einmal anzuschauen. Ein Film muss so aufgebaut sein, dass auch ein mehrfaches Anschauen phantastisch sein kann, dass man immer wieder in die Welt des Films zurückfällt. [...] Ich meine nicht, dass ein Film keine Geschichte haben sollte, aber darüber hinaus sollte er eine Welt kreieren oder eine Atmosphäre oder eine Komplexität oder irgend etwas anderes, um einen bei der Stange zu halten.18
Lynch zählt zweifellos zu den spürbarsten Einflüssen der jungen Schweizer Filmer. Ob man mit Rihs, Michael Steiner oder Riccardo Signoreil19 spricht: Alle schwärmen sie von ihm. «Was Lynch zu einem erneuernden Filmer macht, ist die Tatsache, dass es ihm gelingt, eine Reihenfolge von Bildern in Gang zu setzen, die sowohl vollkommen unzusammenhängend und übertrieben wirken, als auch vollkommen verständlich sind.»20 Zur Faszination von Lynchs Filmen gehört auch ihre scheinbare Einfachheit: Stets ist die Konstruktion sichtbar, und doch verfällt man ihr. Lynchs Filme sind offene Kunstwerke. Sie sind weder realistisch noch fantastisch: Sie sind Träume, aber wie immer im Traum hat die Wirklichkeit Spuren hinterlassen. Das Vertraute erscheint in ungewohnten Zusammenhängen, und dieser Prozess setzt sich bei der letzten Produktion des Films, in unserem Kopf, fort. Dabei zelebriert Lynch das Auseinanderfallen der Elemente: Seine Filme wollen gar nicht mehr als grosses Ganzes erscheinen. Vielmehr lassen sie sich als Einheiten von linearen Codes (die Geschichte des Helden, der um Identität kämpft) und Oberflächencodes im Zustand des Zerfalls als Dekonstruktion auffassen, und in diesem Prozess können wir unsere eigenen Codes kritisch überprüfen.
Diesem «Dazwischen» Herr zu werden - darin liegt auch eine Sehnsucht der jungen Schweizer. Noch befinden sie sich in der Phase des Suchens und Tastens. Dass sich Nacht der Gaukler und Exklusiv trotz aller Unterschiede letztlich beide an den Film Noir anlehnen, macht Sinn: Die Figuren und ihre Konstellationen sind archetypisch. Da ist weitgehend klar, was zu tun ist. Die Nacht der Gaukler-Macher freilich gestatteten sich in ungleich grösserem Masse eine Erweiterung des Spielraums, während Froschmayer seine Geschichte gerade runtererzählt.
Der Rückgriff auf ein Bilder- und Mythenrepertoire aus religiöser Symbolik, archaischen Vater-Sohn-Konstellationen, Themen wie Geburt, Tod, Wiedergeburt, mit dem existenzielle menschliche Erfahrungen und archetypische Konstellationen verarbeitet werden, ist allgemein beliebt. Besonders ausgiebig bedient sich der Zürcher Dominik Scherrer in seiner Kurzfilmoper Hell For Leather (CH 1998), in der sieben Motorrad fahrende Teufel ins London der Neunzigerjahre gespuckt werden. «Es geht um Sex, um Geschwindigkeit, um den Körper», gibt er zu Protokoll.21 In der Inszenierung dieser Oper freilich droht das eigentliche Material, die Konstruktion der «Bühnenpersönlichkeiten» einerseits, die Musik andererseits, durch den eigenen Effekt übertrumpft zu werden. Es ist kein Zufall, wirkt der Film wie ein überdimensionierter Clip, wird doch gerade in Musikvideos - weniger in Werbefilmen - gerne Mythenmaterial verwendet.22
Künstlichkeit ist heute nicht mehr wie bei Jean-Luc Godard oder Alexander Kluge ein Mittel der Illusionsbrechung, um traditionellen Erzählformen den Schein der «Natürlichkeit» zu nehmen, vielmehr ist es ein - vielleicht indirekter - Reflex auf die zunehmende Mediatisierung der Lebensumwelt. Im Kurzfilm Fin de siècle (CH 1998) von Jann Preuss beispielsweise wird dies direkt thematisiert. Wir sehen zu Beginn eine TV-Reporterin kurz vor der Millenniumswende in New York, die auf der Suche nach Gesichtern ist, nach jemandem, «der in diesem historischen Moment wirklich etwas zu sagen hat»23 Solange sie live sendet, sehen wir sie im grobkörnigen TV-Bild, sobald die Sendung fertig ist, sehen wir sie scharf gezeichnet auf Film. Später switcht es nochmals zurück. Dies suggeriert auf der einen Seite Echtheit, Authentizität, gleichzeitig ist der Sequenz die Künstlichkeit eingeschrieben. Denselben Umgang mit dem Medium sehen wir in Exklusiv, einem Film, der auch die Medien zum Thema hat. Dabei werden Ungenauigkeiten in Kauf genommen, bisweilen auch bewusst wie zu Beginn, wo in einer scheinbar klassischen Schuss-Gegenschuss- Sequenz ein Moment von Täuschung eingebaut ist: Erst sehen wir ein weibliches Augenpaar in Grossaufnahme, im Gegenschuss dazu eine Pistole aus Sicht der Frau; nach einem weiteren Schnitt merken wir, dass die Frau von hinten erschossen wird - es kann sich zuvor also einzig um einen Mindscreen, eine Vorstellung der Frau, gehandelt haben. In anderen Sequenzen werden wir offensichtlich ungewollt getäuscht. So sehen wir den Protagonisten, wie er aus dem Haus auf die Strasse tritt und ein heftiger Regenschauer auf ihn niederprasselt - notabene just in dem Moment, als er einen spannungsgeladenen Telefonruf erhält. Sekunden zuvor sind dureh die Fenster seiner Wohnung Sonnenstrahlen gedrungen. Sind die Fehler zum Teil dem Genre des Film Noir geschuldet, so zeigt sich bei Froschmayer, der am deutlichsten auf Hollywood aspiriert, wie sehr ein prägnanter Einsatz des Tons, ein expressiver visueller Stil und eine glatte Fernsehfilm-Dramaturgie Erwartungsnorm sind. Das vom klassischen Kino vertraute Spiel der Blicke wird schon mal unterlaufen oder durch eine andere Art der Bildgestaltung ergänzt. So scheint den Bildern oft der Rahmen zu fehlen, auch ist man nicht sicher, wo und wie eine Einstellung endet und eine neue beginnt. Ein solches Kino ist fasziniert von seiner eigenen Künstlichkeit.
Während Froschmayer einzelne Szenen vor lauter Emotionalisierungseuphorie mit Musik regelrecht zukleistert, zeigt Nacht der Gaukler, dass, wie in den Anfängen des neuen Schweizer Films, noch immer experimentelle Formlösungen aus Geldmangel entstehen können: So wissen die Macher ihr Defizit in Bezug auf den Ton durch einfallsreiche Aufbereitung zu überspielen, etwa indem der stampfende Industrial-Rock Adrian Frutigers ebenso Musik wie Geräusch ist oder indem sie ihn an Bilder von scheppernden Megafonen koppeln.
Waren aber die Spielfilme des neuen Schweizer Films24 Ausdruck von an die Realität gekoppelten Träumen und Vorstellungen, so ist die Gegenwart heute wieder kostümiert; im Extremfall ist gar der ganze Film ein von der Realität losgelöster Traum. Der Verrückte, ein zentrales Motiv im neuen Schweizer Film, ist kein revoltierender Held mehr, sondern in erster Linie Zeichen in einer Zeichenwelt. So auch der ver-rückte DJ Tim in Lilien (CH 1998)25, einem «kurzen Stück Heimatfilm» des 29-jährigen Zürchers Oliver Rihs:
«Lilien behandelt den Konflikt zwischen einer Generation, der eine idealistische, dem Aufbau und dem Kapital zugewandte Lebenshaltung innewohnt, und einer Generation, die aus jenen Wurzeln des Wohlstands spross, darin jedoch nichts als eine sinnentleerte, sterile Gesellschaft erkennen kann.»
Das Hybride des Films, seine Künstlichkeit frappiert. Man sieht schöne Bilder, raffiniertes Licht, prägnante Musik. Produzent Simon Hesse und Regisseur Oliver Rihs wollten keinen realistischen Film, sondern ein sinnliches Erlebnis schaffen. Wiederholungen, Makro- und Trickaufnahmen, Schärfen- und Perspektivenwechsel, Überblendungen, Kamerafahrten. Unklarheiten der Story werden dabei in Kauf genommen, das Visuelle ist klar übergeordnet. Visuell hat Lilien etwas zu bieten, ist der Film doch gleichzeitig romantischer Videoclip, Roadmovie, Techno-Streifen, Stummfilm, Werbefilm, Heimatfilm, Thriller, Western, Film Noir, Klamotte, Sage, Traum, Dokumentarfilm, Experimentalfilm, Comic (Akira); und stammt der Leitspruch zu Beginn von Gottfried Benn, so geht der Dank im Abspann an Peter Sloterdijk.
«Sing für mich zart, dann geb ichs mir hart!», der Untertitel von Lilien, passt perfekt zur Schweizer Clip-Generation: Der Satz ist cool und heiss zugleich, verspricht viel, ohne allzu konkret zu sein, er klingt poppig, auch unscharf genug, er emotionalisiert, funktioniert bildhaft und verfügt über die richtige Portion Pathos - da ist Weltschmerz, Sturm und Drängertum drin, da spürt man Jugend.
Bei Exklusiv oder Lilien ist die Lust an der Überwältigung der Sinne offensichtlich. Es geht darum, emotionale Hochstimmungen zu erzeugen, die nicht in erster Linie aus einem stimmigen erzählerischen Zusammenhang heraus entwickelt werden. Kriterien wie dramaturgische Plausibilität, Handlungslogik oder psychologische Stimmigkeit werden auch mal gesprengt. In Exklusiv zeigt sich dies deutlich in jener Szene, in der die Frau des Verlagsleiters erschossen wird. Da wird Emotion mit der grossen Kelle angerührt: fette Musik, Kinderaugen, schnelle Wechsel von Nahaufnahme und grösseren Kameradistanzen, kurze Beschleunigung und Verlangsamung einzelner Bilder, schneller Schnitt von dem Kaffeebecher, der nach dem Schuss fallen gelassen wird und auf den Boden knallt, zum Blut, das ins Gesicht des Kindes spritzt.
Häufig umfasst ein und derselbe Film unterschiedliche künstlerische Kodierungen, High und Low werden verquickt. Dieses Kino ist ein Konstrukt aus Farben, Formen, Bewegungen, Schnitten, die sich gegenüber dem eigentlichen Geschehen verselbständigen und eine eigene Choreografie zu entwickeln vermögen. Dramaturgische Autonomie der synästhetischen Reize führt dazu, dass das Publikum bei solch mehrfacher Kodierung die eine oder andere Aneignungsebene für sich favorisieren kann. Natürlich besteht da die Gefahr, dass sich aus diesen Filmen schnell einmal alles herauslesen lässt, weil zu viele Assoziationen möglich sind und man als Zuschauer nicht oder kaum geleitet wird. Doch cs gilt zu beachten, dass es so etwas wie eine Ahistorizität von Film gibt: Jede neue Generation muss sich das Filmemachen wieder für sich erschliessen, das Kino quasi neu erfinden, auf die eigenen Bedürfnisse und die ihrer Umwelt zuschneiden. Im Schweizer Film mit seinen traditionell schwachen Strukturen ohnehin. Viele der guten Arbeiten sind hier zu Lande von Brüchen geprägt, an den Rändern entstanden. Und an den Rändern der nationalen Filmbranche arbeiten viele der Jungen, gerade jene, die wie Signorell, Steiner oder Wälder keine Filmfachschule besucht haben, sondern Autodidakten und Quereinsteiger sind, studiert haben oder ihre Brötchen zuvor bei den Medien, dem Fernsehen, in der Werbung, im grafischen Gewerbe verdienten.
Wenngleich vor lauter Begeisterung für die Technik der Blick auf ein Thema schon mal verloren geht, so gibt cs auch inhaltliche Aspekte, die auf die Suche nach einer eigenen Sprache schliessen lassen. So ist es kein Zufall, dass die Geschichte von Lilien eng mit Kindheitserinnerung gekoppelt ist. Das passt zur Zeit: Der Held hat keine Sprache mehr, will sich seiner aber versichern. Und um die eigene Reinheit zu rekonstruieren, kehrt er in die Kindheit zurück. Lilien steht nicht alleine da, auch in Ein de siècle (am Schluss mit dem Sarah-Kay-Bild) oder Nacht der Gaukler (in den Spieldosen-Szenen) spielen Kindheit und Kindheitstraum/-trauma eine wichtige Rolle.26
Wenn die Bewusstheit auf inhaltlicher Ebene der formalen Komposition bisweilen hinterherhinkt, hat dies vielleicht auch mit der Angst zu tun, sich zu exponieren. Dazu einige Zitate aus Lilien:
«Alles geht so schnell, dass nichts mehr geht.» Oder: «Ich steh total auf solche verfickten Oberflächlichkeiten. Bin damit aufgewachsen ... Nur guck ich viel lieber zu ... Ein verpisstes Leben lang Oberfläche, und dann erschrickst du.»
Oder: «bische sind anders. Drum sind die so tief in der Tiefe ... Wir reden eh nur, weil wir uns nicht verstehen; wenn wir uns verstehen würden, würden wir nicht reden. Wie die Fische.» Die «Stummheit der bische», das Überangebot an formalen Einstiegspunkten und die unscharf umrissene Geschichte haben eines gemeinsam: Sie entziehen sich einer klaren Aussage und gaukeln dem Publikum wie dem Autor ein stummes Einverständnis vor. Versteckt hinter einem Metafilm über die eigene Generation, ist die Angst spürbar, sich inhaltlich zur Diskussion zu stellen. Oder hat es doch mehr mit dem erwähnten sprachlosen Helden zu tun? Damit, dass «in der postmodernen Erzählung (nicht nur) des Films die Person selbst negiert ist»?27
Doch die schwerer wiegenden Schwachpunkte liegen bei Filmen wie Lilien oder Exklusiv bei Drehbuch und Dialog. Bei Letzterem darf man vermuten, dass die Substanz des Drehbuchs zu hoch eingeschätzt wurde. Anstatt am Ende den Film eindampfen und verdichten zu können, musste er künstlich aufgeblasen werden, um das Attribut «abendfüllend» zu erreichen. Besonders der überlange, an David Finchers Seven (USA 1995) angelehnte Vorspann zeigt dies deutlich. Was bleibt, sind Oberflächenreize, Spektakel, schräge Figuren, bizarre Schauplätze - all das entwickelt ein vom eigentlichen Erzählstrang ablösbares Eigenleben. Die Filme sind zu schwatzhaft, und das kommt der Stummheit der Fische gleich. Doch die jungen Schweizer Filmer sind daran, sich die unbewussten Elemente anzueignen, um sie bald schon bewusst(er) verwenden zu können.
Beschleunigen könnte diesen Prozess die Schaffung eines Think Tanks oder Creative Pools, der für eine stärkere Bündelung der doch sehr heterogenen Kräfte sorgt, so wie dies in Deutschland mit der Gründung von «X Filme» von Daniel Levy, Tom Tykwer und dem Produzenten Stefan Arndt 1994 geschehen ist.28 «Durch ein Miteinander niemals still zu stehen, durch Offenheit in alle Richtungen Dinge zu bewegen und die scheinbaren Gegensätze von inhaltlicher Ernsthaftigkeit und Publikumserfolg zu verbinden», so die Zielsetzung, nachzulesen auf www.xfilme.de. Im Rahmen einer gemeinsamen Produktionsfirma sollen neue Möglichkeiten und bessere Wege gefunden werden, Filme zu entwickeln, herzustellen und zu vertreiben. Als Idee ist «X Filme» gemäss eigenen Aussagen dem ursprünglichen Modell der amerikanischen United Artists nachempfunden29: Regisseure, Autoren und Produzenten arbeiten innerhalb einer gemeinsamen Infrastruktur von der ersten Idee bis zur Auswertung inhaltlich und wirtschaftlich eng zusammen - sie schaffen sich eine eigene Heimat, sie bauen sich ein «offenes Haus». Das Konzept bewährt sich, in das Haus ziehen immer mehr Bewohner ein. Mittlerweile gibt es auch schon einen Verleih und ein Musik-Departement.
Den Arsen-Leuten schwebt Ähnliches vor: «ein Zusammenschluss von Leuten, die attraktives Kino machen wollen, einen Mix aus US- und europäischem Kino», wie Signorell meint. «Formal schwebt mir was in der Art von Magnolia (USA 1999) vor, von der Schaffung einer Identität her soll es mehr Richtung Dogma gehen. Wir wollen einen Markt eröffnen, den es noch nicht gibt. Die Leute sollen quasi in eine leere Aktie investieren.»30 Noch bleiben die Pläne allerdings so schwammig wie viele Filminhalte.31
An Selbstbewusstsein mangelt es den Jungfilmern nicht, das zeigen ihre Filme jetzt schon. Auch bei Nomina Domini von Ivan Engler ist dies nicht anders. Noch ist allerdings die lange Sponsorenliste im Abspann das Beeindruckendste am Werk. Und sein ungebrochener Wille zur grossen Geste, sein Wille, wahrgenommen zu werden. Dies zumindest ist viel versprechend.