LAURENT GUIDO

VIDEO ALS BLICKPUNKT — LAUSANNER DOKUMENTARFILME DER NEUNZIGERJAHRE

ESSAY

In Jonas et Lila, à demain (1999) entwirft Alain Tanner ein pessimistisches Bild der Entwicklung der Medien in der Gegenwart.1 Die Ausführungen der Figur Anzano - eines Filmemachers, der am Ende seiner Karriere angelangt ist - stel­len eine eigentliche Lektion in Sachen Kino dar. Der alte Mann kritisiert ins­besondere den allzu leichtfertigen Umgang, den die junge Generation mit Bil­dern pflegt - im Film repräsentiert durch Jonas und seine Digitalvideokamera. Spricht da der Regisseur durch seine Figur? Anzanos Einschätzung ist jeden­falls durchaus repräsentativ für einen helvetischen Kontext, in dem man nicht müde wird, die fehlende Erneuerung des neuen Schweizer Films zu beklagen, dessen emblematischer Vertreter Alain Tanner ist. Das Kino von Tanner und seinen Weggefährten prägte die nationale Produktion in den Sechziger- und Siebzigerjahren - was auch die nationale2 und internationale Filmgeschichts­schreibung3 hervorstreicht. Damit setzte es zwangsläufig Massstäbe für alle späteren Schweizer Filmproduktionen - sowohl in Bezug auf den Publikums­erfolg als auch auf die Anerkennung durch die internationale Kritik.

Die letzten zwanzig Jahre, in denen das Hollywoodkino seine Vormacht­stellung auf dem Weltmarkt zurückerobern konnte, halten kritische Beobachter mehrheitlich für eine Phase des Niedergangs des nationalen Kinos. Für Freddy Buache ist die Blütezeit des neuen Schweizer Films heute nur mehr «eine Er­innerung, eine Hoffnung, die von der weltweiten Krise getrübt wird».4 Buache betont den Wandel des politischen und ideologischen Umfelds, aber auch des Publikums und der Filmschaffenden: Im Gegensatz zu heute war «jene Gene­ration» noch «cinephil» gewesen und zeichnete sich durch «Subversion» aus. Martin Schaub wiederum glaubt, dass in den Achtzigerjahren ein «neues kul­turelles Klima» entstanden sei, in dem der Autorenfilm «[nicht] vermochte, [...] Schritt zu halten»; und er fügt hinzu: «Die Schonzeit war kurz gewesen.»5 Zur selben Zeit entstanden die Filmschulen6, die bis heute gemischte Reaktionen hervorrufen. Reni Mertens beispielsweise bezweifelte, dass die Schulen «Auto­ren hervorbringen» und eine «Entwicklung der Kreativität» erlauben.7 Alain Tanner seinerseits erinnert daran, dass die Filmemacher der Nouvelle Vague nicht zu Focal gegangen sind oder eine Filmschule besucht haben.8 Und Martin Schaub meint: «Unbestreitbar nehmen die Schulen einen konservativen Ein­fluss auf den Film.»9 Ähnlich pessimistisch wurden die Änderungen der eid­genössischen Filmförderung in den letzten Jahren aufgenommen. Die neue Ausrichtung in der Subventionsverteilung zeigte sich vor allem mit der Ein­führung 1997 von Succès cinéma, einer automatischen Förderabgabe, die auf dem Kinoerfolg eines Films basiert. Hinzu kamen die Einführung des Pacte de l’audiovisuel, der die Bedeutung des Fernsehens für die Filmproduktion er­heblich verstärkte. Nebst der Télévision Suisse Romande traten vermehrt auch andere Fernsehstationen als Koproduzentinnen in Erscheinung, so Planète Cable und vor allem Arte.

Die Gegenwart des Schweizer Films zeichnet sich mit anderen Worten durch einen hohen Grad der Institutionalisierung sowohl in Bezug auf die Aus­bildung als auch die Finanzierung aus. Überdies arbeiten Film und Fernsehen enger zusammen als je zuvor, sowohl was die Produktion als auch was die Ver­breitung von Filmen betrifft. Die Revision des Filmgesetzes, die für 2002 vor­gesehen ist, knüpft an diese Entwicklungen an und setzt sie fort. 1999 hat eine repräsentative Arbeitsgruppe verschiedener Filmverbände «sich einhellig für eine Totalrevision des Filmgesetzes» ausgesprochen: «Das heutige Gesetz geht von Vorstellungen aus, die durch die audiovisuelle Realität in verschiedener Hinsicht längst überholt wurde. So trägt es beispielsweise in keiner Weise der Tatsache Rechnung, dass Fernsehen und Video zu wichtigen Auswertungs­kanälen für Filme geworden sind, deren Bedeutung dem traditionellen Aus­wertungskanal Kino gleichkommt oder ihn sogar übersteigt.»10

Die Annäherung betrifft aber auch die Gestaltung der Filme. Tatsächlich greifen Filmemacher in den letzten Jahren immer häufiger auf Video zurück und weichen so die Grenze zwischen Kino und Fernsehen auch auf der for­malen Ebene auf. Besonders die Verwendung von Digitalkameras in der Film­produktion hat stark zugenommen. Die Hauptgründe für den Gebrauch von Digitalvideo sind die Handlichkeit der Kamera, die schnelle Bewegungen zu­lässt, die kleinere Equipe oder die grössere Lichtempfindlichkeit, die auch das Drehen bei geringer Helligkeit erlaubt. Diese Technik eröffnet den Filme­machern neue Möglichkeiten wie die Vervielfachung der Einstellungen zu kaum nennenswerten Kosten oder die unterbruchslose Aufnahme langer Sequenzen. Das Faz-Verfahren jedoch, das den Transfer von Video auf Filmstreifen erlaubt, ist noch immer sehr teuer und kann für einen Langfilm leicht Zehntausende von Franken kosten. Unaufmerksamkeiten beim Drehen können ausserdem viel Arbeit bei der Postproduktion und der Mischung, der Bild- oder Tonnach­bearbeitung verursachen. Tatsächlich sind die unsichtbaren Spezialeffekte der Nachbearbeitung - Korrigieren, Hinzufügen, Löschen, Kalibrieren von Licht, Farben oder Bilddichte - kostspielig und erfordern äusserst qualifizierte Tech­niker. Video reduziert zwar die Drehkosten, kann jedoch eine lange und auf­wendige Postproduktion nach sich ziehen.

Video - eine neue Ästhetik?

In Jonas et Lila, à demain kristallisiert sich die Kritik an den neuen Drehtech­niken in der Begegnung mit Jonas’ Mini-Digitalvideokamera heraus. Video stellt in Tanners Film den Ausdruck einer mediatisierten Welt dar, in der Filme­machen in Reichweite aller liegt und nicht unbedingt Resultat eines durchdach­ten Konzepts sein muss. Insbesondere die Möglichkeit einer Vielzahl von Auf­nahmen scheint den Verfechtern eines Kinos im engeren Sinne - wie Anzano im Film Tanners - Probleme zu bereiten. Eine ganze Ästhetik der Inszenierung, der Einstellung und des Bildausschnitts, die einem spezifischen Blickpunkt innerhalb der Erfordernisse des Filmdispositivs entspringen, wird ihrer Ansicht nach durch die Leichtigkeit des Drehens mit Video und die Menge der Aufnah­men über den Haufen geworfen.

Dieser Behauptung fehlt es jedoch an historischer Perspektive. Der Ge­brauch von Video im Bereich des Films beginnt nicht erst mit der «digitalen Revolution». Schon Ende der Sechzigerjahre nutzten verschiedene militante Filmemacher, die häufig im Kollektiv arbeiteten und politische Überzeugungen sowie den Willen zum Experiment teilten, diese Technik.11 In der Schweiz gibt es seit langem Gruppen von Videomacherinnen, deren Geschichte es noch zu schreiben gilt (der Videoladen oder die Videowerkstatt in Zürich, die Video­genossenschaft in Basel). In jüngster Zeit wiederum haben die Videoarbeiten von Deutschschweizer Filmemachern wie Thomas Imbach oder Clemens Klopfenstein den Pessimismus der Videokritiker Lügen gestraft.12 Die Videasten der französischen Schweiz hingegen warten noch weit gehend auf ihre Ent­deckung.

Die Werke der Lausanner Filmemacher, die hier zur Sprache kommen, ver­bindet kein einheitlicher Stil. Ihre Regisseure zeichnen sich nicht durch einen gemeinsamen Bezug, eine verbindende Idee oder Ästhetik aus. Auch sind sie meines Erachtens nach weder repräsentativ noch aussergewöhnlich. Um über ein so weites Feld wie den Film in der französischen Schweiz und eine so lange Zeit wie die vergangenen zwei Jahrzehnte grundlegende Erkenntnisse vorzu­legen, wäre eine grössere Distanz und eine Ausweitung des Forschungsfelds von Nöten und damit die Arbeit eines Historikers, was nicht mein Anspruch ist. Ich möchte hier einfach die Gemeinsamkeiten einer Reihe von jüngeren Dokumentarfilmen vorstellen und damit einen Beitrag dazu leisten, Interessen und Methoden filmischer Praxis des jungen Schweizer Films der Neunziger­jahre herauszuschälen. Dass keine Spielfilme behandelt werden, bedeutet nicht, dass diese in der Produktion bedeutungslos wären. Doch soll hier die Relevanz des Dokumentarfilmgenres in der Westschweiz im Zentrum stehen.

Ausgewählt habe ich einerseits drei Mitglieder des Videokollektivs Climage - Alex Mayenfisch, Fernand Melgar und Stéphane Goël -, andererseits die Filmemacher Jean-Stéphane Bron und Lionel Baier, die ausschliesslich auf Mini-Digitalvideo drehen. Die verschiedenen Werdegänge dieser Filmer be­legen sowohl die Effizienz der Filmschulausbildung - Bron hat die Ecole can­tonale d’art in Lausanne absolviert - als auch die anhaltende Wichtigkeit des «learning on the job»: Assistenzen für Baier, die Arbeit im Kollektiv für die Mitglieder von Climage. Unweigerlich finden sich im Abspann ihrer Filme die­selben Geldgeber: das Bundesamt für Kultur, die Télévision Suisse Romande und die Loterie romande sowie Institutionen auf Gemeinde- oder Kantons­ebene wie die Fondation Vaudoise pour le Cinéma oder ausländische Fernseh­sender wie Arte. Die gemeinsame Subventionierung durch das Fernsehen und öffentliche Gelder zeigt, dass sich dieses Filmschaffen ganz klar innerhalb des bereits angesprochenen institutionellen Rahmens bewegt. Die Dauer der Filme entspricht im Allgemeinen den Normen der «Fernsehkompatibilität», weist doch die Mehrheit das Standardformat von 52 Minuten auf. Die Geschichte des Climage-Kollektivs widerspiegelt ferner die Entwicklung der Videoproduktion in den Achtziger- und Neunzigerjahren.13 Zu den grundlegenden Prinzipien dieser 1985 gegründeten Gruppe gehörte die Zusammenarbeit mit Künstlern ausserhalb des Filmbereichs - wie Fernsehen, Theater, Musik, bildende Kunst usw. - sowie Aktivitäten zur Förderung und Verbreitung von Kultur. Nach und nach verlor sich jedoch diese multimediale Ausrichtung, und Climage konzent­rierte sich stärker auf die Produktion audiovisueller Werke, das heisst auf vom Fernsehen koproduzierte Dokumentarfilme. Trotzdem hat die Gruppe gewisse Angewohnheiten des Kollektivs beibehalten: Man hilft sich in wechselnden Rollen gegenseitig aus, als Cutter, Ko-Drehbuchschreiber, ausführender Pro­duzent usw.

Politik und Gesellschaft

Gemeinsam ist den ausgewählten Filmen, dass sie eine Problematik von sozia­ler oder politischer Tragweite behandeln, während sie sich in Bezug auf das Thema oder den Blickpunkt mitunter stark unterscheiden. Jeder der drei Dokumentarfilmer von Climage scheint sich auf einen bestimmten Bereich spezia­lisiert zu haben: Goël wählte die Konfrontation der Bauernwelt mit der Mo­dernisierung, Melgar die Beziehung Schweizer/Ausländer und Mayenfisch die Arbeitswelt.

In A l’ouest du Pécos (1993) erzählt Stéphane Goël das Scheitern von zwei­hundert Westschweizer Bauern, die 1892 in ein trockenes Tal in New Mexico USA auswanderten. Das ausgehende 19. Jahrhundert steht dabei für eine Phase der industriellen Modernisierung und touristischen Erschliessung, von der die Landbevölkerung weit gehend ausgeschlossen blieb. 1997 nimmt Goël diese Problematik wieder auf, diesmal jedoch im Zusammenhang mit der Waadt­länder Landwirtschaft der Gegenwart. Als Chronik über die Jahre zwischen 1994 und 1997 angelegt, verfolgt Campagne perdue sechs junge Bauern, die beschliessen, ihr Vieh in einem gemeinsamen Stall unterzubringen. Die Moder­nisierung in der Praxis von Aufzucht und Haltung erleichtert ihnen die Anpas­sung an neue Marktgesetze und lässt gleichzeitig althergebrachte gemeinschaft­liche Prinzipien Wiederaufleben, die unter ihren Vätern in Vergessenheit geraten waren.

Fernand Melgar ist spanischer Abstammung und widmete bis jetzt zwei Filme der Frage der Immigration. In Album de famille (1993) erzählen seine Eltern über die 27 Jahre, die sie in der Schweiz verbracht haben. Ihre Bilanz über diesen Lebensabschnitt fällt ausgesprochen negativ aus. Melgar versucht, die Heftigkeit ihrer Äusserungen zu mildern, indem er seine binationale Iden­tität hervorhebt und den Film mit der Präsentation einer multikulturellen Schulklasse ausklingen lässt. An dieses Motiv knüpft sein Film Classe d’acceuil (1998) an, in dem der Filmemacher eine Schulklasse aus der Umgebung Lau­sannes porträtiert, in der Kinder von Asylbewerbern und Saisonniers Auf­nahme finden. Melgar bezieht auch die verschiedenen betroffenen Gemein­schaften - Bosniaken, Portugiesen und Kurden - ein und zeigt, wie die Kinder ziemlich schnell die Charakteristiken ihrer Herkunft zu Gunsten einer neuen Identität in der Schweiz aufgeben.

Alex Mayenfisch und Madeleine Denisart schildern in Histoires de temps - La conquête du temps libre (1992) den Kampf der Gewerkschaften für die Einführung bezahlter Ferien und für die Anerkennung der Freizeit in einer Schweiz, die sich durch eine Ideologie der Arbeit auszeichnet. Einer ähnlichen Thematik widmet sich die vor kurzem entstandene Chronique d'une bonne intention (1999), in welcher der Regisseur ein Bildungsprogramm für Arbeits­lose unter die Lupe nimmt. Er dokumentiert Wünsche und Frustrationen der elf Teilnehmer über sechs Monate und lenkt die Aufmerksamkeit einmal mehr auf die Verlierer des herrschenden Wirtschaftssystems.

Während die Dokumentarfilme von Climage - ganz in der Tradition des neuen Schweizer Films - einen sozialkritischen Ton anschlagen, nehmen Connu de nos services (Jean-Stéphane Bron, 1997) und Celui au pasteur (Lionel Baier, 2000) die militante Epoche der Sechziger- und Siebzigerjahre unter dem Ge­sichtspunkt der individuellen Erfahrung unter die Lupe. In Connu de nos ser­vices erzählt Claude Muret, der das Drehbuch von Les petites fugues (Yves Yer­sin, 1979) geschrieben hat, aus seiner Jugendzeit und seiner Vergangenheit als militanter Anhänger der extremen Linken. Mit einem Flair für die aussage­kräftigen Momente und die bedeutungsvollen Details gelingt es dem Film, nach einem eher ernsten Einstieg, einer Darlegung der Fichenaffäre, zunehmend leichter zu werden und zu einer ironischen Interpretation der damaligen poli­tischen Kämpfe zu gelangen. Anhand von Erinnerungen und Anekdoten wird zunehmend die Ernsthaftigkeit des ideologischen Engagements in jener Zeit entschärft und im Kontext einer Jugend situiert, die sich nach aufwühlenden Erlebnissen sehnte. Aus der zeitlichen Distanz betrachtet, erkennen sich Poli­zisten und Ex-Aktivisten als Akteure in einem Katz-und-Maus-Spiel wieder, das kaum gesellschaftliche Veränderungen zur Folge hatte.

In Celui au pasteur porträtiert Lionel Baier seinen Vater, der Priester in einem kleinen Waadtländer Dorf und damit Vertreter einer im Aufbruch be­griffenen protestantischen Kirche ist. Ausgehend von der Kritik am autoritären Vater - der zum Auftakt in seiner Militäruniform gezeigt wird -, dringt der Filmemacher nach und nach zu umfassenderen Fragen vor, sei es politischer oder gesellschaftlich-religiöser Natur. Der Film macht eine ähnliche Desillusion zu seinem Thema wie Connu de nos services: diejenige eines Mannes, der in sei­ner Jugend einer rechtsgerichteten Ideologie anhing und als Lehrer, Priester und Offizier eine Weltanschauung der Eigenverantwortung vertrat; während er heute seine eigene Kirche nicht wiedererkennt, wenn sie sich neuerdings Methoden des Managements zu Eigen macht.

In beiden Filmen wirft eine junge Generation einen humorvollen Blick auf die ältere. Die Porträtierten werden als komplexe Personen gezeigt, die auch Sinn für Ironie haben, wenn es um ihr Engagement in der Vergangenheit geht. Das kommt nicht von ungefähr, lassen sie sich doch von Filmemachern porträ­tieren, die eher Zweifel bezüglich des Gewesenen formulieren, als die ideologi­schen Überzeugungen von damals zu wiederholen und fortzuschreiben. Auch in Brons zweitem Werk La bonne conduite (1999), der einen ansehnlichen Kino­erfolg erzielte14, kommt die zynische Ader des Regisseurs zum Tragen. Der Film erzählt die Geschichte von fünf Personen, die dabei sind, den Fahrausweis zu machen. Letztlich aber handelt er von den Beziehungen zwischen Schwei­zern und ausländischen Staatsangehörigen.15 Das Verdienst des Films besteht nicht zuletzt in seiner Absicht, mit Klischees zu brechen. Er porträtiert zu die­sem Zweck Menschen mit ungewöhnlichem Hintergrund wie zum Beispiel den Fahrschüler indischer Herkunft, der adoptiert wurde und sich so weit integriert hat, dass er Schweizer Briefmarken sammelt und sich stolz zu seinem Schwei­zer Pass bekennt. Bron verwendet auch gewisse Stereotypen wie «den brasilia­nischen Fussballer» und «den Weisen aus dem Osten», aber einzig, um sie wenig später blosszustellen: Sie erscheinen als Verkörperungen einer mythischen Macht, die man dem Anderen mit ambivalenten Gefühlen von Bewunderung und Neid zuschreibt.

Alle neun Dokumentarfilme messen der Verwendung von Archivfoto- und Filmmaterial grosse Bedeutung zu: alte Bilder der Waadtländer Riviera in A l’ouest du Pécos, Ferienfilme von Arbeitern in Histoires du temps libre, Aus­züge eines Films über den Dichter Gustave Roud in Campagne perdue. Wenn die Filmemacher in dieses audiovisuelle Erbe eintauchen, geht es ihnen in erster Linie darum, ihre historischen Streifzüge zu illustrieren. In Album de famille beispielsweise zeigt Melgar Ausschnitte aus legendären Filmen, die sich in den Sechzigerjahren mit der Problematik der Ausländer in der Schweiz auseinander setzten: La Suisse s’interroge von Henri Brandt und Siamo italiani von Alexan­der Seiler. Ihre Betrachtungsweise wird in Erinnerung gerufen, ihre Bilder und Kommentare erneut genutzt. Diese Zitationsarbeit beinhaltet oft auch ein In­fragestellen der Bedeutung dieser Bilder. So kommentiert Baier gegen Ende von Celui au pasteur Bilder seines Vaters, die der Regisseur in seiner Jugendzeit auf­nahm. Dies scheint mir emblematisch für eine Generation, die Bilder wieder­verwendet, sie bearbeitet und in Umlauf setzt, um sie zu hinterfragen und ihnen einen neuen Sinn zu geben.

Zu derselben Vorstellungswelt gehört auch die Idee der topografischen Er­innerung, die mehrere Filme aufgreifen, indem sie an Orte zurückkehren, die die Existenz der Porträtierten geprägt haben. Ein ähnlicher Blick zurück zeich­net sich in Werken ab, die auf Erinnerungsberichten aus der Vergangenheit be­ruhen: Immigranten in Album de famille, ehemalige Militante in Connu de nos services, Gewerkschafter in Histoires du temps libre. Der zeitliche Abstand zwischen den verschiedenen Ansichten desselben Orts wird beispielsweise in Album de famille genutzt. Der Film beginnt mit der Überblendung eines Schwarzweissbildes von einer spanischen Landstrasse in ein Travelling einer ähnlichen Strasse heute. Wenn die Eltern Melgars den Badeort ihrer Hoch­zeitsreise wieder aufsuchen, werden sie den Strand nicht mehr wiedererkennen. An exakt derselben Stelle, an der sie damals Fotos machten, posieren sie heute für den Film - was den Vergleich zwischen den zwei «Belegstücken» erlaubt. Der Film gibt zu verstehen, dass jede Wiederherstellung der Vergangenheit un­ausweichlich in eine Form der Desillusion mündet: Die Welt verändert sich, und das menschliche Wesen bleibt nur in seinen fotografischen oder filmischen Abbildern erhalten. In A l’ouest du Pécos vermischen sich die beiden Medien gegen Ende des Films durch einen eigenwilligen Effekt: Goël verlangt von den gefilmten Personen, dass sie sich ebenso wenig bewegen, wie wenn sie sich für ein Foto in Pose werfen. Mit dem Resultat, dass die heutigen Bilder der Ein­wohner von Corseaux grosse Ähnlichkeit mit denjenigen aufweisen, die die Dorfbewohner, die ihr Glück in den Staaten suchten, von sich machen liessen. Der Regisseur scheint eine Vorliebe für dieses Vorgehen entwickelt zu haben, benutzt er es doch erneut in Campagne perdue, wo er verschiedene Bauern­familien posieren lässt.16

Fiktionalisierung und Blickpunkt

Auffällig an diesen Filmen ist auch, dass sie die porträtierten Personen wie fiktionale Figuren behandeln, deren psychologische Eigenheiten der Handlung ihre Struktur verleihen. Sowohl in Classe d’acceuil als in Histoire du temps libre und Chronique d’une bonne intention steht eine kleine Gruppe im Zentrum. In Chronique d’une bonne intention entwickeln sich die einzelnen Lebensläufe der Arbeitslosen wie diejenigen fiktionaler Personen: Jeder repräsentiert einen bestimmten Charakter, eine Reihe grundlegender Wesenszüge, die der Zu­schauer identifizieren und deren Entwicklung er leicht verfolgen kann. Dieses Verfahren scheint in La bonne conduite am weitesten entwickelt, als wollte der Film unaufhörlich seinen fiktionalen Status betonen. Paar für Paar präsentiert der Vorspann die fünf Zweiergrüppchen, um die sich der Film dreht. Dabei handelt es sich um eine Erzählung im eigentlichen Sinn, in der jedes Fahrlehrer­Schüler-Paar eine bestimmte dramaturgische Entwicklung durchläuft. Der Film beginnt mit der ersten Begegnung der verschiedenen Paare und begleitet sie bis zur Prüfung. Im Mittelpunkt stehen die Spannungen zwischen den Personen, die sich nach der Logik der Suspense entwickeln. So findet sich eine hyper­nervöse Frau, die schon mehrmals durch die Prüfung gefallen ist, im Auto eines «Weisen aus dem Osten» wieder, der mit seinen Zen-Methoden schliesslich die Nervosität der Schülerin besiegt. Ein anderer Fahrlehrer spielt in derselben Mannschaft Fussball wie sein Schüler - ein Brasilianer, der viel begabter ist als er selbst. Wie im Plot eines Hollywood-Sportfilms kommt der «Verlierer» zu seinem grossen Auftritt: Der Fahrlehrer schiesst zur allgemeinen Verblüffung ein Tor für seine Mannschaft.

Durch die Einführung von Verfahren, die dem fiktionalen Kino entstam­men, setzen sich diese Filme in Widerspruch zum Konzept des Dokumentar­films als Abbild des Realen. Alle verfechten sie - in unterschiedlichem Mass - einen Standpunkt der Subjektivität. Viele davon greifen autobiografische The­men auf: Melgar macht einen Film über seine aus Spanien immigrierten Eltern, Goël über seine Familie, die als Bauern leben, Baier über seinen Vater und die protestantische Kirche im Waadtland. Alle drei Filmemacher sind über ihre Off-Stimme im Film präsent. Indem sie die Kamera auf ihre Angehörigen rich­ten, machen sie den Film zu einem Instrument persönlicher Identitätssuche. In diesem Sinn nehmen sie Richard Dindo beim Wort, der als Filmemacher «das Leben der Menschen als Sohn oder Bruder erzählt, als Leser autobiografischer Stoffe»17.

Als weiteres Beispiel für die Hervorhebung der Subjektivität kann die offensichtliche «Rekonstruktion» von Dialogen zwischen Befragten durch die Anordnung von Einstellungen und die Verknüpfung von Aussagen genannt werden, die so nicht der Realität entsprechen kann. Diese Betonung der Mon­tagearbeit zeigt sich auch in einer Passage von Celui au pasteur: Eine Orches­termusik im Crescendo legt sich über die umständliche Präsentation des neuen Organigramms der Kirche, ein Mittel, um den neuen Kurs der klerikalen Füh­rung lächerlich zu machen - auf die Gefahr hin, eine genaue Wiedergabe der Argumente der einen wie der anderen Seite zu verunmöglichen.

Die Verwendung von Video ist in diesen Filmen offensichtlich weniger durch ästhetische als durch ökonomische Überlegungen motiviert. A l’ouest du Pécos und Connu de nos services mögen dafür als Beleg dienen. Beide verwen­den hauptsächlich die traditionelle Dokumentarfilmtechnik der Befragung von Zeitzeugen, die direkt in die Kamera sprechen (Talking Heads), und sie zitieren visuelle und akustische Dokumente. Der Gebrauch von Video ist vor allem da gerechtfertigt, wo ein Werk den Alltag und seine mehr oder minder zufälligen Aspekte über eine längere Zeit einzufangen sucht. Video erlaubt es, ohne ein im Voraus festgelegtes Programm, mehrere Monate lang einen Ausbildungskurs für Arbeitslose zu filmen, das Erlernen des Autofahrens oder die Entwicklung eines kollektiven Projekts unter Landwirten zu dokumentieren. Im Gegensatz zum Film kann man drehen, ohne sich Sorgen um die Materialkosten machen zu müssen. Man kann sich schnell auf neue Situationen einstellen und auf Un­vorhergesehenes prompt reagieren. Die kleine Drehequipe erlaubt es, ein enge­res Verhältnis zu den gefilmten Personen aufzubauen. Davon profitieren ins­besondere persönliche Werke wie die hier besprochenen «Familienfilme». Das kleine Format der Aufnahmegeräte erlaubt zudem das Drehen in Räumen, für die traditionelle Kameras viel zu gross wären. Wie sonst hätte man in La bonne conduite die Protagonisten frontal im Wageninnern und während lang andau­ernder Fahrten aufnehmen können? Weil das Drehen so leicht fällt, stellt sich den Dokumentarfilmern, die auf Video drehen, das Problem der Bildauswahl um einiges dringlicher als herkömmlichen Filmemachern.18

Die Mehrzahl der hier besprochenen Filme unterscheidet sich in Form, Struktur oder Art der filmischen Umsetzung allerdings kaum vom Durch­schnitt der in der Schweiz produzierten «freien» Dokumentarfilme. Beispiels­weise kommen sie den Filmen Jacqueline Veuves ziemlich nahe: Die Personen sprechen frontal in die Kamera, eine Off-Stimme führt den Zuschauer durch den Film, statische Einstellungen und behutsame Kamerabewegungen sind vor­herrschend. Ausnahmen, in denen Spuren erhalten sind, die auf den Drehpro­zess verweisen, bestätigen die Regel: so die Aufnahmen der Bauerndemonstra­tion zu Beginn von Campagne perdue und verschiedene Sequenzen in Celui au pasteur, wo der Schnitt sich wenig um die Konventionen des Continuity Editing kümmert und Jump Cuts zulässt sowie brüske Bewegungen, die die Anwesen­heit des Filmenden verraten.

Innovationsfreude verraten die behandelten Filme zwar nur bedingt. Mit ihren Techniken der Einschreibung der Subjektivität und Momenten der Fik- tionalisierung reflektieren sie aber wichtige Strömungen des zeitgenössischen Dokumentarfilmschaffens. Insbesondere stehen sie im Zeichen der so genann­ten Krise des Realen. Der englische Theoretiker Brian Winston beispielsweise legt Wert darauf, dass die fotografischen und filmischen Bilder nicht länger als Fenster zur Welt betrachtet werden.19 Was das Montageverfahren betrifft, sieht er keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Dokumentär- und Spielfil­men, versuchen doch beide seiner Meinung nach eine Zeit und einen Raum zu (re)konstruieren, auch wenn sich das Produkt dieses Prozesses eher als ein Bild der Welt, in der wir leben, als das einer fiktionalen Welt präsentiert. In diesem Punkt trifft Winston sich mit Richard Barsam, der seinerseits feststellt, dass die stilistische und technologische Entwicklung des Non-Fiction-Films zu einer «fortschreitenden Auflösung der künstlichen Unterschiede, die traditioneller­weise den fiktionalen Film vom Non-Fiction-Film getrennt haben», geführt hat.20 Gemäss diesen Autoren haftet der Wirklichkeitsgehalt dem Filmbild nicht als inhärente Eigenschaft an, noch ist er durch dessen «Wissenschaftlich­keit» oder «Objektivität» gewährleistet, sondern wird einzig durch unsere Re­zeption, auf dem Hintergrund unserer persönlichen oder sozialen Erfahrung, als Realitätsabbild wahrgenommen.

Die Situation in der Westschweiz lässt sich durchaus mit derjenigen in England vergleichen. John Corner betrachtet die Neunzigerjahre in Grossbri­tannien als eine Zeit der Veränderungen für den Dokumentarfilm.21 Seine ver­stärkte Einbindung ins Finanzierungssystem des Fernsehens führte zu Budget­kürzungen. Zugleich wuchs der Druck auf die Dokumentarfilmer, attraktive Programme herzustellen, die auch in einem hart umkämpften Fernsehmarkt Zuschauerinteresse zu wecken vermögen. Diese Bedingungen haben das Ent­stehen von «leichteren», stärker auf Verständlichkeit ausgerichteten Filmen be­günstigt. Infotainment-Sendungen zeugen von diesem Trend ebenso wie die zahllosen dramatischen Rekonstruktionen von Polizeiuntersuchungen oder medizinischen Notfällen sowie Sendungen mit versteckter Kamera, welche die Illusion vermitteln, man befinde sich mitten im Geschehen. Corner ist aber auch der Meinung, dass das englische Fernsehen Zeichen einer neuen Vitalität zeigt. Diese Wiederbelebung verdankt sich nicht zuletzt Do-it-yourself-Filmen, die sich ihren Platz im Programm neben den klassischen Dokumentationen erobert haben und den Subjektivierungstendenzen im aktuellen Dokumentarfilm eine neue Dimension verleihen. Die BBC strahlt seit 1991 ein Programm unter dem Titel Video Diaries aus - von Amateuren gedrehte und geschnittene Filme über die Abenteuer ihres Alltags -, und seit 1995 senden BBC und Channel Four experimentelle Dokumentarfilme unter dem Programmtitel Illuminations, die sich von den formalen Zwängen, die man gemeinhin mit dem Fernsehen in Ver­bindung bringt, noch weiter gelöst haben.

Übersetzung: Doris Senn

Diese Thematik erweist sich als zentral in Alain Tanners Werk: siche die ironische Dar­stellung des Fernsehens in Messidor (1979) und Fourbi (1995) oder auch die Figur des geplagten Filmemachers in La vallée fantôme (1987).

Freddy Buache, Le cinéma suisse 1898- 1998, Lausanne 1998. Martin Schaub, Film in der Schweiz, Zürich 1997.

Siehe dazu Thomas Christen, «La (cine­matografie) suisse n’existe pas! Das Bild des Schweizer Films in den internationalen Film­geschichten», in: Vinzenz Hediger / Jan Sahli / Alexandra Schneider / Margrit Tröhler (Hgg.): Home Stories: Neue Studien zu Film und Kino in der Schweiz, Marburg 2001.

Buache (wie Anm. 2), S. VI-VII.

Schaub (wie Anm. 2), S. 91.

An der Ecole supérieure des arts visuels in Genf 1977, der Ecole cantonale d’art in Lau­sanne 1988 und der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich. Siehe Jean-François Blanc / Fosco Dubini I Bernhard Lehner, «Filmschulen in Lausanne, Genf und Zürich», in: Erfolg - Cinema 45 (1999), S. 127-141.

Françoise Deriaz, «Reni Mertens, die Galionsfigur des Schweizer Filmpreises», in: Ciné-Bulletin 1-2 (1998), S. 11—14, hier S. 11.

Françoise Deriaz, «Alain Tanner über <Mikrowellenherde>», in: Ciné-Bulletin 1-2 (1998), S. 21-24.

Schaub (wie Anm. 2), S. 134.

«Die Arbeitsgruppe «Vision 2OO2> zur Filmgesetzrevision, in: Ciné-Bulletin 10 (1999), S. 5-9, hier S. 5.

Anne-Marie-Duguet, Vidéo, la mémoire au poing, Paris 1981.

Martin Schaub verfolgt die Fortschritte des Videos und erkennt darin eine interessante Zukunftsperspektive für den jungen Schweizer Film. Er glaubt, eine Lösung der struktur­bedingten Malaise in der Entwicklung der Technologien zu finden: «So wie die techni­schen Betriebe des Landes in den sechziger Jah­ren in allen Belangen der 16-mm-Technik und des i6-mm/35-mm-Blow-up führend gewor­den sind, so entwickelt eine neue arme Film­kultur jetzt handwerkliche Videotechniken, deren Resultate sich sehen lassen können.» (Wie Anm. 2, S. 138). Freddy Buache erklärt seinerseits anlässlich eines Fernsehfilms von Bergman, der 1998 in Cannes gezeigt wurde: «Handelt es sich hier nicht um ein typisches Beispiel dafür, wie sich die Front zunehmend aufweicht, die einst die Spreu des kleinen Bild­schirms vom Korn der Leinwand trennte?» (Wie Anm. 2, S. V)

Gespräch mit Yves Kropf vom 29. Feb­ruar 2000. Unter den Mitgliedern von Climage finden sich Kropf, spezialisiert auf Theater­filme und Installationen, sowie die Regisseurin Nadia Fares (Miel et cendres, 1996).

Der Film verbuchte in der Westschweiz 4129 Eintritte, obwohl er nur in ausgesprochen wenigen Kinos gezeigt wurde. Mit diesem Re­sultat steht er an dritter Stelle in einer Aus­wertung der Schweizer Dokumentarfilme 1999 (Swiss Films Newsletter, Schweizerisches Film­zentrum 2000, S. 5).

Der Film ist Teil eines grösseren Projekts zur Frage der nationalen Identität (La Suisse multiculturelle).

Das Verfahren scheint dem Dokumentar­film Der grüne Berg (Eredi M. Murer, 1990) entlehnt, dem ebenfalls die Darstellung der Bauernwclt ein Anliegen ist.

Richard Dindo, «Notes autobiographi­ques», in: Rétrospective, Paris 1994. Zitiert in Guy Gauthier, Le documentaire - un autre cinéma, Paris 1995, S. 258.

Für Celui de pasteur waren es rund sech­zig Stunden Rushes, für La bonne conduite - mit zwei Kameras - rund achtzig.

Brian Winston, Claiming the Real. The Griersonian Documentary and Its Legitima­tions, London 1995, S. 251.

Richard Barsam, Nonfiction Film. A Criti­cal History Revised and Expanded, Blooming­ton/ Indianapolis 1992 (’1973), S. 376.

John Corner, The Art of Record. A Criti­cal Introduction, Manchester / New York 1996.

Laurent Guido
geb. 1971, Studium der Filmwissenschaft, Assistent und Lehr­beauftragter an der Section d’histoire et esthétique du cinéma der Universität Lausanne, lebt in Lausanne.
(Stand: 2018)
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