... auf Grund dieser unalltäglichen und doch auch wieder alltäglichen Existenz baue ich hier ein besonnenes Buch auf, aus dem absolut nichts gelernt werden kann. Es gibt nämlich Leute, die aus Büchern Anhaltspunkte fürs Leben herausheben wollen. Für diese Sorte sehr ehrenwerter Leute schreibe ich demnach zu meinem riesiggrossen Bedauern nicht.
Ob das schade ist? O ja.
Robert Walser, Der Räuber, 1926
Einer der ersten Filme, an die ich mich erinnern kann, sie im Kino gesehen zu haben, war Yves Yersins Les petites fugues von 1979, ein Schlüsselwerk und zugleich einer der grössten Kassenerfolge des neuen Schweizer Films.[1] Ich war damals zehn Jahre alt, und ich sah den Film gemeinsam mit meiner Mutter. Meine Eltern schauten sich oft Studiofilme an, und in diesem Fall fanden sie, auch wir Kinder, mein älterer Bruder und ich, sollten miterleben, wie Knecht Pipe zum ersten Mal seine Rente bekommt, sich ein Töffli kauft und die Welt jenseits des Bauernhofs zu entdecken beginnt, auf dem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Meine Eltern hielten den Film wohl für wichtig und wertvoll und waren der Ansicht, dass auch wir Kinder etwas damit anfangen könnten.
Sie sollten Recht behalten. Les petites fugues wurde umgehend Teil unserer Familienfolklore, und Knecht Pipe etablierte sich als Bezugsgrösse unserer Tischgespräche. Eine Szene hatte es uns Kindern besonders angetan. Pipe fährt zu einem Motocrossrennen, freundet sich mit anderen Zuschauern an und betrinkt sich in deren Kreis. In angetrunkenem Zustand verfällt er auf eine äusserst unglückliche Idee: Er schraubt kleine Senftuben auf, die in Festzelten zu Bratwürsten verteilt werden, legt sie auf den Tisch und haut mit der Faust nach Kräften drauf. Der Inhalt spritzt umher und trifft schliesslich eine Dame am Nebentisch. Eine Szene von unmissverständlicher sexueller Symbolik, wie ein erwachsenes Publikum auf Anhieb feststellen wird. Immerhin verfällt Pipe aufs Senftuben-Platthauen auf Grund einer Mischung aus Langeweile und Neid, beschäftigen sich doch seine neuen Freunde, ein Pärchen, mehr miteinander als mit ihm. Stärker als der sexuelle Subtext faszinierte meinen Bruder und mich allerdings der technische Aspekt der Szene. Ob auf Festplätzen oder bei Grillständen: Wann immer wir in den folgenden Jahren auf die kleinen Thomy-Senftuben stiessen, brachten wir so viele davon an uns, wie wir konnten, um uns anschliessend im Senf-Rumspritzen nach Pipes Vorbild zu üben. Es handelte sich gewissermassen um eine Lowtech-Variante der Computerspiele, mit denen Kinder heutzutage ihre Seherlebnisse aus Hollywoodfilmen in ihren Alltag hinein verlängern, und man könnte an die Episode mit den Senftuben durchaus auch theoretische Überlegungen anknüpfen. Cesare Musattis These, dass das Kino bei Adoleszenten die Funktion erfüllt, die für Kinder noch das Spiel einnimmt, lässt sich an ihr neu bedenken: Wir befanden uns offenbar in einer Übergangsphase.2
Man kann aber auch Aufschlüsse über die Geschichte des Schweizer Films aus dieser Kindheitserinnerung gewinnen. Zum einen liefert sie den ethnografischen Beweis, dass all diejenigen richtig lagen, die als verbindendes Motiv des neuen Schweizer Films seinen pädagogischen Impetus hervorhoben. Die meisten Regisseure der Siebzigerjahre traten ihrem Publikum in aufklärerischer Absicht entgegen, und wie Figura zeigt, kann man tatsächlich etwas fürs Feben lernen aus ihren Filmen. Zum anderen verweist die Senfgeschichte aber auf eine Lücke in der schweizerischen Kinohistoriografie. Unsere kindliche Lust am Tuben-Platthauen war so verschieden nicht von dem, was andere Leute dazu antreibt, den Gang von John Wayne zu imitieren oder zu tanzen wie John Travolta. Es handelt sich um Fan-kulturelle Phänomene, um Beispiele der Anverwandlung fiktionaler Motive in den Vollzügen des Alltagslebens. Dass auch Schweizer Filme auf diese Weise wirken können, dass auch Motive aus Filmen einheimischer Produktion in die Zusammenhänge der Lebenswelt einwandern können, ist ein Thema, das in der bisherigen Geschichtsschreibung des einheimischen Filmschaffens nicht vorkommt.
Andrew Higson hat am Beispiel des britischen Kinos aufgezeigt, dass es im Wesentlichen vier Arten gibt, über Nationalkinematografien zu sprechen.3 Man kann erstens vom Kino eines bestimmten Landes in ökonomischen Begriffen sprechen und die Produktionsbedingungen analysieren, womit man Nationalkinematografie gleichbedeutend verwendet mit den Begriffen «einheimische Filmindustrie» oder, im Falle eines Landes mit einer eher artisanalen Tradition der audiovisuellen Produktion wie der Schweiz, eben «einheimisches Filmschaffen». Klaus Kreimeiers Studie über den deutschen Filmkonzern UfA ist ein Beispiel für diese Art der Historiografie.4 Man kann zweitens einen textzentrierten Zugang wählen: Filme aus einem bestimmten Herkunftsland zusammenstellen und diese in motiv- und stilgeschichtlicher Hinsicht studieren. Siegfried Kracauer etwa versucht in Von Caligari zu Hitler die Unterhaltungsfilme der Weimarer Republik nach diesem Prinzip als mentalitätshistorische Präfigurationen der Nazi-Diktatur zu interpretieren. Man kann drittens einen ästhetisch-kritischen Zugang wählen und das Kino eines Landes so behandeln, als würde dessen Kultur nur in den künstlerisch hochwertigen Produktionen authentisch repräsentiert. Für einen grossen Teil der westeuropäischen Filmkritik beschränkt sich nach dieser Lesart das griechische Kino auf die Filme von Theo Angelopoulos. Und schliesslich kann man viertens eine Nationalkinematografie über den Aspekt des Konsums und der Rezeption von Filmen behandeln.
Eine umfassende Wirtschaftsgeschichte des Schweizer Films steht noch aus. Bislang liegt nur der Sammelband Film und Filmwirtschaft in der Schweiz von 1968 und eine Reihe von kulturpolitisch motivierten Studien wie Thomas Maurers Filmmanufaktur Schweiz von 1982 oder die Analyse von Heinz Rütter und Vinciane Vouets zu diesem Thema vor.5 Der Grossteil der Filmgeschichtsschreibung in der Schweiz verfolgte einen textzentrierten Ansatz. Freddy Buache, Martin Schaub, WernerWider, Felix Aeppli und Hervé Dumont machten bestimmte Filmkorpora zur Grundlage motivhistorischer und ideologiekritischer Analysen. Ebenfalls textzentriert gingen Brigitte Blöchlinger, Alexandra Schneider, Cecilia Hausheer und Connie Betz vor, als sie das Handbuch Cut. Film- und Videomacherinnen Schweiz von den Anfängen bis 1994 realisierten, ein kritisches Verzeichnis von Filmen und Videoarbeiten, die von Frauen in der Schweiz realisiert wurden.6 Autoren wie Schaub, Buache oder Martin Schlappner verfolgten in ihrer journalistischen Tätigkeit als Filmkritiker zudem den Ansatz, herausragende Persönlichkeiten wie Alain Tanner oder Fredi Murer (mir ist keine Frau bekannt, die in den Genuss solcher Behandlung kam) in den Rang von Repräsentanten einer Nationalkinematografie zu erheben. Keinerlei Beachtung hingegen fand bislang das Platthauen von Thomy- Senftuben als Folgephänomen der Rezeption einheimischer Filme, wie die Filmrezeption überhaupt weitgehend vernachlässigt wurde. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet ein kurzer Text von Roland Cosandey aus den frühen Achtzigerjahren zur Wiederentdeckung und Neurezeption Max Häuflers, der auf einer kritischen Sichtung der relevanten Filmpublizistik beruht.7 Diskursanalytische Verfahren wenden auch Laurent Guido und Pierre-Emmanuel Jaques in ihrer historischen Studie zur Entstehung der Filmkritik in Genf und Lausanne an, während Maria Tortajada die Westschweizer Filmkritik der Sechziger- und Siebzigerjahre daraufhin untersucht, wie Stereotypen des Schweizerischen in Schweizer Filmen aufgebaut und in Umlauf gebracht werden.8
Dieser Mangel an rezeptionshistorischen Studien ist bedauerlich, denn möglicherweise müsste man gerade bei der Alltagsgeschichte der Wahrnehmung und Anverwandlung von Filmen ansetzen, um einen differenzierteren Begriff davon zu bekommen, was Schweizer Film ist und wie er sich entwickelt hat. Versucht man, über eine werkzentrierte Analyse dem auf den Grund zu kommen, was den Schweizer Film ausmacht, dann entzieht sich der Gegenstand rasch. Natürlich gibt es stilistische und thematische Übereinstimmungen zwischen Filmen, die in den letzten dreissig Jahren in der Schweiz entstanden. Martin Schaub hat einige davon in seiner Studie Die eigenen Angelegenheiten aus dem Jahr 1983 versammelt. Die Vorliebe für Aussenseiterfiguren, die den neuen Schweizer Film mit der Literatur verbindet, scheint mir besonders augenfällig. Von den Helden Robert Walsers über Otto F. Walters Stummem bis zu dem von François Simon gespielten Charles aus Tanners Regiedebüt von 1969 Charles mort oh vif reicht die Galerie der Aussenseiter und vermeintlichen Spinner in Romanen und Filmen aus der Schweiz. Yersins Pipe und die Figuren Kurt Gloors, sei dies nun der alte Schumacher Konrad Steiner aus Die plötzliche Einsamkeit des Konrad Steiner von 1976 oder der von Bruno Ganz verkörperte Erfinder aus dem gleichnamigen Film von 1980, gehören ebenfalls dazu. Auffällig an der schweizerischen Filmproduktion eigentlich seit ihren Anfängen ist auch ihr ausgeprägtes Interesse an der bäuerlichen Lebenswelt, und an stilistischen Gemeinsamkeiten liesse sich etwa die Häufigkeit ethnografischer Arbeit auf hohem Niveau anführen.9
Gleichwohl hat Alain Tanner in gewisser Hinsicht nicht Unrecht, wenn er in einem bekannten Interview mit der Pariser Tageszeitung Libération aus dem Januar 1996 die Behauptung aufstellt, den Schweizer Film gebe es eigentlich gar nicht.10 Natürlich, Tanner meinte damit zunächst einmal, dass es nach ihm und Filmern wie den gemeinsam mit ihm befragten Daniel Schmid und Fredi Murer keine jungen Filmemacher in der Schweiz mehr mit unverkennbarer Handschrift gegeben habe; eine These, die vor allem die Frage aufwirft, wie viele Filme aus der Schweiz Tanner in den letzten fünfzehn Jahren gesehen hat. Tanner geht es aber noch um etwas anderes. Wenn er sich französische Filme anschaue, etwa solche von Jacques Doillon und Benoît Jacquot, dann erkenne er da Gemeinsamkeiten. Wenn er sich aber die Filme von Fredi Murer ansehe, dann sei das für ihn eine andere Welt. Es gibt demnach ein französisches Kino, das sich als Ausdruck französischer Kultur verstehen lasse und dem Tanner sich letztlich zugehörig fühle, während es ein schweizerisches in diesem Sinn nicht gebe. Tanner verfährt damit nicht anders als die meisten Filmhistoriker: Er bündelt eine Reihe von Texten / Filmen und sucht nach thematischen und stilistischen Gemeinsamkeiten, die dann als Ausdruck einer kulturellen Identität gelesen werden, als Manifestationen einer Essenz des jeweiligen Nationalen. Nationalcharakter als kollektives Persönlichkeitsmerkmal und intertextuell akkumulierter Effekt11: Man könnte auch von der Ausdruckstheorieder Natio- nalkinematografie sprechen, und Belegmaterial für eine solche Theorie liefert das schweizerische Filmschaffen in der Tat herzlich wenig. Wie sollte dies in einem Land, das vier verschiedenen Sprach- und Kulturräumen angehört und erst noch keine kontinuierliche industrielle Filmproduktion aufweist, auch schon der Fall sein?
Die Häufigkeit von Aussenseiterfiguren als Ausdruck nationaler Eigenheit zu lesen, drängt sich jedenfalls nicht auf. Sie lässt sich viel überzeugender auf das politische und weltanschauliche Klima zurückführen, in der die entsprechenden Filme entstanden. Als Filmerin verstand man in den Siebzigern sein Schaffen noch politisch, und die Figur des Aussenseiters und Narren, ohnehin ein Topos mit langer Tradition in der Literatur, eignet sich für Gesellschaftskritik besonders gut. Schon eher als Ausdruck einer nationalen Eigenheit lässt sich die Häufung von «Bauernfilmen» verstehen. Es geht aber auch in diesen Filmen nicht um Wesensfragen, sondern um die Abarbeitung eines historischen Erbes. Dass die Bauern so wichtig sind, ist das Ergebnis eines identitätspolitischen Konstruktionsprozesses. Die Schweiz hatte sich im 19. Jahrhundert mit dem Ursprungsmythos einer Abkunft aus dem Bauernstand ausgestattet, und irgendwie glauben alle noch ein bisschen an diese Geschichte. Interpretiert man aber Filme wie Erich Langjahrs Bauernkrieg unter dem Gesichtspunkt einer Ausdruckstheorie der Nationalkinematografie, dann läuft man Gefahr, an dem vorbeizuschauen, was sie wirklich relevant macht. Die «Bauernfilme» bringen nicht eine nationale Wesenheit der Schweiz zum Ausdruck, sie leisten vielmehr einen Beitrag zur Dekonstruktion oder Rekonstruktion eines zentralen Topos medial vermittelter nationaler Identität.
Es war unter anderem der Historiker Benedict Anderson der vorschlug, die Nation nicht über Ethnie, Kultur oder Terrain zu definieren, sondern sie zu verstehen als «imagined community», als imaginäre und imaginierte Gemeinschaft, die über verschiedene Institutionen, Kommunikationsmittel und Diskurse aufgebaut und aufrechterhalten wird.12 Eine besonders wichtige Rolle kommt dabei den Medien zu. Durch die Medien sprechen die «imagined communities» zu sich selbst, die Medien liefern, systemtheoretisch gesprochen, dem System seine Selbstbeschreibung und markieren stets aufs Neue symbolisch die Trennlinie von System und Umwelt, von Nation und dem, was nicht zu ihr gehört. Nicht von ungefähr stellen Nationalismus und Zeitungen mit grosser Auflage in Europa Entwicklungen des 19. Jahrhunderts dar.13 Der englische Kulturhistoriker James Donald spitzt diese These weiter zu und vertritt die Ansicht, dass die Nation letztlich überhaupt ein mediales und kulturelles Konstrukt ist. Kommunikationsmedien werden demnach nicht benutzt, um Nationalspezifika auszudrücken, sondern um diese überhaupt erst hervorzubringen und in Umlauf zu setzen. «The nation», so Donald, «is an effect of [...] cultural technologies, not their origin. A nation does not express itself through its culture, it is cultural apparatuses that produce <the nation>.»14
Dass dem Kino in diesem Prozess eine zentrale Rolle zukommt, ist eine weit verbreitete Ansicht. «Ein Land ohne Filmindustrie», sagte etwa vor kurzem Andrzej Wajda, euphorisiert nicht zuletzt vom unerhörten Publikumserfolg seines jüngsten Films in Polen, «ist ein Land, dem in seiner Kultur etwas fehlt.»15 Jean-Michel Frodon wiederum, im Hauptamt Filmkritiker von Le Monde, stellt in seinem Buch La projection nationale die These auf, dass zwischen Nationalkultur und Kino nachgerade ein Wesenszusammenhang bestehe, beruhten doch beide auf dem Prinzip der Projektion.16 Die nationale Identität entstehe aus der kollektiven Projektion von Idealbildern, von der Vorstellung davon, was die Gemeinschaft ausmache und welche Züge man aufzuweisen habe, um ihrer ein würdiges Mitglied zu sein. Das Kino seinerseits basiert, so Frodon, ebenfalls auf Projektion, der lichtmechanischen Projektion von Bildern auf eine Leinwand. Die Filmbilder wiederum sind als Realitätsausschnitte zu verstehen, die von ihrem Kontext abgelöst sind oder die ohnehin einfach «Kunstwelten» zeigen, die jedenfalls den Charakter von Idealbildern haben und von der Realität abgelöste Vorstellungen wiedergeben.
Das Kino als privilegiertes Kommunikations- und Konstruktionsmittel des Nationalen: eine These, die sich wohl als Credo eines cinephilen Patriotismus eignet, die aber an Plausibilität rasch verliert, sobald man den Zusammenhang von Kino und Nation nicht nur, wie Frodon, aus den apparativen Gegebenheiten des Films entwickelt, sondern auch den Kontext von Produktion, Vermarktung und Konsum mit in Betracht zieht. Natasa Durovicova weist darauf hin, dass sich das Kino kraft seiner ökonomischen Bedingtheit einer Indienstnahme durch nationale Kultur tendenziell immer schon entzieht. Nationale Kultur konstituiert sich durch die Pflege (mitunter auch durch die Erfindung) von Erbe und Tradition.17 Das populäre Kino hingegen - und nur dieses erreicht genügend Publikum, um auf Denken und Verhalten einer signifikanten Anzahl von Leuten Auswirkungen zu haben18 - reiht sich ein in den Kreislauf der Produktion und des Konsums industriell hergestellter Güter. In diesem Kreislauf zählt Neuheit mehr als Tradition (jede Woche ein neuer Film, jedes Jahr ein neues Auto), und es gilt das urbane, metropolitane Leben mehr als das ländliche, traditionsverhaftete (man will modern sein und nicht provinziell, dem Alten verhaftet).19 Filme, die nationale Kultur zelebrieren, zeichnen sich mithin immer aus durch einen Widerspruch zwischen der Fortschrittslogik des Kinokonsums und der Traditionsfixierung nationaler Kultur. Die Filme von Griffith und De Mille sind dafür anschauliche Beispiele aus dem amerikanischen Kontext.20
Die ökonomischen Bedingungen der Filmproduktion besorgen es allerdings, dass am Ende doch immer die Fortschrittslogik Oberhand gewinnt. Filme herzustellen, ist so aufwendig und teuer, dass man sie zumeist auf Exportmöglichkeiten hin konzipieren muss, und zwar umso mehr, je kleiner der Heimmarkt ist. Dabei gilt es, möglichst gering zu halten, was Colin Hoskins und Rolf Mirus als «cultural discount» bezeichnen: den Prozess des Attraktivitätszerfalls, den ein Programm oder ein Film erleidet, wenn sie aus dem kulturellen Kontext, in dem sie entstanden sind, in einen anderen transponiert werden.21 Amerikanische Fernsehserien beispielsweise haben einen sehr geringen «cultural discount», sie werden überall auf der Welt begierig konsumiert. Amerikanische Sportfilme und deutsche Komödien hingegen erleiden beim Export einen hohen, mitunter gar totalen Wertzerfall : Sie werden ausserhalb ihrer Heimterritorien kaum rezipiert. Auch die alten Schweizer Filme hatten einen hohen «cultural discount», und es würde sich lohnen zu untersuchen, inwiefern es zum Niedergang der kommerziellen Filmproduktion in der Schweiz beitrug, dass die Filme sich für den Export nur bedingt eigneten.22
Von einem Beitrag des Kinos zur medialen Konstruktion nationaler Identität kann deshalb gerade in kleinen Fändern nur sehr bedingt die Rede sein. Schweizer Filme verzeichnen selbst auf ihrem Stammterritorium nur einen Marktanteil von zwei bis drei Prozent, was etwa einer halben Million verkaufter Kinotickets pro Jahr entspricht. Von einer breiteren Öffentlichkeit wirklich zur Kenntnis genommen werden einheimische Filme oft erst bei der Fernsehausstrahlung, wo sie an einem Abend häufig erheblich mehr Zuschauer erreichen als im Verlauf ihrer gesamten Kinoauswertung. Teil des kulturellen Gedächtnisses und der medialen Selbstbeschreibung des Systems «Schweiz» werden Spielfilme wohl ohnehin erst durch ihre wiederholte erfolgreiche Ausstrahlung am Fernsehen. Franz Schnyders Ueli der Knecht etwa fand kurz nach Hannes Schmidhausers Tod im Frühjahr 2000 an einem Sonntagabend ein Publikum von anderthalb Millionen Zuschauern, mehr als jede Wettersendung. Es wäre wohl lohnenswert, unter diesem Gesichtspunkt die Filme Walter Roderers einer kritischen Neubewertung zu unterziehen, und man darf überdies die Prognose wagen, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft auch Daniel Schmids Beresina von 1999 den Eintritt ins fernsehgestützte kulturelle Gedächtnis der Schweiz schaffen wird.
Damit ist nun nicht gesagt, dass Filme nicht auch eine Rolle in individuellen, autobiografisch zu beschreibenden Identitätsbildungsprozessen spielen können. Der zweite Film, an den ich mich deutlich erinnern kann, ihn im Kino gesehen zu haben, war wiederum eine einheimische Produktion: Kurt Gloors Der Erfinder. Bruno Ganz versucht in diesem Film, die Fährnisse im Dasein eines Kleinbauern in den Voralpen zu lindern, indem er allerhand nützliches Arbeitsgerät erfindet. Seine grösste und wichtigste Erfindung ist ein Raupenfahrzeug, das auch steilste Steigungen mühelos überwindet. Eines Tages, nachdem es ihm schon fast gelungen ist, Geldgeber für eine Serienproduktion zu finden, fährt der Erfinder in die Stadt und besucht ein Kino. Im Vorprogramm sieht er eine Wochenschau, die - man schreibt die letzten Monate des Ersten Weltkriegs - vom ersten Einsatz eines britischen Kampfpanzers berichtet. Der Erfinder ist am Boden zerstört: Jemand hat noch vor ihm denselben Einfall gehabt. Diese Szene lehrte mich zum einen, dass man im Kino die Wahrheit über die Welt erfährt. Zum andern schuf sie so etwas wie ein Modell für meinen Umgang mit Schweizer Filmen. Das Schweizerische an ihnen lag für mich in aller Regel darin, dass sie mich auf eine Weise ansprachen wie die Wochenschau den Erfinder: Sie verwiesen mich in konkreterWeise auf meine eigenen Lebenszusammenhänge zurück und entfalteten dadurch ihre Wirkung. Richard Dindos Dani, Michi, Renato und Max von 1987 etwa knüpfte an eine Reihe von Spuren an, die die Medienberichterstattung über die Zürcher Unruhen bei mir - wie wohl bei jedem fernab des Geschehens aufgewachsenen Jugendlichen jener Jahre - hinterlassen hatte, und bündelte diese Erinnerungen zu einer kohärenten, differenzierten Wahrnehmung zeitlich und räumlich naher historischer Vorgänge.
Ähnlich auch Fredi Murers Der grüne Berg. Der Film beginnt mit der Totalen einer Berglandschaft. Im Vordergrund schleppt, von rechts nach links fahrend, ein Traktor einen Baumstamm vorbei. Als Filmwissenschaftsstudent lernt man früh, dass die Bewegung von links nach rechts - aus welchen Gründen auch immer - als Erfolg und Glück versprechende Bewegung wahrgenommen wird, diejenige von rechts nach links als unheilsschwangere. Goebbels wusste dies, weshalb er die deutschen Wochenschau-Kameramänner anwies, die deutschen Truppen stets von links nach rechts durchs Bild marschieren zu lassen. In Der grüne Berg fährt der Traktor von rechts nach links, kein gutes Zeichen. Es folgt eine Reihe von Porträtaufnahmen von Menschen, die davon berichten, unter welchen Umständen sie eine bestimmte schlechte Nachricht mitgeteilt bekamen: Die Nagra, die nationale Behörde für die Entsorgung von Atommüll, hatte beschlossen, dort ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle einzurichten. Widerrede nicht erwünscht. Es folgt die Stellungnahme des Nagra-Verantwortlichen. Gezeigt wird er in einem schwarzweiss karierten Sakko, vor einer Luftaufnahme des Schweizer Mittellandes sitzend, ebenfalls in Schwarzweiss. In einem Tonfall, als ginge es um eine Marginalie wie die Müllabfuhr, berichtet er von Halbwertszeiten und Lagerungsrisiken. Schnitt auf eine Totale eines Atomkraftwerks. Der Kühlturm hat auf dem Bild nicht Platz, er ist etwa in der Hälfte abgeschnitten, und er überragt auch die Horizontlinie der Hügelzüge im Hintergrund. Die Kamera schwenkt von rechts nach links. Mit dieser Einstellungsfolge ist das Thema gesetzt - Hybris des Menschen gegenüber der Natur und gegenüber anderen Menschen -, und es ist mir auf filmischem Weg eigentlich schon fast alles mitgeteilt, was ich über Verteilung und Gebrauch von Macht im Umgang mit der Nukleartechnologie in der Schweiz in den Achtzigerjahren wissen muss. In der Präambel des ersten Filmförderungsgesetzes von 1964 hiess es, dass mit Bundesmitteln vorab Filme von staatspolitischem Interesse gefördert werden sollen. Es wurde oft als Fortschritt gewertet, dass diese Formel aus späteren Fassungen eliminiert wurde. Filme wie Dani, Michi, Renato und Max, Der grüne Berg lassen sich aber durchaus noch in einem positiven Sinn als «staatspolitisch wertvoll» bezeichnen: Sie erbringen mit filmischen Mitteln Präzisierungen der Selbstbeschreibung des Systems «Schweiz» und leisten Arbeit am Gewebe der Republik.
Letztlich aber sind es andere Medienangebote und -formate, die so etwas wie die mediale Konstruktion nationaler Identität leisten. Der Wetterbericht beispielsweise. Veranschaulichen lässt sich dies an einer weiteren - letzten - autobiografischen Anekdote. Ich wuchs in einem Haushalt ohne Fernsehgerät auf, und mein Fernsehkonsum beschränkte sich auf jene Abende, an denen meine Eltern mich und meinen Bruder in die Obhut eines älteren Ehepaares aus der Nachbarschaft entliessen. Es waren die besten Jahre von Léon Huber und Paul Spahn, und die Nachbarin bekundete gerne vor laufendem Fernsehgerät ihre Genugtuung darüber, dass nun wieder einer dieser beiden sympathischen Herren die Nachrichten lese. Ihr Gatte hingegen, ein Notar und Buchhalter, der mit uns Kindern kaum ein Wort sprach, schaute sich die Nachrichtensendung stets schweigend an. Bis der Wetterbericht an die Reihe kam. Sobald der stilisierte Umriss der Schweiz auf dem Bildschirm zu sehen war - eine weisse, verwinkelte Linie auf braunem Grund -, dreht er sich zu uns um und sagte mit einem glucksenden Lachen: «Es Sparsäuli!» Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Erst nach einigen Malen begriff ich, was er uns damit mitteilen wollte: Der Umriss erinnerte ihn an ein Sparschwein. Es war eine Beschreibung, die passte, und zugleich eine Selbstbeschreibung. Die metaphorische Assoziation von «Schweiz» und «Sparschwein» bot ihm Anlass, über das Land zu sprechen, aber auch über sich selbst und über die Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlte. Die Wetterkarte als «mental map» der eigenen Situation und als Teil der Selbstbeschreibung des Systems «Schweiz» also.23
Die Leitmedien Radio und Fernsehen müssen bekanntlich in der Schweiz gemäss Gesetzestext eine Integrationsfunktion erfüllen. Bisherige Studien allerdings ergeben, dass die Integrationsleistungen, die durch mediale Angebote erbracht werden, im Wesentlichen an den Sprachgrenzen enden. Die befragten Konzessionszahlerlnnen sind zwar mehrheitlich der Ansicht, dass die SRG ihren Integrationsauftrag erfülle.24 Die Programmangebote, die im Bemühen eingerichtet wurden, Sprachgrenzen zu überschreiten, bleiben aber weit gehend unbeachtet.25 Diesem vermeintlichen Widerspruch könnte man auf den Grund zu kommen versuchen, indem man die Analyse der Integrationsleistungen medialer Angebote auf der Ebene von Leitbildern ansetzt und beispielsweise fragt, welche Rolle die Wetterkarte in den Prozessen der medialen Konstruktion nationaler Identität spielt.
In ähnlicherWeise lässt sich die Frage, was denn das Schweizerische sei am Schweizer Film, das Eigene an den eigenen Bildern, am besten beantworten, indem man der Rezeption besondere Aufmerksamkeit widmet. Durch den Raster einer Ausdruckstheorie der Nationalkinematografie fällt das einheimische Filmschaffen ebenso wie durch denjenigen einer Theorie der medialen Konstruktion nationaler Identität. Dennoch gibt es den Schweizer Film. Die Gratiszeitung 20 Minuten, die in den städtischen Regionen der Schweiz an Pendler verteilt wird, behandelt jeden Donnerstag auf mehreren Seiten die neuen Filme im Kinoangebot. Um den Leserinnen die Produktewahl zu erleichtern, werden die Filme mit Piktogrammen charakterisiert. Taschentücher stehen für Emotionstiefe, Blitze für Action usw. Unter diesen Piktogrammen, die Genres und Erlebnisqualitäten darstellen, gibt es auch ein kleines Schweizer Fähnchen, die Bezeichnung für «Schweizerfilm». Das ist nun zum einen ein schlagender Beweis für Janet Staigers These, dass nationalkinematografische Labels in ähnlicherWeise funktionieren wie Genrebegriffe: Sie lassen sich in der gleichen Rubrik auflisten, ohne dass dies als Kategorienfehler wahrgenommen würde.26
Zum andern wirft das Label «Schweizerfilm» aber schon auch die Frage auf, was damit genau gemeint ist und wie es zustande kommt. Wird in der Filmpublizistik der Sechziger- und Siebzigerjahre noch ein erheblicher Reflexionsaufwand betrieben, um zu bestimmen, was der Schweizer Film ist,27 so handelt es sich beim Piktogramm aus 20 Minuten und bei der damit bezeichneten Kategorie um ein alltagssprachliches Phänomen, um einen Begriff, der durch seine Verwendung schon hinreichend definiert und gerechtfertigt ist. Um seine Genese und Bedeutung zu rekonstruieren, müsste man ihn wohl tatsächlich behandeln wie einen Genrebegriff. In der theoretischen Beschäftigung mit Filmgenres geht man mittlerweile davon aus, dass Genres funktionieren wie Begriffsbündel und dass sie für den praktischen Gebrauch nicht klar und eindeutig definiert werden, sondern ihren Sinn auf Grund von Prototypen und durch Familienähnlichkeiten erhalten.28 Durch diskursanalytische Studien der Filmpublizistik, allenfalls aber auch durch Befragungen, könnte man nun eruieren, welche Filme für den Alltagsgebrauch des Labels Prototypencharakter annehmen und wie sich die Bedeutung des Begriffs im Lauf der Zeit verändert hat.
Zu bedenken ist dabei, dass die Geschichten nationaler Kinematografien immer «histories of crisis and conflict, of resistance and negotiation» sind, wie Higson schreibt.29 Für die Schweiz gilt besonders ausgeprägt, was Jean Baudrillard in seinem Amerikabuch für Europa im Allgemeinen festhielt. Europa kann seiner kulturellen Identität nach nicht mehr aus sich selbst heraus verstanden werden, sondern nur noch in Abgrenzung von einem «imaginären Amerika», das uns wie ein Gespenst verfolgt.30 Daneben gibt es aber auch ein imaginäres Frankreich, das als Matrix unserer Selbstwahrnehmung dient, wie Cosandey in seinem bereits zitierten Text zu Häufler feststellt. Die Deutschschweizer Filmkritik, so Cosandey, war umso eher bereit, Häuflers Farinet als schweizerischen, also eigenen Film zu beschreiben, je leichter es ihr fiel, ihn mit einer bestimmten Tradition des französischen Kinos in Verbindung zu bringen.31 Es gilt mithin, den Schweizer Film bezogen auf seine Differenz wahrzunehmen, auf jenen anderen Film und jene anderen audiovisuellen Texte, im Unterschied zu denen er in der Wahrnehmung seines Publikums, aber auch seiner Historio- grafinnen und Historiografen das wird, was er «ist».
Letztlich sind es die Kategorien der Rezeption, die die eigenen Bilder zu eigenen machen.32 Die Geschichte des Schweizer Films liesse sich auch verstehen als Geschichte dieser Kategorien und ihrer Auswirkung auf den alltäglichen Umgang mit Filmen und anderen audiovisuellen Angeboten, als Geschichte der Anverwandlung von Bildwelten für ihren weiteren Gebrauch. Das Platthauen von Senftuben hätten wir auch von einem amerikanischen Film lernen können. Ob aber unsere Eltern so viel Nachsicht hätten walten lassen (und sich, bei Gelegenheit, auch an dem Spiel beteiligt hätten), wenn Pipe von Tom Hanks verkörpert worden wäre, scheint mir zumindest zweifelhaft. Ich müsste sie einmal fragen.