DORIS SENN

CLANDESTINS (NICOLAS WADIMOFF / DENIS CHOUINARD)

SELECTION CINEMA

Ein Junge füllt seinen Wasserkanister. In einer schäbigen Küche tut ein Mann dasselbe mit einer Plastikflasche und steckt ein vergilbtes Familienfoto ein. Eine Frau verbrennt ihren Paß, im Hintergrund spielt ein Mädchen. Ein Mann trinkt einen Brandy an der Bar, bevor er seinen voluminösen Seesack schultert. Eine Frau läßt sich schweigend durch die Nacht fahren. Sie alle haben ein Ziel: Nach der Geld­übergabe werden sie über Reifenberge und Sta­cheldraht in einen Container geschleust, der sie von Le Havre aus übers Meer nach Kanada und in ein besseres Leben führen soll.

Gleich zu Beginn spitzt sich das Drama zu: Dora (Simona Maicanescu), die mit ihrer Tochter Svetlana (Christelle Sabas) unterwegs ist, verliert ihren ganzen Proviant. Roman (An­ton Kouznetsov), der aus Rußland stammt und am besten von allen ausgerüstet ist, nutzt seine Machtposition schamlos aus. Halima (Hanane Rahman), aus Nordafrika stammend wie Walid (Moussa Maaskri), weist dessen Fragen schroff zurück. Der Zigeunerjunge Sandu schließlich (Ovidiu Balan) – den Kampf ums Überleben gewohnt – nährt die Tagträume vom verheiße­nen Land. Not, Überfluß, Abhängigkeit und Solidarität lassen Sympathien und Antipathien und damit ein Beziehungsgeflecht entstehen, indem die einzelnen immer mehr merken, daß sie nur gemeinsam überleben können. Der Traum wird schließlich nur für Sandu und Svetlana in Erfüllung gehen.

Der Genfer Wadimoff und der Kanadier Chouinard haben sich in Montréal an der Filmschule kennengelernt und das Projekt des Films gemeinsam entwickelt. Beide beschäftigten sich schon in ihren bisherigen Filmen mit Immi­gration und der Problematik multikultureller Gesellschaften. Aus ihrem Interesse und ihrer Anteilnahme an den Beweggründen und dem Schicksal von Container-Flüchtlingen, das heißt illegalen Immigranten, entstand Clandestins. Ein Huis-clos-Stück, das erahnen läßt, welche Verzweiflung einem solchen Auswan­derungsentscheid zugrunde liegen muß, das Mut und Menschlichkeit, vor allem aber den Überlebenskampf zeigt, den eine solche Pas­sage mit sich bringt und der in vielen Fällen unglücklich, wenn nicht tragisch endet.

In einem geschickten Gegenüber von In­nen und Außen wird das Geschehen situiert, die Arbeitsroutine der Seeleute dem Über­lebenskampf der Flüchtlinge gegenübergestellt. Die bedrückende Enge des Containers wird durch den Gegensatz zu Licht, Wind und Meer des Draußen noch verstärkt. Die Kamera mißt die wenigen Quadratmeter immer und immer wieder aus, durchfährt sie der Länge nach, schaut in Aufsicht, in Großaufnahmen und läßt so das Geschehen mehr und mehr zu einer klaustrophobischen Erfahrung des Filmpubli­kums werden: Durst, Hunger, Enge und Dun­kel gehen in fast körperlicher Weise auf die Zu­schauerInnen über. Aber auch Bewegung und Stillstand scheinen sich im Schauen zu materia­lisieren: wenn das Schiff im Hafen festliegt oder wenn eine Havarie mitten im Ozean den Dampfer lähmt. Mit den Eingesperrten reagie­ren wir erleichtert, wenn der Schiffsbug wieder durch die Wellen sticht. Die Zeit – vorerst noch minutiös mittels Holzkerben, die Tage zählen, kalkulierbar – gerät zunehmend ins Fließen, mißt sich an den Vorräten, die viel zu früh zu Ende gehen, am stockenden Computerspiel oder der ausgehenden Lampe, am Körper­zustand der Beteiligten.

Nicht zuletzt die hervorragenden Leistun­gen der Schauspielerinnen verleihen den Figu­ren eine selten gesehene Dichte, tragen die dra­matische Kurve der Handlung in einer Weise, der man sich nicht entziehen kann, anrührend und bewegend ohne falsche Sentimentalitäten oder Theatralik. Der Film ist ein politisch­-humanitäres Manifest, das ohne Schuldzuweisungen auskommt, und wohl nicht zuletzt des­wegen überzeugt.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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