Rivesaltes, in den östlichen Pyrenäen gelegen: eine ausgedehnte Schotterebene, brennend heiß im Sommer, eisig im Winter. In diesem Umkreis befand sich ab 1939 ein Auffanglager für spanische Republikaner, die vor dem Krieg flohen. Wie Jacqueline Veuve feststellte, spricht dort aber niemand von den Juden, die ebenda interniert waren, bevor sie nach Drancy und dann in die Todeslager deportiert wurden. Keine Inschrift erinnert an die Schandtat, »Niemand weiß davon oder will davon wissen«, hält die Waadtländer Filmemacherin fest.
Nun gibt es aber doch einen Augenzeugenbericht: derjenige einer Schweizer Krankenschwester, die ein Jahr lang – von 1941 bis 1942 – im Lager von Rivesaltes arbeitete. Friedel Reiter, 1912 geboren, war Kinderkrankenschwester und kam im Rahmen der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes nach Rivesaltes. Während des zwölfmonatigen Aufenthalts dort führt die junge Frau ein Tagebuch, dessen zwei Hefte fünfzig Jahre lang in der Schublade lagen, bevor sie nun eine Historikerin entdeckte und ans Licht beförderte.
Zu Beginn widersetzte sich Reiter der Publikation ihrer Schriften, die sie für zu »sentimental« hielt. Doch dann erinnerte sie sich an diese Frau, die – bereits auf dem Zug der Deportation – ihr zurief: »Vergeßt mich nicht! « Dieser Aufschrei, der sie seit einem halben Jahrhundert heimsucht, hat ihr schließlich den Mut gegeben, das Buch zu veröffentlichen: »Ich bin ihr treu geblieben. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich sie nicht vergessen können.«
Für Jacqueline Veuve ist die Geschichte von Friedel Bohny-Reiter »wie ein Stück blauer Himmel in der dunklen Geschichte der Schweiz während des Kriegs«. Sie bewundert die Ausstrahlung der Krankenschwester, ihr Mitleid: diese verlorengegangene menschliche Tugend. »Ich liebe die kleinen Leute, die zu Helden werden.« Die Filmemacherin brachte Friedel zurück nach Rivesaltes: »Nun bin ich wieder hier. 54 Jahre später. Ein seltsames Gefühl«, meint diese am Ort des Lagers. Die alte Frau durchmißt den verlassenen Ort, findet Spuren der Vergangenheit, erinnert sich; an die drei- und vierjährigen Kinder, die sie in der Nähe des Stacheldrahts auflas, nachdem deren Eltern in den Zug Richtung Tod gestiegen waren. Oder an jene Frau hinter den Gitterstäben des Waggons, die »die ganze Menschheit anklagte«. Noch heute versucht Friedel in Aquarellen den Blick der verlorenen Kinder wiederzufinden. »Ich versuche zuversichtlich zu bleiben, ich lebe nur durch das Gebet, durch den Glauben, ohne ihn könnte ich nicht weiterleben.«
Um die schreckliche Geschichte von Rivesaltes zu erzählen, von wo aus 3213 Juden, davon 140 Kinder, in den Tod geschickt wurden, alterniert die Filmemacherin heutige Ansichten des Ortes mit Auszügen aus dem Buch von Friedel Bohny-Reiter. Sie wechselt von Fotos aus der Zeit zu Aussagen von Überlebenden: damalige Kinder, denen die Krankenschwester das Leben rettete. Noch fünfzig Jahre später brechen sie in Tränen aus. In Schlichtheit und mit Würde zeichnet Veuve das Porträt eines Engels in der Hölle und bekräftigt – in Anlehnung an Schindler's List – daß »wer einen Menschen rettet, die ganze Menschheit rettet«. Gleichzeitig legt sie damit ein besonders heikles Kapitel der Gegenwartsgeschichte offen: Die Franzosen mögen es nicht, daß man ihnen vor Augen hält, daß auch sie eine Rolle bei der Judendeportation gespielt haben.