ANTOINE DUPLAN

JOURNAL DE RIVESALTES, 1941 – 1942 (JACQUELINE VEUVE)

SELECTION CINEMA

Rivesaltes, in den östlichen Pyrenäen gelegen: eine ausgedehnte Schotterebene, brennend heiß im Sommer, eisig im Winter. In diesem Umkreis befand sich ab 1939 ein Auffanglager für spani­sche Republikaner, die vor dem Krieg flohen. Wie Jacqueline Veuve feststellte, spricht dort aber niemand von den Juden, die ebenda inter­niert waren, bevor sie nach Drancy und dann in die Todeslager deportiert wurden. Keine In­schrift erinnert an die Schandtat, »Niemand weiß davon oder will davon wissen«, hält die Waadtländer Filmemacherin fest.

Nun gibt es aber doch einen Augenzeu­genbericht: derjenige einer Schweizer Kran­kenschwester, die ein Jahr lang – von 1941 bis 1942 – im Lager von Rivesaltes arbeitete. Frie­del Reiter, 1912 geboren, war Kinderkranken­schwester und kam im Rahmen der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes nach Rive­saltes. Während des zwölfmonatigen Aufent­halts dort führt die junge Frau ein Tagebuch, dessen zwei Hefte fünfzig Jahre lang in der Schublade lagen, bevor sie nun eine Historike­rin entdeckte und ans Licht beförderte.

Zu Beginn widersetzte sich Reiter der Publikation ihrer Schriften, die sie für zu »sentimental« hielt. Doch dann erinnerte sie sich an diese Frau, die – bereits auf dem Zug der Deportation – ihr zurief: »Vergeßt mich nicht! « Dieser Aufschrei, der sie seit einem halben Jahrhundert heimsucht, hat ihr schließlich den Mut gegeben, das Buch zu veröffentlichen: »Ich bin ihr treu geblieben. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich sie nicht vergessen können.«

Für Jacqueline Veuve ist die Geschichte von Friedel Bohny-Reiter »wie ein Stück blauer Himmel in der dunklen Geschichte der Schweiz während des Kriegs«. Sie bewundert die Ausstrahlung der Krankenschwester, ihr Mitleid: diese verlorengegangene menschliche Tugend. »Ich liebe die kleinen Leute, die zu Helden werden.« Die Filmemacherin brachte Friedel zurück nach Rivesaltes: »Nun bin ich wieder hier. 54 Jahre später. Ein seltsames Ge­fühl«, meint diese am Ort des Lagers. Die alte Frau durchmißt den verlassenen Ort, findet Spuren der Vergangenheit, erinnert sich; an die drei- und vierjährigen Kinder, die sie in der Nähe des Stacheldrahts auflas, nachdem deren Eltern in den Zug Richtung Tod gestiegen waren. Oder an jene Frau hinter den Gitter­stäben des Waggons, die »die ganze Menschheit anklagte«. Noch heute versucht Friedel in Aquarellen den Blick der verlorenen Kinder wiederzufinden. »Ich versuche zuversichtlich zu bleiben, ich lebe nur durch das Gebet, durch den Glauben, ohne ihn könnte ich nicht wei­terleben.«

Um die schreckliche Geschichte von Rive­saltes zu erzählen, von wo aus 3213 Juden, da­von 140 Kinder, in den Tod geschickt wurden, alterniert die Filmemacherin heutige Ansichten des Ortes mit Auszügen aus dem Buch von Friedel Bohny-Reiter. Sie wechselt von Fotos aus der Zeit zu Aussagen von Überlebenden: damalige Kinder, denen die Krankenschwester das Leben rettete. Noch fünfzig Jahre später brechen sie in Tränen aus. In Schlichtheit und mit Würde zeichnet Veuve das Porträt eines Engels in der Hölle und bekräftigt – in An­lehnung an Schindler's List – daß »wer einen Menschen rettet, die ganze Menschheit rettet«. Gleichzeitig legt sie damit ein besonders heik­les Kapitel der Gegenwartsgeschichte offen: Die Franzosen mögen es nicht, daß man ihnen vor Augen hält, daß auch sie eine Rolle bei der Judendeportation gespielt haben.

Antoine Duplan
geb. 1957, leitender Redaktor des Ressorts Kultur von L’Hebdo, lebt in Lausanne.
(Stand: 2019)
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