»Kaddisch« ist das jüdische Totengebet, das im Trauerjahr für das Seelenheil der Verstorbenen gesprochen wird. Der Film ist ein Totengebet für den verstorbenen Auschwitz-Überlebenden Gyuri Ganzfried. Aber auch für alle anderen Holocaust-Opfer, darunter die vielen, die nicht einmal ein eigenes Grab haben wie die 54 während des Kriegs umgekommenen Verwandten der Schwester Ganzfrieds.
Dem Film liegt Daniel Ganzfrieds Roman Der Absender (1995) zugrunde, in dem der Schriftsteller Elemente aus der Lebensgeschichte seines Vaters vielschichtig zusammensetzt. Gyuri Ganzfried wuchs in Ungarn auf und wurde als 13jähriger mit seiner ganzen Familie nach Auschwitz verschleppt. Er überlebte das Lager und versuchte danach vergeblich, irgendwo Fuß zu fassen: in Budapest, in Israel und in der Schweiz, wo er schließlich starb. Seine Kinder zogen nach einer gescheiterten Ehe zu den Großeltern nach Bern.
Die Rahmenhandlung des Films folgt der »Shiwa«, der siebentägigen jüdischen Trauerzeit, die Verwandte und Freunde gemeinsam verbringen, um Erinnerungen an den Verstorbenen wiederaufleben zu lassen, und zu der der Film immer wieder zurückkehrt. Klare Grenzen zwischen Realität und Fiktion werden verwischt, wurde die Shiwa doch für den Film inszeniert; aus ihr ergab sich dann das dokumentierte Zusammensein der Angehörigen und das gemeinsame Erinnern. Gyuri Ganzfried wird von einem Schauspieler, Bács Ferenc, dargestellt, der mit seiner fiktiven Tochter Hannah – von der Schauspielerin Serena Wey gespielt – auf den Spuren seiner Vergangenheit durch Europa reist.
Die »Tochter« führt uns nach Glasgow, Bern oder in die ungarische Provinzstadt Nyíregyhaza, wo sie Angehörige und Freunde ihres »Vaters« befragt. Diese erinnern sich an die Kriegszeit in der Schweiz, wo gepackte Koffer für den Notfall bereitstanden, an das Ghetto, an die Deportation, an die treibende Kraft, inmitten dieses Schreckens zu überleben.
Über Ganzfried selbst erfahren wir erstaunlich wenig: daß er rastlos war und sich nach seiner Zeit in Auschwitz nirgends für längere Zeit niederließ, daß er seit damals nicht mehr Zug fahren konnte, dafür um so lieber das Schiff nahm. Daß er in Auschwitz einmal einem Freund das Leben rettete, der ihm ebenfalls das Lehen gerettet hatte. Gyuri Ganzfrieds Schicksal belegt die wenig erstaunliche Tatsache, daß, wer lebend aus Auschwitz rauskam, ein Leben lang von der Erinnerung daran geprägt war.
So vielfältig der Film formal auch ist – die Rahmenhandlung der Shiwa, der Wechsel von Schwarzweiß zur Farbe, von der Realität zur Fiktion, der Einsatz der Musik (Dimitri Schostakowitsch) –, so wenig vermag er als Ganzes zu überzeugen. Vielleicht liegt es daran, daß zu viele Menschen involviert sind und man sich auf niemand richtig einlassen kann. Sicher liegt es daran, daß die Schauspielerin, die die Tochter mimt, mit ihrer ewig ernsten und schrecklich mitleidenden Miene zu allgegenwärtig, zu dominant ist. Und wahrscheinlich liegt es daran, daß der Film so gemacht ist, als wenn es Shoa von Claude Lanzmann nicht gäbe, der bereits den Erinnerungsprozeß an den Holocaust thematisiert und in Gang gesetzt hat.