Am Rande der Gemeinde von La Tour-de-Peilz erhebt sich ein Dampfer aus Zement, Glas und Eisen: die Villa Kenwin. Der vielfarbige, geradlinige Quader entstand 1931 nach Zeichnungen des Berliner Architekten Hermann Henselmann und zeugt von der Ästhetik des Bauhaus. Die Auftraggeber stammen aus England: der Filmemacher Kenneth Macpherson und seine Frau Winnifred Bryher, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin. Kenwin sollte ein Ort neuer, kreativer zwischenmenschlicher Beziehungen werden. Macpherson publizierte zwischen 1927 und 1933 Close Up, eine Filmzeitschrift, die sich der Avantgarde widmete, und drehte in der Genferseeregion vier Filme, von denen aber nur noch einer ganz erhalten ist: Borderline (1930).
Von 1933 an gerät das Kulturprojekt mehr und mehr ins Schlingern. Close Up erscheint nicht mehr. Der Krieg zerstreut die kleine Intellektuellengruppe, die sich in und um Kenwin bewegt hatte. Das avantgardistische Intermezzo hat in der Region um Vevey kaum Spuren hinterlassen. Nach dem Tod von Winnifred 1983 wurde die Villa sich selbst überlassen, bis drei Jahre später der aus Montreux stammende Architekt Giovanni Pezzoli das Gebäude restaurierte.
Die Genfer Filmemacherin Veronique Goël entdeckte Kenwin in London, wo sie an einem Spielfilm über die Dichterin Hilda Doolittle, »HD«, arbeitete. Ein Jahr lang dauerten die Recherchen über die Bewohner der Villa. Sie machte sich mit deren umfangreichen Korrespondenz und Büchern vertraut und traf sich mit Perdita Schaffner, der Tochter von HD, die in den USA lebt. Ihr Film sollte den »rein dokumentarischen Rahmen sprengen«.
Véronique Goël hält das Interieur der Villa auf Film fest, enthüllt die 3000 Kubikmeter Innenraum, die durch das Licht um den See immer wieder neu gestaltet werden. Interpretiert werden die Räume aber auch durch die zeitliche Dimension: Zwischen die Travellings schieben sich alte Dokumente, Photographien und Filmfragmente. Off-Stimmen lesen Auszüge aus dem Briefwechsel und den Gedichten von HD, Bryher, Robert Mc Almon, Macpherson und Perdita. Diese Textausschnitte erlauben es ihrerseits, ins Innere der Personen vorzudringen. Ohne biographisches Beiwerk oder chronologische Anhaltspunkte schälen sich die »bewegten Geister« aus dem Raum, und wir begegnen Gertrude Stein, Sigmund Freud, D. H. Lawrence, Ernest Hemingway, André Gide, Sergej Eisenstein, James Joyce, Man Ray und Luis Aragon. Wir erfahren amüsante Anekdoten aus dem häuslichen Zusammenleben, drollige Spitznamen, den Zweifel hinter dem Genie.
Fern sowohl hagiographischer Verklärung als auch beißender Kritik enthüllt die Filmemacherin die Personen in ihren Widersprüchen und ihrer Ambivalenz als »kreative und kühne Kunstliebhaber«, die einerseits nach dem Höchsten strebten, andererseits zu kleinlicher Pedanterie fähig waren. Nach und nach, in subjektiver, impressionistischer Weise, umfängt uns die Atmosphäre von Kenwin, dringen wir in diesen Kreis verschwundener Dichter vor, spüren wir ihren Atem, nehmen wir die Seele der Örtlichkeiten wahr. Ist das nun ein Dokumentarfilm?
Die Filmemacherin spricht von einem »eigentlichen Spielfilm, auf der Basis von Dokumenten«. Kenwin kann aber auch als »Gespenstergeschichte« gelesen werden: Dank des Kinos sprechen diese großen Geister nach wie vor zu uns.