KATHLEEN BÜHLER

SYLVIE, SES MOTS POUR LE DIRE (DANIEL SCHWEIZER)

SELECTION CINEMA

Das Doku-Porträt von Daniel Schweizer bildet die Fortsetzung zu seinem Dokumentarfilm Vivre avec (1993). Damals sprach die knapp dreißigjährige, zweifache Mutter Sylvie darüber, was es bedeutet, mit dem Hl-Virus zu leben. Im neuen Film spricht sie nun darüber, was es bedeutet, an Aids zu sterben. Getreu dem Titel überläßt ihr der Filmemacher ganz das Wort. Sylvie bricht in ihrem Kommentar, der von Laure Marsac gesprochen wird, das hartnäckige und schamerfüllte Schweigen, welches üblicherweise das Sterben von aidskranken Menschen umhüllt. Mit Interviews der Krankenbegleiterin Dominique, des Ehemannes Alain sowie des Mitkämpfers Philippe, Ausschnitten von privaten Familienfilmen, Aktionen der Groupe Sida Genève sowie subjektiven Passagen, welche das Innenleben der Protagonistin evozieren, gestaltet Daniel Schweizer eine Collage von Eindrücken, die neben dem Porträt auch die Schlußphase der Immunschwächekrankheit bis zum Tod umfaßt. Dabei verfolgt der Filmer eine didaktische Dramaturgie. Eingebettet in die Dokumentation der Groupe Sida Genève, beginnt die persönliche »Chronik eines angekündigten Todes« als Spaziergang der jungen Familie in einem Klatschmohnfeld, welches auf den vermutlichen Ansteckungsweg hinweist. Am Ende schließt sich der Kreis mit demselben Spaziergang, der nun zur Erinnerung geworden ist.

Verschiedene Male sprengt der Film die reine Dokumentation und versucht mit experimentell gestalteten Sequenzen innere Bilder umzusetzen. Zum Beispiel als Sylvie den Kontinent ihrer Träume beschreibt oder als die Chronik zum Moment des Unfilmbaren kommt, wo die Protagonistin in Anbetracht des nahenden Todes das Gefilmtwerden verweigert. Daniel Schweizer setzt diesen Augenblick konsequenterweise durch Bildstörungen um und findet schließlich für den Tod die Metapher des Schiffes, das vom Ufer ablegt. Der lakonisch gesprochene, luzide Kommentar vermeidet Weinerlichkeit. Im Gegensatz zur Schwere des Themas stehen wohltuend bunte, lichterfüllte Kameraaufnahmen als gelungene Darstellung des Lebensmutes von Sylvie und ihrer angestrebten Leichtigkeit im Sterben.

Die Verbindung von persönlich gefärbtem Porträt mit der Dokumentation über die Groupe Sida Genève entspricht einerseits der politischen Haltung der Protagonistin, welche sich in den Dienst der guten Sache stellte, und ist anderseits vorbestimmt, da die Groupe Sida Genève Auftraggeberin des Films ist. Weil Sylvies Engagement für die Gruppe im Laufe des Films jedoch in den Hintergrund tritt und Daniel Schweizer ihren persönlichen Abschied vom Leben stärker gewichtet, vermag der Film die Kombination von Einzel- und Gruppenporträt nicht mehr überzeugend zu vertreten. Anstatt daß das außergewöhnlich starke Porträt der hellsichtigen Sylvie der Institution Glanz verleiht, entwickelt ihre Strahlkraft eine Eigendynamik und macht den institutioneilen Rahmen überflüssig.

Kathleen Bühler
*1968, Dr. phil., studierte Kunstgeschichte, Filmwissenschaft sowie Philosophie und promovierte an der Universität Zürich über das Experimentalfilmschaffen von Carolee Schneemann (Marburg 2009). Seit 2008 Kuratorin und Leiterin der Abteilung für Gegenwartskunst am Kunstmuseum Bern.
(Stand: 2019)
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