DORIS SENN

HÔTEL ABYSSINIE (PATRICIA PLATTNER)

SELECTION CINEMA

Äthiopien stand schon Ende des vergangenen Jahrhunderts erfolglos im Kolonialisierungsvisier Italiens. Was damals mißlang, sollte Mussolini 1935/36 jedoch vollziehen: Das afrikanische Land wurde bis 1941 Italienisch-Ostafrika angegliedert. Spuren dieser Schicksalsgemeinschaft finden sich dort bis heute, fand doch ein reger kultureller Austausch statt: Viele während der kurzen Dominationszeit Eingewanderten blieben, Architektur und Lebensweise wurden durch die italienische Oberherrschaft nachhaltig geprägt. Paolo Poloni hat in seinem Film Asmara (1993) bereits ein Licht auf diese Episode der Weltgeschichte geworfen, wobei ihm die Biographie seines Vaters als Kristallisationspunkt diente. Patricia Plattner tut Ähnliches in umfassenderer Weise nun mit Hôtel Abyssinie.

Ausgehend von einer Arbeit der Historikerin Fabienne Le Houerou, publiziert unter dem Titel Les ensables, hat die Regisseurin in ihrem Dokumentarfilm die Einwanderer von damals befragt - größtenteils Männer, vereinzelt auch Frauen, außerdem Partnerinnen und Nachkommen aus gemischten Ehen. Bilder des heutigen Alltagslebens alternieren mit den Aussagen und Erinnerungen der Interviewten. Ausschnitte aus historischen Propagandafilmen spannen den Bogen zum Damals und illustrieren die mit faschistischem Pathos verbrämte Aufbaubegeisterung. Als stumme Zeugen der Vergangenheit dienen die Bilder von Bauten aus der damaligen Zeit, darunter die etwas lädierten, aber nach wie vor imposanten Kinos wie etwa das Cinema Impero. Oder die Bars, Gelaterie und Pasticcerie, die nicht zuletzt auch den kulinarischen Einfluß Italiens belegen.

Die Beweggründe, in den dreißiger Jahren nach Afrika zu gehen, decken sich für die befragten Einwanderinnen und Einwanderer nahezu: »Aria della libertà« hätte man im damaligen Äthiopien geschnuppert - im Gegensatz zu Italien, wo Krieg herrschte, Hunger, Arbeitslosigkeit und Meinungsdiktatur. Überhaupt erinnern die meisten die Jahre damals mit Begeisterung: eine glückliche Zeit, in einem Land, das ihnen alles bot und in dem sie ihre Jugend voll ausleben konnten. Was ihnen an Italianità fehlte, wurde importiert oder selbst geschaffen. Die Afrikaexpedition Mussolinis bot den meisten die Möglichkeit, sich mit der Unterstützung des Mutterlandes eine bequeme Existenz aufzubauen. Der schwarze Kontinent wurde zur zweiten Heimat. Das Zusammenleben mit der einheimischen Bevölkerung wird kaum problematisiert.

Die Bilder aus Äthiopien, aus Asmara und Addis Abeba zeigen ein Afrika, in dem die vorkoloniale Zeit und die erste Phase der Kolonialisierung nebeneinander weiterbestehen, etwas heruntergekommen die Zeugnisse der letzteren zwar, doch in scheinbar harmonischer Verschmelzung, ohne die tiefen Wunden einer modernen Industrialisierung oder die klaffenden Gegensätze eines in der Abhängigkeit der Ersten Welt gefangenen Entwicklungslandes. Der Zustrom aus Italien ist längst versiegt, die Auswanderung junger Äthiopierinnen nach Italien hingegen kontinuierlich.

Die Erzählungen der meist sehr alten Menschen weben ein Netz von oral bistory. Über die weite Sandwüste und Steppe Afrikas legen sich neapolitanische Volkslieder und versinnbildlichen das Neben- und Miteinander zweier so unterschiedlicher und geographisch entfernter Kulturen als langanhaltende Folge einer kurzen Kolonialisierungszeit.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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