DORIS SENN

SIGNERS KOFFER (PETER LIECHTI)

SELECTION CINEMA

Wo Stühle mit Funkengischt durch Fenster in die Lüfte fliegen und ein weißes Tischchen in Eimern durch den einsamen Bergsee segelt, wo mit Schnarchen die isländische Steinwüste beschallt wird und wehende Bänder an Hagelraketen ihre Zeichen in den Vulkanhimmel schreiben: Dort ist das Reich des Aktionskünstlers Roman Signer, in das uns der Film von Peter Liechti entführt.

Zeit ist ein wesentlicher Faktor von Signers Kunst und vielfach auch inhaltliches Element seiner »temporären Skulpturen« - wenn etwa ein Wecker den Fluß hinuntertreibt oder seine Installationen mittels Zeitzündung explodieren. Die Aktionen selbst sind von kurzer Dauer, nicht reversibel. Und hier nun übernimmt der Film die Aufgabe, das Geschehen festzuhalten, den Aufbau der Installationen spannungsvoll mitzuverfolgen, das Schauereignis mittels Zeitlupe zu verlängern und aus verschiedenen Perspektiven zu variieren.

Liechti dokumentiert schon seit geraumer Zeit Signers Kunst-»Ereignisse« in Photographien und auf Video. In einer komplexen Montage bettet der Film diese »Ansichten« nun in Signers Lebens- und Erlebniswelten ein: Seine Heimat ist das Appenzell; seine verwandtschaftlichen Beziehungen greifen in den Osten, nach Polen; seine Reisen führen ihn von Stromboli bis nach Island. Der assoziative Schnitt fügt Kultur an Kultur - oft auch in einem kontrastreichen Übereinanderlegen von Ton (Musik) und Bild. Er verknüpft Alltag und Sublimation: Signer unterhält zu seinem Piag- gio eine ähnlich liebevolle Beziehung wie sein Schwiegervater zu seinem Trabi. Die Fahrzeuge erhalten einen weit über ihre Funktionalität hinausgehenden Symbolwert und werden zum Ausgangspunkt für Signer, um über Weltordnungen und -anschauungen zu reflektieren. Und schließlich entsteht nicht zuletzt ein Verwirrspiel um Kunst und »Nicht-Kunst«: So wird auch das Sprengen der Autobahnbrücke zum kreativen Akt, der Wasservulkan zum inszenierten Naturspektakel.

Signer selbst kommt in knappen Einblendungen zu Wort. Sinn oder Unsinn ist ihm keine Frage. Unprätentiös zeigen seine Gedanken die eigenwillige Synthese von Spiel und philosophischer Reflexion auf, erläutert er seine Suche nach dem Dialog mit der Natur als eine reizvolle Herausforderung. Die Wucht der Elemente, Eruptionen und Explosionen interessieren ihn - Signer wurde auch schon Sprengkünstler genannt -, die Spannung/Entspannung von »seelischer Kompression und Expansion«. Und wieder stellt sich Inszeniertes neben Spontanes, Kunst neben Natur.

Viele dürften ihn einerseits belächeln und andererseits beneiden. Wie da einer hemmungs- und skrupellos seiner Spielfreude freien Lauf läßt, seine Lust an der Bewegung, der Mechanik, dem Experiment auslebt, die Zerstörung zelebriert. Und dies, nicht ohne sich dabei selbst oft ins gefährliche Spiel mit den Elementen einzuspinnen: auf dem gefrorenen See ins Eisloch einbricht, aus den wassergefüllten Hosen kippt oder sich die Mütze mittels Rakete vom Kopf lupfen läßt. Normalität und Absurdität gehen nahtlos ineinander über.

Und der Film funktioniert: Das Publikum läßt sich darauf ein, spielt mit, ist verblüfft und erheitert über Unvorhergesehenes, reagiert mit Vorfreude auf Absehbares, wobei der Film die Spannung geschickt aufzubauen weiß. Beim Plattenspieler mit Marschmusik beispielsweise, wo das Bevorstehende mit Blick auf die lange Zündschnur und den drohenden Sandsack augenzwinkernd vorweggenommen wird. Signers Koffer wird so zu einem Kunst-Happening filmischer Art.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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