IRENE GENHART

AROUND THE BLOCK (ALAIN KLARER)

SELECTION CINEMA

»It’s only a reflection, you’re elsewhere«, steht in Around the Block auf Barbara Bargs Spiegel geschrieben. Barbara mag um die vierzig sein, ist schmal und hat große, glühende Augen. Sie verdient sich als Sekretärin ihr Leben, ist aber eigentlich Poetin und Sängerin. Sie hat eine eigene Band, ist eine Frau voller Power - und ein Ex-Junkie. Ein knappes Dutzend ehemaliger Drogensüchtiger hat Alain Klarer vor die Linse gebeten und in Around the Block den schwierigen Weg von der Sucht weg und das ebenso schwierige Leben jenseits von Höhenflug und Höllenpein nachgezeichnet. Meist bitter - aber auch sehr spirituell sind die Erfahrungen, von denen Klarers Protagonisten erzählen: ein Dasein voller Kämpfe und Krämpfe, das hinter (aber auch noch vor) ihnen liegt. Around the Block ist ein Gruppenporträt von Menschen, die den ihnen innewohnenden Trieb, die eigene Gier und Sucht (mehr oder weniger) erfolgreich bezwungen haben und in diesem Sinne, wie Klarer das ausdrückt, allesamt »win- ners« sind. Fragmentarisch holt Klarer die Sucht- und Lebensgeschichten seiner Protagonisten ein. Was sie erzählen, ist erschütternd, tragisch, traurig. »Jeder meiner Arme«, sagt Barbara, »ist 25 000 Dollar schwer.«

»Es ist so leicht zurückzugehen, auch jetzt noch«, erklärt Joe, der wie Barbara seit einigen Jahren ohne Drogen lebt. »Die Hingabe an die Sucht ist so stark, daß du ihr jederzeit wieder verfallen kannst. Dann kehrst du nicht wieder zurück. Denn du kannst es nicht einen Tag tun, und am nächsten sein lassen...« Joe lebt wie Barbara, wie Melinda, Joey, Shawn, Ashley, George, Michel, Chris, Marilyn und Shantae in New York. Er hat über Jahre die Wohnung nur verlassen, um sich einen neuen Kick zu verschaffen. Joe arbeitet heute als Koch. Er ist einer der besten, holt sich eine Beförderung nach der andern und besucht Treffen, auf denen die Tage nach der Sucht wie ein neues Leben gefeiert werden.

Klarer hat Männer und Frauen interviewt, die schon länger ohne Drogen leben - läßt aber auch Joey und Melinda erzählen, die zusammen einen Entzug machen, in einem Methadon-Programm stecken und der Versuchung des Rückfalls noch viel stärker ausgesetzt sind als die andern. Klarer klagt nicht an, beurteilt nicht, er dokumentiert. Kommentarlos läßt er erzählen, hält Emotionen, Betroffenheit, Angst fest, wobei kleine Gesten und Blicke oft mehr sagen als Worte. Klarer hat seine Protagonisten zu Hause, auf der Straße, bei der Arbeit gefilmt. Er hat die Kamera hingehalten, unaufdringlich, und er hat auch da nicht zu filmen aufgehört, als Joey und Melinda in Angst vor einem Dealer fluchtartig das Lokal verlassen.

Around the Block erinnert in seiner patchworkartigen Machart und der ungezwungenen Erzählfreiheit der Protagonisten, an Baily House, Klarers Film über ein New Yorker Aids-Krankenheim und dessen Bewohner. Da wie dort vereinigt Klarer viele kleine Stories zu einer großen Geschichte und schafft einen soliden Dokumentarfilm, der aber auch die Grenzen des Genres ausreizt. Er läßt seine Protagonisten in ihren Erinnerungen wühlen, scheut sich aber auch nicht davor, einzelne Szenen - wie etwa das Aufnahmeritual in einer Entzugsanstalt - realitätsnahe nachzustellen: Around the Block ist ein schonungsloser und sehr offener Film, der trotz (oder gerade wegen seines Themas) Freude macht und Hoffnungen weckt.

Irene Genhart
geb. 1961, Studium der Germanistik, Philosophie und Filmwissenschaft in Zürich und Berlin. Verschiedene Praktika im Bereich Film und Medien, seit 1988 freie Filmjournalistin, seit 1991 Fachreferentin für Film, Theater, Photographie und Tanz an der Zentralbibliothek in Zürich. Eine Tochter, Zoe Sofie, geboren 1991.
(Stand: 2019)
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