RUTH ROTHENBERGER

UMGEZOGEN - (UMA PASSAGEM PARA O »PRIMEIRO MUNDO«) (GITTA GSELL)

SELECTION CINEMA

Vier brasilianische Frauen, zwei mit Schweizer Ehepartnern, eine Tänzerin, eine Studentin, erzählen von ihrem Leben in der Schweiz. Hergereist mit den in Lateinamerika (und anderswo) weitverbreiteten Vorstellungen von der Schweiz als Paradies, wurden sie mit den wenig erfreulichen Seiten des helvetischen Alltags konfrontiert. Sie formulieren die Schwierigkeiten mit den Schweizerinnen bei der Arbeit und in den persönlichen Beziehungen. Mit Befremden sehen sie unsere Versklavung durch die Zeit und das Geld, während sie in ihrer Identität vielmehr abhängig von einem Umfeld emotionaler Wärme sind. Das ist nur einer der kulturellen Unterschiede, die ihr Leben erschweren. Bei allen hat eine massive Desillusionierung stattgefunden: Die Frage nach der Zukunft beantworten alle mit dem eindeutigen Wunsch nach einer möglichst baldigen Rückkehr. Der Film war ursprünglich als Aufklärungsmaterial für Frauen in Brasilien konzipiert in Zusammenarbeit mit dem Zürcher Fraueninformationszentrum.

Die Dokumentation zeichnet schrittweise und chronologisch die verschiedenen Stationen der (Zwangs-)Assimilation nach und läßt mehrere Frauen zum gleichen Thema zu Wort kommen. Dabei blicken die erzählenden Frauen meist frontal in die Kamera, selbstinszeniert in den eigenen Räumen. Gelegentlich begleitet sie die Kamera bei ihren Gängen durch die Stadt, und Schauplätze ihres Lebens rücken ins Bild. So weit, so konventionell. Doch Gsell experimentiert auch ausgiebig mit den technischen Möglichkeiten.

Zu Beginn purzeln computeranimierte Symbole des glücklichen Lebens auf dem Bildschirm durcheinander. An den Übergängen von einer Sequenz zur anderen tauchen animierte und technisch verfremdete Bilder auf. Der Entfremdung und Einsamkeit der Migrantinnen entsprechen Bilder vom öffentlichen Leben in der Stadt Zürich: viele Menschen ohne Bezug zueinander, die sich ruckartig in extremer slow motion bewegen. Die überleitenden Teile sind von kühlem elektronischem Klang begleitet.

Die Erzählpassagen werden durchgehend mit »realen« Bildern gepaart, während Wunschvorstellungen und psychische Zustände technisch, das heißt in der Postproduktion, umgesetzt wurden. Nicht alle experimentellen Teile sind so klar motiviert wie die geschilderten. Als Gesamteindruck bleibt eine auffällige Diskrepanz zwischen der herkömmlichen Ästhetik der talking heads und den erfrischend spielerischen Sequenzen. Mit etwas gutem Willen (die Zuordnung ist nicht konsequent durchgeführt) kann die formale Spannung durchaus als Hinweis auf die Desintegration von Traum und realer Existenz im Leben der Porträtierten gelesen werden.

Ruth Rothenberger
geb. 1959, lic. phil. I, Linguistin, Aufbau und Mitarbeit bei »Frauen hinter der Kamera« (KinoK, St. Gallen), schreibt über Film und Literatur, lebt in St. Gallen.
(Stand: 2019)
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