MARION STRUNK

INSZENIERUNG DER KÄLTE — ZU BUTTERFLY KISS VON MICHAEL WINTERBOTTOM*

ESSAY

Sieh mal, wer da ist! Ich bin ’s. Da bin ich. Sieh ’s dir an! Hier bin ich.

Der Ruf der Eunice. Sie ist unterwegs, on the road. Auf der Suche nach einer Platte über Liebe taucht sie im Kiosk einer Tankstelle auf. Das Verlangen, gesehen zu werden, kommt als Imperativ daher. Wie eine Posaune im Streichorchester. Sie begehrt; Sehen und Hören; sinnliche Wünsche, die nach Erfüllung drängen. Die Antwort:

Wir haben klassische Liebessongs und Songs von der Liehe. Ich kenn’ mich nicht gut aus mit Musik, wir verkaufen hauptsächlich Benzine.

Du bist Judith, richtig?

Nein.

Schnitt auf den blutüberlaufenen Kopf des am Boden liegenden Frauenkörpers: nicht Judith.

Das Ritual einer Serienkillerin. Im Roadmovie.

Es war irgendwas mit Liehe, ich weiß nur nicht mehr, von wem es war.

Wir haben klassische Liebessongs, und wir haben Songs von der Liehe.

Es ist Klavier dabei. Es ist kein richtiger Liebessong als solcher. Es ist ein Song über Liebe. Da geht’s drum, worum’s bei der Liebe geht.

Das klingt gut.

Es ist gut.

Wir haben ’s nicht da.

Du bist Judith, nicht wahr?

Ich? Nein, tut mir leid.

Liebessehnsucht, Tod, das Böse und Verzweiflung: Die Themen des Films sind aufgeworfen.

Judith - der Name zitiert den alttestamentarischen Mythos von Judith und Holofernes - ist Metapher für eine Tat, die Rettung mit List erreicht: Judith - in Begleitung ihrer Magd Adra - lockte den assyrischen Feldherrn Holofernes, verführte ihn, machte ihn betrunken und schlug ihm den Kopf ab. Bethunien mußte sich nicht länger vor einem Angriff fürchten, die Gefahr des Krieges war vorbei. Das Töten war Opferung für die Rettung.

Eunice wiederholt mimetisch in Identifikation mit der besonderen Tat die Opferung. Sie verlangt nach der Heldin des Widerstandes und der Rettung, was zur unerfüllbaren Erwartung wird. Eunice tötet nicht im Affekt, aus Angst oder gar aus Lust; das Töten interessiert sie nicht, es ist sinnlos, die Opfer sind beliebig. Das Töten geschieht aus einer Verlockung zur Macht über die Enttäuschenden, denn die Suche bleibt ohne Hoffnung, die Sehnsucht ohne Echo. Die anderen haben den Tod verdient und keinen Platz auf dieser Welt, das ist gewiß. Eunice macht sich zum heroischen Subjekt, das die Macht hat zu töten. Ihre Verzweiflung ist ein vom Pathos der Distanz gedämpfter Schmerz, nicht abgründige oder haltlose Verzweiflung. Das Immergleiche des Rituals vermag zunächst die innere Unruhe zu lösen, eine Zeitlang Kohärenz zu gewähren; der Preis ist die Rückkehr zur Ordnung. Mit jeder Wiederholung wird die Differenz zum Wiederholten geringer, was zunächst wie eine Grenzüberschreitung erscheint, wird zur Grenzheruntersetzung: Die Figur bleibt in ihre Verzweiflung verstrickt. Das Tötungsverbot hat keine Bedeutung mehr, die Aufhebung des letzten Tabus geschieht mit Leichtigkeit, ohne Schuld und Sühne. Das Gesetz zu verlassen wird identisch mit Widerstand und Machtanspruch. Eunice will Unabhängigkeit, fordert aber gleichzeitig Aufmerksamkeit.

Diese Ambivalenz verwandelt sie in ein Gefühl von Erhabenheit, eine Größe, die an nichts mehr gemessen werden kann. Konsequent bleibt der Film außerhalb jeder Moral; die Handlungen sind unbewertbar, unmeßbar und bleiben folgenlos; sie entwickeln sich aus der Interaktion der Figuren zur ästhetischen Inszenierung. Ihr Töten - einer Konfliktdarstellung entzogen - wird mit jeder Handlung gleichgültiger und somit unbedrohlich für Kulturwerte, die als bereits ruinierte vergessen sind. Ohne Ziel und Grund hat das Töten keine Geschichte mehr, weder eine individuelle noch eine kulturelle, es bleibt ganz im Moment wie eine Performance und erscheint als Gegen-Macht und als Gegen-Spiel zur Stabilität des Rationalen. Das Böse erhält eine vom Guten befreiende Kühnheit.

Du bist Judith, nicht wahr?

Ich? Nein, tut mir leid. Miriam, ich bin Miriam. Oder auch Mimi. Mutter nennt mich Mi. Wie heißt du?

Und wo ist dein Namensschild?

Oh, wir tragen keine, aus Sicherheitsgründen.

Eunice rast aus dem Kiosk der Tankstelle und übergießt sich mit Benzin.

Miriam reagiert anders als die anderen: Sie bleibt ruhig, tröstet und zeigt Verständnis, in das sich später Faszination mischen wird. Im Vergleich zu ihrem eintönigen, eigentlich ungelebten Leben sieht das von Eunice aufregend und lebendig aus, jedenfalls ohne Angst. Miriams Ohnmacht, ihre stumpfe Sehnsucht, ihre Sprache aus Versatzstücken, die ihr an den Dingen haftendes Bewußtsein reproduziert, ihre geduldige Einsamkeit - ein von ihrer Schwerhörigkeit geprägter Solipsismus -, all das bringt sie in Gegensatz zu Eunice: unaufdringlich, sprachlos, enthaltsam, passiv und wie in Stupor abgetaucht.

Eunice verführt Miriam. Den Beginn dieser Liebe inszeniert sie als Schock: Eunice steht nackt in Ketten da.

Die Kamera fängt den eingeketteten Körper ein, zunächst in Distanz, dann betrachtet sie entlang der an den Ketten sich blaugeriebenen Haut die Details, die Tatoos: Kreuze, Schlangenmäander, Galgen und ein Zeichen, das die abstrakte Form eines Salamanders sein könnte, ein Salamander, der durch jedes Feuer geht. Der Körper wird zur Leinwand eines Bildes der Tortur und der Geißelung.

Im Liebesspiel verflüchtigt sich der Schock scheinbar unbemerkt.

Am Morgen nach der Liebesnacht ist für Miriam nur noch eine Mitteilung in weißer Schrift auf den Spiegel geschrieben: »Your not Judith«. Doch Miriam folgt Eunice wie in Trance.

Komm mit, Kleine!

Und sie fahren weiter auf den endlosen Autobahnen; die Orte wechseln: Raststätten, Motels, Parkplätze. Die Serviererinnen sind auch nicht Judith.

Und wir sehen von der Straße aus die leeren Landschaften und die vorbeirasenden Autos, die zu Streifen geworden sind im Vordergrund des toten Bildes.

Wer ist das? Deine Freundin Judith?

Die aus der Bibel, die hat 'nem Typ den Kopf abgehackt. Sie hat mit ihm gebumst, in dem Zelt, und ihm den Kopf abgehackt. Das hat sie für andere gemacht. Judith und Holofernes. Weißt du nichts von denen?

Ach, ich weiß überhaupt nichts.

Halt dich an mich, dann lernst du ’ne Menge.

Im Cockpit eines Lastwagens hören wir die Ketten klirren. Nach einem wilden Treiben tötet Eunice den Fahrer, wie sie alle Männer, mit denen sie Sex hat, tötet: Sie erschlägt ihn. Miriam wird den toten Körper finden, den Eunice schon vergessen hat.

Miriam fährt in den Wald, sie schleppt die Leiche in eine Mulde, um sie zu vergraben. Eunice gibt ihr dafür genüßlich ein Küchenmesser, was soviel heißt wie, ein Treppenhaus mit der Zahnbürste zu putzen.

Während Miriam die Maloche macht, flirtet Eunice in der Raststätte mit einer Serviererin.

Eunice geht zurück in den Wald.

Ich seh’ anderen Leuten wahnsinnig gern bei der Arbeit zu.

Danke! Danke!

Wofür?

Daß du zurückgekommen bist. Jetzt wird alles wieder gut. Schau, ich hab’ ein Loch gegraben, da ist sie jetzt drin.

Das hab ’ ich nicht von dir verlangt. Ich wollte, daß sie da liegen bleibt, wo sie jeder sehen kann. Jetzt hast du alles versaut. Tja, und ich muß es noch mal machen.

Tut mir leid, tut mir wirklich leid.

Eunice und Miriam sind ein Paar geworden, eine Bande, Nomadinnen, die die Welt und ihre Sitten verneinen und eine über alle Sinnzwänge erhabene, unbezwingliche Freiheit wollen. Aber im Innern dieser Vereinigung hockt der Alp. Miriam wird Komplizin und Dienerin; vampirisch ist alles Eigene aus ihr gesogen bis zur Selbstaufgabe. Bedingungslos soll die Liebe sein. Im Symbiotischen zeigt sich die Unmöglichkeit, Konflikte überhaupt bewußtzumachen. Das Versagen der Abhängigen, ihre Bedürfnislosigkeit, läßt das Ich verschwinden, und auf die suggerierte Unfähigkeit, den Zwang zu passivem, hörigem Verhalten folgt die Destruktion des Selbstbewußtseins. Die gemeinsamen Tötungsrituale versprechen dagegen nun Harmonie.

Miriam zeigt die Angst einer Ausgelieferten und Ohnmächtigen vor der allmächtigen, aber unidentifizierbaren Gefahr, die sie zu bewältigen sucht. Die Einfalt ihres Bewußtseins bricht zusammen in Angst, Schmerz und Erniedrigung. Getrieben von der selbstlosen Liebe einer Retterin, wird sie auch zur Töterin: Mitten im lauten Sexspektakel erschlägt sie einen Mann der Eunice mit der Brause.

Obwohl der Film mit den traditionellen Dichotomien von Gut und Böse operiert, wird aus dem narrativen Material eine andere Position deutlich: Das individuelle Handeln ist das Ergebnis von Interaktionen. Die Individuen agieren nicht absichtsvoll böse, ihre Aktionen haben keinen von ihnen gesetzten Sinn. Ihr Tun ist ohne Wert. In der Leere steht einzig das Verlangen; es treibt voran, ohne Wissen, es fordert Intensität, ohne Gefühl.

Wenn du das Gute willst, mußt du auch das Schlechte in Kauf nehmen. Sie wollte nicht fies sein, sie war einfach nur Eunice.

Die filmische Erzählung ist als Rückblende strukturiert: Vor einer Videokamera, in emotionslosem Tonfall und distanzierter Erzählhaltung kommentiert Miriam die Ereignisse aus der Erinnerung. Die Einstellung zeigt sie jeweils vor einer sterilen, weißgekachelten Wand. Mit harten Schnitten ist ihr Berichten von der Handlung abgesetzt. Das bewirkt Distanz, und das Geschehen bekommt eine Eigendynamik, die die Kamera mit dokumentarischem Blick aufnimmt und potenziert. Die in Schwarzweiß gefilmte Erzählsituation neutralisiert zusätzlich. Doch Miriam reflektiert die Ereignisse nicht, sie bleibt in Mimik und Sprache der gemeinsamen Sache treu verbunden über den Tod hinaus, den Tod der Eunice, die durch dieses Erinnern geheimnisvoll anwesend ist.

Gleichzeitig thematisiert ihre Treue ein Ideal: die Romantische Liebe. Und mit ihr die ersehnte Erlösung. Die Tonebene überlädt entsprechende Sequenzen leider illustrativ mit populären romantischen Liebesliedern: »Walking Back to Happiness«, »If There is a New Love in Your Heart«, »You Always Be Special For Me«, und kippt das Ideal der Romantischen Liebe in den Kitsch.

Wo überhaupt keine Sinnhaftigkeit mehr existiert, nur noch Wahn, sind jegliche Begrenzungen aufgelöst und geöffnet für eine Ununterscheidbarkeit von Faktischem und Fiktivem. Alles Mögliche kann simultan gelebt werden ohne Repräsentationsanspruch, es kann alles simuliert werden. Die mimetische Aneignung des Judith-Mythos widerspricht dem nicht, sie erscheint als Entwurf für eine große Erzählung, die, im Paket unter den Arm genommen, zum täglichen Versuch wird, das Unmögliche zu ermöglichen. Aber im Monolog der Performance kann das Rücksichtslose der Geste keinen Dialog erwirken, das Scheitern bleibt als Wiederholung von Einsamkeit und Isolation.

Ich könnte durch Wände gehen, seihst dann würde mich niemand beachten. Ich könnt' mich auch hier runterschmeißen, ich kam' wieder hoch wie ’n Gummiball. Man hat mich vergessen. Gott hat mich vergessen.

Wie kannst du nur so was Furchtbares sagen.

Er hat mich vergessen. Mich. Ich töte Menschen, und nichts passiert. Man möchte meinen, er streckt mich nieder oder legt mich in Fesseln, aber nein, nichts da, ich kann machen, was ich will. Er sieht mich nicht.

Find was ist mit Judith? Die hat dich nicht vergessen. Sie sieht dich.

Ja, aber was bringt mir das, wenn sie mich sieht, ich sie aber nicht. Überall suche ich nach ihr, aber ich kann sie nicht finden. Es ist so, als hätte ich mich in Luft aufgelöst.

Ich sehe dich.

Ich weiß, daß du mich siehst, aber bald kannst du mich auch nicht mehr sehen. Nein, bestimmt nicht. Ich werde zu dir halten, was immer du machst, nur um ’s dir zu zeigen.

Glaubst du, du machst einen guten Menschen aus mir? Bevor du einen guten aus mir machst, mache ich eher einen schlechten aus dir.

Sie sprechen miteinander auf einer Autobahnbrücke, doch zueinander kommen sie nicht; das Wasser ist viel zu tief. Scheinbar gegensätzlich können beide kein Du außerhalb ihrer Projektionen aufspüren, jede bleibt in ihrer Sehnsucht süchtig und verzweifelt.

Das Verlangen als Bedingung von Leben findet keinen Ort: im gesellschaftlichen Raum nicht, in der Liebesmöglichkeit von überforderten einzelnen nicht, und im Imaginativen des Mystischen fehlt der konkrete Körper. Im simulierten Raum erstarrt die Gewalt der Individuen zum Mythos, zum ewigen Ritual der Destruktion, demgegenüber es anscheinend keine Argumente gibt; unfähig gar zu selbstgewähltem Unglücklichsein, sind die psychischen Zustände auswechselbar, sie haben keinen Inhalt mehr als die Leere.

Töte mich! Das ist das, was ich mir wirklich wünsche. Jemanden, der mich tötet.

Also gut.

Eunice legt die Ketten ab. Butterfly Kiss: Die Wimpern küssen bis in den Schlaf. Der Morgen kommt früh. Das Meer wartet.

Jetzt!

Heftige Bewegungen empfangen den Tod. Im Wasser treiben die losen Seiten der Judith-Texte, die Eunice immer bei sich trug, davon. Miriam trägt die tote Eunice auf ihren Armen wie eine Pieta aus dem Meer, ihre Stimme ertrinkt in den Tränen.

Diese letzte Szene vermag in der erlösenden Entgrenzung des Todes intensive Zärtlichkeit und Trauer zu erzeugen. Der hingabevolle Moment wird in der Verdichtung des Unaussprechlichen erhaben. Das Schweigen der Bilder - jene Strategie der kontinuierlichen Sinnverweigerung - geht endlich über in die sinnstiftende Allegorie der Erlösung und die Macht der wortlosen Gebärde. Doch die in Slow motion gefilmte Szene gibt der Ästhetik Priorität; im verzögerten Bewegungsgang der Bilder ist das Finale als poetisches Konstrukt inszeniert. Von ihm geht eine soghafte Wirkung aus, die als libidinös im Sinne des Einlassens auf das Rauschhafte des Erlebnisses bezeichnet werden kann. Utopie und Dekadenz verklammern sich. Das Wahrgenommene ist auf sinnsiehe Vorgänge ohne Sinn bezogen, außer dem einen: die ästhetisch-emotionale Imagination zu erwirken.

Tötende Frauen - Mörderinnen - sind im Film keine Seltenheit, die Serienkillerin ist eine. Das Töten in Serie ohne affektives Motiv ist Zeichen für Maskulinität. In der Tradition der Täterinnen regiert das sanfte Töten im Kontext eines emotionalen Prozesses.

Der Film zeigt mit der Figur der Eunice eine Diabolin, eine die Ordnung Störende und Durcheinanderwerfende, die quer zu den Frauenbildern von Sanftmut, Güte und Friedfertigkeit als streunende Wilde, Verrückte, Wirre, Gefährdete inszeniert ist, und ebenso die Imitation der Männerbilder verwirft. Sie führt zum Verschwinden der Bilder in ein Dazwischen, das keine neuerliche Eindeutigkeit bietet und somit keine Identifikation. Ihre Negation der Ordnung schafft kein Gegen-Bild.

Die Figur zeigt die Zerstreutheit und Fragmentierung des Subjekts, das unabhängig von der Ratio, ziellos getrieben, ins Leere läuft.

Die Folgenlosigkeit ihrer Taten zeigt sich an der stummen Umwelt, in der Abwesenheit einer richtenden Instanz oder Ordnungsmacht. Die blutige Spur findet kein Bild: Die Serienkillerin, sie wird nicht gesucht, sie wird nicht einmal vermutet. Eunice richtet sich am Ende selbst mit der Befreiung durch den Opfertod.

Wo das sogenannte Wirkliche keinen Halt mehr gibt, dissoziiert das Subjekt ins Grenzenlose. Die Frage der Moderne: »Wer bin ich?« ist keine mehr, der Spaltung folgt die Unfähigkeit, in sich ein kathartisches Moment zu erreichen. Die Rettung ist eine inszenierte, die Erlösung ein zu großes Versprechen. Der Opfertod - jenes religiöse Prinzip - als radikale Befreiung von der unheimlichen Kraft, die man das Böse nennt, verweist auf einen Diskurs, den wie bei der Romantischen Liebe die Individuen schon längst nicht mehr repräsentieren, sie glauben nur daran.

Es gibt keinen Ort mehr für das Böse, ebensowenig wie es sich begrifflich fassen läßt. Das Böse ist banal und immer und überall möglich. - Unterm T-Shirt sitzt die Knarre. - Ohne Dämonie wuchert es an der Oberfläche.

Die Fähigkeit zur Verletzung, die Verletzungsmacht des Bösen, belebt das Ennui. Das ideale Selbst der Autonomie und Vernunft löst sich auf, und das innere Vermögen einer aufgeklärten Vernunft zerschellt am Irrationalen.

In einer Welt, die als ungeheurer und ungeheuer entfremdeter Ort erscheint, kann die Kohärenz nur simuliert werden. Die Grenzen zwischen Fiktivem und Realem verschwinden; mögliche Korrektive - individuelle und kollektive - ebenso. Übrig bleibt der phantastische, grenzenlose Monolog, der in sich behindert bleibt und verhindert, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich etwas vorzustellen. In der Distanz zum Du spiegelt sich die Distanz zum eigenen Ich. Im Film kann Eunice den Schmerz, den sie anderen zufügt, selbst schon nicht mehr spüren. Die Grenzen des Individuums können nicht mehr markiert werden, es kann sich weder darstellen noch als Spiegel fungieren, es wird zu einer Schaltzentrale aller möglichen Impulse.

Eine sinnstiftende Aussage über das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft läßt sich aus diesem Film nicht ablesen. Das Potential aus der Unabhängigkeit wird nur für das Destruktive genutzt. Ganz abgesehen davon, daß es absurd ist, von einer künstlerischen Position Antworten auf Fragen zu erwarten, an denen die abendländische Kultur bislang gescheitert ist, zeigt sich doch in der Unentschiedenheit kein Manko des Films, aber eine Qualität. Daß die Opferung keine Aussage ist, sondern Inhalt der Interaktion zweier Figuren, verweist auf die Position, das Böse im Film als ästhetischen Gegenstand zu sehen.

Die Darstellung des Bösen ist so sinnlos wie das dargestellte Böse selbst.

Auch die allegorische Bezugsebene des Films, sein Spiel mit der christlichen Passion, eignet sich nicht als Sinnebene. Die gezeigte Passion ist eine ästhetische.

Der Regisseur Michael Winterbottom beschreibt nur, er kommentiert nicht, er moralisiert nicht. Teilnahmslosigkeit, Unparteilichkeit, Unpersönlichkeit sind die bestimmenden Eigenschaften dieser narrativen Instanz. Selbst die grauenhaftesten Situationen, die Schilderungen des Häßlichen, Rohen, Trivialen werden sachlich gestaltet, fern jeder voyeuristischen Verführung. Das Geschehen ereignet sich scheinbar autonom. Die Zuschauenden sind mit den Ereignissen allein gelassen. Mit dieser Haltung gelingt es, die Figuren ohne klischierte und konstruierte Vorgaben vorzustellen, um sie quasi aus ihren Vor-Bildern in einen filmischen Text zu führen. Sie geben eben keinen Sinn mehr vor und stellen nichts mehr dar, was bis zur Unerträglichkeit ausgeweitet wird und die Erwartungen idealistischer Ästhetiken strapaziert. Den hoffnungsvollen Ausblick auf Veränderbarkeit negierend, behauptet der Film das Unvermögen der Kultur, die Gesellschaft moralisch zu bessern. Das Flaubertsche Schweigen der Bilder findet in der Distanz der Erzählhaltung eine Wiederholung: Die Bilder werden kalt, der Autor wird zum Auge.

Butterfly Kiss ist kein Kultfilm geworden wie Pulp Fiction zum Beispiel, in dem die Protagonisten das Böse zum Lacher machen; er kommt sehr ernst und ohne schwarzen Humor daher und ist deshalb in seiner Radikalität des Sinnlosen der Abwehr des Publikums ausgesetzt. Seine Protagonistinnen bauen keine charmante Brücke zum Gemüt der Zuschauenden.

Die Entwicklung der Thematik aus der Interaktion der beiden Frauenfiguren läßt szenenweise annehmen, es sei gar kein Film über das Böse, sondern über die Verzweiflung. Gegen die Ausgrenzung des Bösen aus dem philosophisch-ästhetischen Diskurs stellt dieser Film den utopischen Ansatz der Moderne, zwischen Gut und Böse klar unterscheiden zu können, in Frage und behauptet, daß das Namenlose unbegrenzter Vorstellungskraft durch keinen der bekannten Diskurse mehr kontrolliert werden kann. Und das heißt: Mit der Sinnlosigkeit geht eine Unberechenbarkeit einher, die im Erhabenen ein Bild findet, für das dieser Film ein kalter Spiegel ist.

Literatur

Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1965 (New York 1963).

Karl Heinz Bohrer, »Das Böse - eine ästhetische Kategorie?«, in: Merkur 6 (Juni 1985)

S- 459-473.

Gerburg Treusch-Dieter (Hg.), Das Böse ist immer und überall, Berlin 1993.

* Butterfly Kiss (GB) 1994. R: Michael Winterbottom. D: Amanda Plummer als Eunice, Saskia Reeves als Miriam u.v. a. 85 Minuten. (Zitate nach Synchronfassung der Videoausgabe, teilweise leicht gekürzt.)

Marion Strunk
Bild.Künstlerin.Dr.phil., Dozentin für Kunsttheorie an der Höheren Schule für Gestaltung Zürich.
(Stand: 2019)
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