So sehr sich die künftigen Welten unterscheiden, von denen Science Fiction (SF) berichtet - ihnen ist für gewöhnlich eines gemeinsam: Die menschlichen Körper und damit die menschliche Identität bleiben vertraut. Von allerhand Menschenähnlichem und Außerirdischem umgeben, werden die Bewohner der Zukunft selbst kaum angetastet. Ihre physische und psychische Veränderung oder gar Umwandlung gilt als Bedrohung, die oft die ganze Erzählung beschäftigt.1 Geradezu frivol hingegen erzählt die SF von der fernsten Zukunft, von Möglichkeiten, durch die Zeiten zu reisen, von Lichtjahre entfernten Orten, die sich spielend erreichen lassen. Das Genre entgrenzt das Raum-Zeit-Gefüge, das die uns bekannte Gegenwart prägt, und schildert scheinbar ungehindert imaginäre Welten und Gesellschaften. Sinnigerweise erschien eine der ersten Geschichten der sogenannten Scientific and Utopian Fiction unter dem Titel Pilgrims Through Space and Times (J.O. Bailey, New York 1947), und H. G. Wells, dem die Rolle eines der Ahnväter der SF zugesprochen wird, nannte eine Sammlung seiner Erzählungen Tales of Space and Time.
Doch die Menschen der Zukunft, die in dieser Erzählform lange Zeit »authentisch« erschienen (oder deren Authentizität wiederhergestellt werden muß), zeigen sich in der SF der letzten Jahre als immer weniger faßbar. Am deutlichsten läßt sich dies an den Körpern erkennen: Sie beginnen, sich mit Automaten, Computern und biotechnologischen Erzeugnissen zu verbinden, die nunmehr auch menschliche Eigenschaften aufweisen. Die Differenz zwischen Mensch und Maschine ist aufgebrochen, es entsteht Raum für neue Figuren, die weder Mensch noch Maschine sind, sondern beides zugleich.
Anhand dreier SF-Filme der neueren Generation will dieser Aufsatz das Aufbrechen der Mensch-Maschinen-Differenzierung nachzeichnen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine inhaltliche Erweiterung des Genres, denn die Fiktion, welche die gängigen Entgrenzungen von Raum und Zeit eigentlich unterwandert, entstellt nicht nur die Bilder der Zukunft, sondern verstört womöglich auch Vertrautes der Gegenwart.
Die Verwirrung menschlicher Identität: Blade Runner
Seit jeher gehören Maschinen, Computer, die wie Menschen denken, oder Androiden, jene Automaten, die den Menschen bis zur Verwechslung ähnlich sehen, zum Standardrepertoire der SF. Androiden und Roboter erhalten jedoch die Unterscheidung Mensch/Maschine nach wie vor aufrecht: Sie wird gar gefestigt, indem sich die Menschen letztlich eindeutig von ihren Erzeugnissen unterscheiden.2
In Blade Runner (Ridley Scott, USA 1979), einem der meistbeachteten Filme der neueren SF-Generation, wandelt sich indes der Status der Androiden auf eine bedeutsame Weise: Die Replikanten - rein äußerlich nicht oder nur mittels komplexer Testverfahren von Menschen zu unterscheiden - wissen nicht notwendigerweise, daß sie Androiden sind. Sie sind mit einer spezifisch menschlichen Eigenschaft, einer (allerdings künstlichen) Erinnerung, versehen. Gerade dies berechtigt eine Androidin, den Helden - einen professionellen Replikantenjäger - zu fragen, weshalb er die Tests nicht auch auf sich selbst anwende. Die Selbstgewißheit des Blade Runners, i. e. Replikantenjägers, ist damit untergraben. Denn wie läßt sich mit letzter Sicherheit eine Erinnerung als »natürliche« erkennen? Besitzt der Blade Runner nicht selbst künstliche Gedächtnisimplantate?
Die Verwirrung wird im Verlaufe der Erzählung immer deutlicher. Replikanten sind erschaffen worden, um neue Planeten zu kolonisieren, sind aber zum Schutz der Menschheit mit beschränkter Lebensdauer versehen. Dagegen rebellieren einige der Androiden, die sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden mögen. Sie kehren auf die Erde zurück, was ihnen unter Todesstrafe verboten ist, um den Konzern, der sie erschaffen hat, ausfindig zu machen. Doch die Replikanten sind inzwischen den Menschen auch intellektuell zumindest ebenbürtig und deshalb für ihre Jäger kaum zu fassen. Dennoch werden die rebellierenden Androiden - zunächst als bedrohliche Gestalten eingeführt - sukzessive »ausgeschaltet«. In der finalen Jagdszene wechseln allerdings flugs die Rollen: Der Jäger (Mensch) wird nun von einem Replikanten gejagt. Der letzte der rebellierenden Androiden, der sich als weit gewandter als sein Verfolger erweist, zeigt unversehens ein menschliches Antlitz. Er empfindet Mitleid gegenüber dem Blade Runner, den er besiegt hat, und rettet ihn vor dem Tod.
Während der Blade Runner wie ein Automat die Anweisungen seiner Vorgesetzten - Replikanten aus dem Verkehr zu ziehen - ausführt, überwindet der Replikant selbst sein Programm (»Überleben«), um einen Menschen zu retten, bevor die ihm zugedachte Zeit zu Ende geht. Dies ist insofern bemerkenswert, als keine Möglichkeit mehr besteht, dem Menschen etwas spezifisch Menschliches, dem Replikanten etwas spezifisch Maschinelles zuzuschreiben. Lediglich die rein physische Differenz zwischen Mensch und Replikant bleibt noch erhalten - aber nur so lange, wie Testverfahren bestehen, die eine eindeutige Bestimmung eines Replikanten zulassen oder einem Menschen versichern, eine eigene Geschichte zu haben. Doch dies wird bereits zu Beginn des Films in Zweifel gezogen.
Die Unterwerfung unter den maschinellen Code: Alien
In Alien (Anthony M. Dawson, GB 1979) wird die Mensch-Maschinen-Grenze aufgebrochen. Ein Notruf läßt die Besatzung eines riesigen, erzschleppenden Raumschiffs aus dem Tiefschlaf erwachen. Bei der Erforschung des Planeten, von dem das Notsignal stammt, wird das Gesicht eines Besatzungsmitglieds von einem krakenhaften Getier befallen. Es läßt sich trotz aller chirurgischen Bemühungen nicht entfernen, stirbt jedoch alsbald ab. Das tintenfischartige Tier hat aber ein Wesen in den anscheinend Geretteten eingepflanzt, das dieser mit einem sich plötzlich einstellenden Heißhunger nährt. Unversehens platzt es aus seinem Bauch und dezimiert nach und nach die Besatzung. Es zeigt sich in der Folge, daß derselbe Konzern, der den Raumschlepper auf Reisen schickte, auch am Alien brennend interessiert ist. Der außerirdische Organismus verspricht die Entwicklung eines perfekten Waffensystems. Entsprechend hat ein vorerst unerkannter Android als Schiffsarzt dafür zu sorgen, daß das fremde Wesen erhalten werden kann, selbst wenn die Crew dabei umkommt. Die Grausamkeit des Alien, die in der Folge auf beklemmende Weise vor Augen geführt wird, ergibt sich aber weniger dank seiner physischen Konstitution als aufgrund seiner tödlichen, erbarmungslosen Effizienz. Das Alien ist, wie die Besatzung erkennen muß, rationaler als sie selbst. Immer wieder zeigen die Besatzungsmitglieder Mitleid und werden gerade deshalb vertilgt. Das ausgewachsene Alien ist kaum in Bewegung zu sehen. Der glatte, schwarze Rumpf ähnelt der metallenen Oberfläche eines Automaten. Seine Mordwerkzeuge - ineinander verschachtelte Beißwerkzeuge, die langsam ausgefahren werden, sobald ein Opfer in der Nähe ist - erinnern eher an einen Präzisionsmechanismus als an etwas Organisches, Lebendiges. Das Alien ist sowohl außerirdische Lebensform als auch Maschine. Nur dadurch eignet es sich als Ausgangselement für ein Waffensystem, das der Konzern entwickeln möchte.
Die Besatzung selbst sieht sich in einen tödlichen Interessenkreis eingeschlossen, gebildet aus dem Androiden, dem Alien und dem fernen, aber zugleich präsenten Konzern. Sie wirkt dabei merkwürdig hilflos, antiquiert. Nicht nur dies: Die Menschen-Crew wird durch den Androiden gewissermaßen kolonisiert. Fatalerweise hat ein Besatzungsmitglied das Alien gar genährt und »geboren«. Der Konzern, der Android, das Alien: Sie alle zeichnen sich durch tödliche Effizienz aus, verhalten sich nach einem maschinellen Code, der - uneingeschränkt selbstbezogen - in blinder Rationalität seine Zielvorgabe verfolgt. Die Besatzung wird instrumentalisiert, ihre Leiblichkeit zerstört, um auf einer anderen Ebene der Rationalität - gebildet aus Konzern, Alien-Maschine und Android - aufgehoben zu werden, das heißt letztlich: als Menschen zu verschwinden.
Dieselbe Problematik, die auch Blade Runner beschäftigt, erscheint in Alien spiegelbildlich: Die menschliche Identität wird beibehalten, die Besatzung zeigt Mitleid im Gegensatz zu den Maschinen, die gerade keine menschenähnlichen psychischen Züge aufweisen. Alien problematisiert im Gegensatz zu Blade Runner die Menschenkörper-Maschinen-Grenze und bricht sie gar gewaltsam auf.
Das Drama der Entgrenzung: Johnny Mnemonic
Die Veränderungen des Verhältnisses Mensch / Maschine, in Blade Runner und Alien bereits angelegt, wird in Johnny Mnemonic (Robert Longo, Kanada 1995), einer der ersten Produktionen, welche die SF-Bewegung der achtziger und neunziger Jahre filmisch zum Ausdruck bringen wollen, deutlicher erkennbar. In der zweiten Hälfte des fiktionalen 21. Jahrhunderts sind multinationale Konzerne allgegenwärtig und beinahe allmächtig. Nur vereinzelte Guerillagruppen, die sich in den heruntergekommenen Zentren der Großstädte versteckt halten, leisten noch Widerstand. Es handelt sich um Hacker, Datenpiraten und Cyberpunks, die den Müll der Informationsgesellschaft unverfroren für den Krieg mit den Konzernen verwenden. Ihr Name LoTeks leitet sich von ihrer Praxis ab: Der Kampf mit den Konzernen um die Informationsströme wird mit Low-Technology geführt, dem Überbleibsel des High-Tech. Der Ort der Auseinandersetzung ist der Cyberspace. Doch der Kampf ist nicht bloß virtuell. Die Guerillas sind durch die Abwehrstrategien der Konzerne körperlich gefährdet. Die Gehirne der Hacker - physisch mit den elektronischen Netzwerken verkabelt - lassen sich durch bestimmte Computerprogramme zerstören. In brutalen, geradezu altertümlich anmutenden Kämpfen werden die Auseinandersetzungen auch auf der Straße ausgetragen, denn die multinationalen Konzerne scheuen sich nicht, die Yakuza, eine High-Tech- Mafia, in ihren Dienst zu nehmen, um ihre Hegemonie im Informationszeitalter zu festigen.
Johnny Mnemonic selbst ist ein Datenschieber, dessen Gehirn - durch ein elektronisches Implantat erweitert - große Mengen hochgeheimes Datenmaterial zu schmuggeln vermag. Das Gerät, mit dem die Daten übertragen werden, gleicht einem elektrischen Stuhl: Die Hände sind festgeschnallt, ein Helm mit einer unendlichen Menge von Kabeln sitzt auf dem Kopf, ein Beißschutz ist eingesetzt. Der Prozeß der Datenübermittlung durchschüttelt Johnnys Körper; Blut rinnt aus seiner Nase, die Gigabytes von Daten drohen seine Synapsen zu zerstören und ihn zu töten.
Kaum eine Person im Film besitzt einen Körper, welcher der Lehrbuchanatomie entspricht. Angefangen bei Johnny, seiner Leibwächterin, den Gangstern der Yakuza bis hin zum Barkeeper sind die Körper erweitert, durch die unterschiedlichsten technologischen Versatzstücke modifiziert. Den Biochips in den Gehirnen entsprechen die zu Waffensystemen umfunktionierten und erweiterten Gliedmaßen. Die Differenzierung Maschine/Mensch, vielmehr: die Problematik ihrer Aufrechterhaltung, ist nicht mehr Gegenstand der Geschichte, ihre Auflösung erscheint auch nicht als vernichtende Rationalität wie in Alien oder als Identitätskonfusion wie noch in Blade Runner. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine sind aufgehoben, Körper und Automat gehen ineinander über. Das sich ergebende Kontinuum ist nicht mehr der Problemhorizont der Erzählung, sondern wird zum selbstverständlichen Hintergrund einer beinahe klassisch anmutenden Kriminalgeschichte über korrupte Wirtschaftsmächte, Mafia und politischen Widerstand. Es scheint, als sei die Mensch- Automaten-Verkettung eine ebenso unentbehrliche Voraussetzung für die Geschichte wie die immensen Möglichkeiten der virtuellen Welt, der hochentwickelten Informationstechnologien.
Der Kampf im Cyberspace - in elektronischen Netzwerken ausgeführt, wo tödliche Computerprogramme lauern - findet jedoch auch seine direkte Entsprechung in den menschlichen Körpern, die von biologischen Viren zersetzt werden. Es handelt sich um eine Seuche, welche im 21. Jahrhundert das Kommunikationsnetz des Menschen, das Nervensystem, angreift, das durch die elektronische Überreizung geschwächt ist. Das Mittel zur Bekämpfung der Seuche wiederum wird von einem Pharma-Unternehmen aus Profitgründen zurückgehalten. Wie in Alien zeigt hier ein Konzern seine bedrohliche Seite. Die Körper der Menschen gelten wenig, drohen eingespannt zu werden in einen größeren, mitunter gar tödlichen Zusammenhang. Indem eine sich verselbständigende Software sich zuweilen »menschlicher« zeigt als andere Akteure (so eine virtuelle Beraterin des Pharma-Konzerns, die gegen ihre Erzeuger rebelliert), ist auch die Identitätskonfusion noch präsent. Doch im Gegensatz zu Alien und Blade Runner wird nicht mehr das Drama des Aufbrechens der Menschen-Automaten-Grenze in der nahen Zukunft erzählt. Dieses Schauspiel hat sich bereits ereignet, der Übergang von Menschen zu Maschinen ist kontinuierlich. Unversehens sind die pilgrims through space and time nicht mehr klar zu identifizieren.
SF und das utopische Verhältnis zur Gegenwart
Wie läßt sich nun dieses veränderte Verhältnis Mensch/Maschine deuten? Eine Erklärungsmöglichkeit könnte sich auf die Eigendynamik des SF-Genres berufen. Der alte, bekannte Stoff der Raum-Zeit-Entgrenzung hat sich aufgebraucht. Die Suche nach Neuem, nach Spektakulärem, mit dem das Genre gerne spielt, hat zu einer zusätzlichen Form von Entgrenzung geführt, die nun - wie in Johnny Mnemonic -bereits wie selbstverständlich auftritt. Die Bedeutung der »Selbstreferentialität« einer Gattung läßt sich nicht von der Hand weisen. Sie ist sicher notwendig für ein Verständnis der Prozesse inhaltlicher Veränderungen. Es fragt sich aber, ob diese Deutung hinreichend ist, das heißt zu erklären vermag, weshalb sich diese Entgrenzung ungefähr seit den achtziger Jahren deutlicher zeigt, weshalb sie nicht bereits während des ersten Booms des SF-Films in den fünfziger Jahren erscheint. Und warum tritt sie nicht gleichzeitig mit der Raum-Zeit-Überwindung auf?
Eine andere, ebenso beliebte wie naheliegende These besagt, daß die SF bestehende technologische Neuerungen aufnimmt und in die Zukunft extrapoliert. Sie nimmt Entwicklungen vorweg, warnt vor möglichen Gefahren oder verheißt kommendes Heil. Die Entgrenzung von Menschen hin zu Maschinen und die damit verbundenen Identitätskonfusionen sind dieser Auffassung nach »reale Probleme«, die sich in den technologischen Neuerungen abzeichnen. Der Begriff »artificial intelligence« mag davon zeugen. Für einen Teil des Genres trifft die Auffassung, die SF habe prognostische Fähigkeiten, gewiß auch deren Selbstverständnis. Bereits H. G. Wells mußte sich indessen darüber ärgern, daß seine SF-Stories nur nach ihrer technischen Glaubwürdigkeit beurteilt wurden, während der gesellschaftspolitische Gehalt seiner Geschichten eigentlich negiert blieb. Ob die beiden Autoren, deren Romane als Vorlage für Blade Runner und Johnny Mnemonic dienten, nämlich Philipp K. Dick und William Gibson, lediglich technologische Entwicklungen und ihre Folgeprobleme voraussehen wollten, darf aber mehr als bezweifelt werden.3
Es fragt sich, welche Aussagen gewonnen werden können, wenn einmal von der Eigendynamik des Genres und seiner möglicherweise prognostischen Kraft abgesehen wird. Die SF läßt sich zweifellos auch in die Tradition utopischen Denkens stellen. Rein gattungsgeschichtlich ist sie von der »klassischen Utopie« nicht klar zu trennen. Oft wird beides als Ausdruck »einer utopischen Einbildungskraft« gemeinsam diskutiert.4 Daß beispielsweise Aldous Huxleys Brave New World (1932) als negative Utopie (Dystopie) gilt und nicht als SF, hat weniger mit der Erzählung selbst zu tun als mit dem geringen kulturellen Prestige, das der SF lange Zeit anhaftete. Doch auch die utopischen Romane der vergangenen Jahrhunderte wurden keineswegs als literarische und philosophische Meisterwerke betrachtet, bis sie durch die politische Philosophie (vornehmlich Ernst Blochs und Karl Mannheims) gleichsam geadelt wurden. Insofern die angesprochenen SF-Erzählungen aber in einem gattungsgeschichtlichen Zusammenhang utopischer Darstellungen stehen, können sie auch daraufhin befragt werden, inwiefern sie mit den erzählerischen Mitteln des Genres arbeiten, sie fortführen oder modifizieren, um damit eine bestimmte »utopische Einbildungskraft« zu zeigen, zu ironisieren oder zu destruieren.
Zweifellos steht die Überwindung von Körpergrenzen in einer Tradition von Entgrenzungen, die bereits in der frühen literarischen Utopie auftauchen. Jenseits der Alltäglichkeit, des gemeinhin Vertrauten versuchten Utopien immer wieder einen Diskurs des Anderen, des ebenfalls Möglichen zu etablieren. In den Utopien der Neuzeit entdecken Raumreisende unbekannte, fiktive Inseln (Utopie von griechisch »ou« [»nicht«] und »topos« [»Ort«], übertragen also das »Nirgendwo«) mit Gesellschaften, deren Aufbau sich radikal von der gesellschaftlichen Realität, in welcher der Erzähler lebt, unterscheiden. Diese Form von Utopie legt als Projektion über die räumlichen Grenzen hinaus dar, daß die gegenwärtige Welt auch anders aussehen könnte. Sie taucht ungebrochen in der SF wieder auf, wenn Raumfahrer auf außerirdische Gesellschaften stoßen, deren Probleme merkwürdig vertraut erscheinen.
Doch die utopische Vorstellungskraft spielt auch mit anderen Formen von Entgrenzung. In der Erzählstruktur utopischer Literatur tritt ein Bruch auf, den der Historiker Reinhart Koselleck als »Verzeitlichung der Utopie« beschrieben hat.5 Die Vorstellung anderer Gesellschaften wird nicht mehr in den fernen Raum projiziert, erscheint nicht mehr als Gegenwelt, die zeitgleich an einem anderen Ort existiert, sondern wird zur Zukunft der eigenen Gesellschaft. Der Erzähler berichtet, was der eigenen Gesellschaft geschehen wird. Er glaubt zu sehen, was bereits in ihr an Zukünftigem angelegt ist. Anders als die utopischen Inseln steht die utopische Zukunftsgesellschaft damit direkt mit der Gegenwart in Verbindung. Es wird nicht mehr von einem potentiell Realen erzählt, sondern der Bericht versteht sich unumwunden als Imagination, die im Bestehenden gründet. Doch daß eine zukünftige Gesellschaft aufgrund der Gegenwart entworfen werden kann, ist an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Es braucht nämlich die Einsicht, daß die vertraute Zeit nicht ewig währt, sondern die Gesellschaft einem permanenten Wandel unterworfen ist. Die Gegenwart wird in ihrer bedingten Dauer erkennbar. Gerade diese Erkenntnis, die den unhinterfragten Horizont des gemeinhin Vertrauten verunsichert und ihm allenfalls für begrenzte Zeit Geltung zuschreibt, bildet den schier unerschöpflichen Fundus, der Zukunftsutopien und später die SF gedeihen läßt. Jenseits der Grenzen der Gegenwart bildet sich ein neuer Ort der Imagination.
Entlang der utopischen Tradition hat die SF einen eigenen, genrespezifischen Weg gefunden, Geschichten über die Zukunft zu erzählen. Der wissenschaftliche Entwicklungsstand und die Möglichkeiten von Technologien bilden jenen Maßstab, mit dem die erzählte Realität mit der Gegenwart in Beziehung gesetzt wird. In dem Maße, wie sich Technologien von den bekannten Erscheinungsformen und Möglichkeiten unterscheiden, signalisieren sie eine Welt, die nicht mehr alltäglich ist, die sich von der bekannten abhebt und so die genrespezifischen Imaginationen ermöglicht. Erstaunlich ist dabei, wie die SF immer wieder zukünftige Gesellschaften zu schildern vermag, wo doch die gegenwärtigen, ihre sozialen Verhältnisse, ihre technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen schwerlich als Ganzes begreifbar sind. Nach den Ausführungen Frederic Jamesons liegt gerade hierin die Bedeutung der SF6: Die Entstehung der Gattung, so Jameson, hängt mit der Tatsache zusammen, daß die gegenwärtigen Verhältnisse in eine längst nicht mehr begreifbare Vielfalt von Lebensverhältnissen und -perspektiven zerfallen sind, deren sich ständig potenzierende Komplexität sich gegenüber jeglichem einheitlichen Gesichtspunkt verwehrt. Das erzählerische Vermögen der SF vermag aber genau diese Unvorstellbarkeit zu umgehen. Indem die Gegenwart in der SF als bereits Geschehenes einer imaginären Zukunft erscheint, als deren Vergangenheit, als deren kollektives Gedächtnis, wird es möglich, einen Blick auf die Gegenwart zu werfen, die einen unmittelbaren Zugang verwehrt. Am ehesten ließe sich dies mit einer Art »gewendeten« oder »verkehrten« Nostalgie vergleichen. Das Schwelgen in Zeiten, die doch so anders waren, ruft letztlich die Jetzt-Zeit ins Bewußtsein, gerade indem sich diese von den Träumen über die Vergangenheit unterscheidet. Umgekehrt bedient sich die SF, so könnte man folgern, einer Nostalgie, deren Referenz die Zukunft ist. Mit anderen Worten: Die Vorstellung der Zukunft, die ganz anders ist, läßt als Kontrast die schwerverständliche Gegenwart begreifbarer erscheinen.
Doch was sich beim Betrachten alter SF-Filme zumindest vermuten läßt, zeigen Anthologien über die SF deutlich: Jede SF ist von einem bestimmten historischen und sozialen Ort aus entworfen, der unschwer zu erkennen ist. Dies führt zunächst zu einem (scheinbaren) Paradoxon: Die SF ist Ausdruck einer Zeit, die sich selbst gerade nicht zum Ausdruck bringen läßt. Indem die Zukunft der SF aus der Gegenwart hervorgeht, erweist sich die Fiktion des Kommenden somit nur als scheinbare Extrapolation: Sie ist in der Unvorstellbarkeit der Gegenwart verfangen. Es fragt sich nun, inwiefern jene Form der Entgrenzung, die im Körper-Maschinen-Kontinuum zum Ausdruck kommt, an dieser Funktion der SF etwas ändert.
Die Konfusion von Gegenwart und Zukunft
Die fiktive Zukunft wird in der SF gängigerweise nicht bloß über eine Jahreszahl im Vorspann zur Kenntnis gebracht, sondern auch mit einer suggerierten Homogenität der Welt, in der die Geschichte spielt. Das Los Angeles des Jahres 2010 in Blade Runner ist sogleich als ein anderes, zukünftiges Los Angeles zu erkennen. Die riesigen Haustürme, deren Fassaden als Videoschirme für Werbung dienen, die fackelnden Gasexplosionen der Industriebetriebe, welche die Stadt in ein merkwürdig fremdes Licht tauchen, dies alles markiert ein neues Jahrhundert, das aus der Gegenwart hervorgeht. Desgleichen repräsentiert in Alien der gigantische Erzschlepper die Vorstellung der Zukunft. Nur von einer kleinen Besatzung bedient, überzeichnet er die menschenleeren Hallen automatischer Fabriken der Gegenwart bis ins Alptraumhafte. In Blade Runner erinnern die Straßenszenen unmittelbar an heruntergekommene Innenstädte der Gegenwart. Die Homogenität der künftigen Gegenwart ist in Johnny Mnemonic aufgelöst. Die Szenerie ist von Ungleichzeitigkeit durchbrochen. Das Peking, in dem die Geschichte beginnt, wird von politischen Unruhen erschüttert, die an die reale, nahe Vergangenheit der Stadt erinnern. Aus der vertrauten Gegenwart gar scheint das Hotel zu stammen, in dem Johnny die Daten übergeben werden. Die futuristisch anmutende virtuelle Welt steht hingegen in krassem Gegensatz zum heruntergekommenen Zentrum einer Großstadt, deren Hinterhöfe aus einschlägigen Darstellungen allzu bekannt sind. Die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts ist mitnichten homogen, sondern Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit zugleich.
Wenn jedoch die Zeit uneinheitlich wird, die Orte merkwürdig bekannt erscheinen, dann verliert sich die Möglichkeit, jene Verfremdung in Ort und Zeit herzustellen, welche die SF für ihre Imaginationen benötigt. Johnny Mnemonic würde sich kaum von einem etwas bizarr geratenen Film Noir unterscheiden, wenn sich nicht der Vertrautheitsentzug über die Körper-Maschinen-Entgrenzung, über die Realität des Cyberspace herstellen ließe. Doch damit geschieht etwas, das nicht unbedeutend ist für die angesprochene Funktion der SF, eine zeitlich vorverlegte Erinnerung an die Gegenwart zu erzeugen. Denn was ist die Erinnerung von jemandem oder etwas, das sich gar nicht identifizieren läßt (als Mensch, als Kollektiv, als Maschine)?
In Blade Runner beginnt die Konfusion der menschlichen Identität, die von Maschinen simuliert oder vielleicht übernommen wird, indem es möglich wird, den Androiden künstliche Menschengedächtnisse einzubauen. Die Androiden wiederum beharren auf ihren Erinnerungen als Maschinen. Konsequent weitergeführt ist die Problematik in Johnny Mnemonic. Die Bezeichnung »mnemonic«, die Johnnys Namen vervollständigt, bedeutet »Gedächtniskunst«. Um die großen Informationsmengen in Johnnys Gehirn überhaupt speichern zu können, mußten Teile seines Gedächtnisses gelöscht werden. Johnnys Familienname ist durch den Namen der Speichertechnik ersetzt. »Just Johnny«, stellt er sich vor. Die Erinnerung an seine Kindheit, an seine Familie und damit seine Geschichte sind zugunsten von Konzerndaten gelöscht. Daten sind auch eine Form von Gedächtnis; sie verweisen auf etwas Vorgängiges, nämlich auf das, was sie als informativ hat erscheinen lassen. Aber die Informationen, die in den Computernetzwerken fließen, in den künstlichen Gehirnen, sind kaum solche, die sich zur Vorstellung einer Gegenwart, zur Simulation eines kulturellen Gedächtnisses eignen. In Johnny Mnemonic huschen sie über einen Bildschirm: Es sind abstrakte Formeln und Codes. Jene Nullen und Einsen, die im fließenden Übergang von den Hirnen zu Computernetzen strömen, hinterfragen - je beharrlicher die Entgrenzung vollzogen wird - jede Möglichkeit, überhaupt eine fiktive Zukunft als antizipierte historische Zeit zu erzählen.7
Was läßt sich nun aufgrund dieser Überlegungen zur Raum-Zeit-Körper- Entgrenzung folgern? Die Frage nach der Vorstellbarkeit der Zukunft, die Jameson im Anschluß an seine Diskussion der SF verneinte, wird hinfällig, wenn das Subjekt der Zukunftsvorstellungen selbst verschwindet. Nicht nur dies: Indem die Konstruktion der Zukunft verwirrt ist, zeigt sich auch deren Einschluß in eine Gegenwart, die sich selbst nicht begreifen kann, als nicht mehr zwangsläufig. Als seien sie von etwas Unmöglichem entlastet, werden die angesprochenen SF-Filme merkwürdig konkret. Sie beginnen zu benennen: Es ist ein Konzern, der in Blade Runner die Androiden zwar menschlich werden läßt, aber gleichzeitig zu einem unmenschlich kurzen Leben verdammt. Es ist ein Unternehmen, das in Alien das Raumschiff auf seine Mission schickt, auf der die menschliche Besatzung zum »Verbrauchsmaterial« wird, und es ist ein Pharma-Konzern, dessen Logik in Johnny Mnemonic die Eindämmung der Seuche verhindert. Die Kämpfe um ökonomisch relevante Information sind derweilen im jüngsten der Filme ungehindert ausgebrochen. Es scheint, als erwiesen sich die erwähnten SF-Filme als Erzählungen, die nicht vorausgreifen, nicht extrapolieren oder warnen, sondern unverhohlen identifizieren und artikulieren.8
Die Metapher der scheinbar allmächtigen und dennoch anonymen Konzerne läßt sich unschwer entziffern: Dahinter steckt die Wahrnehmung einer drohenden Unterwerfung, welche in früheren Dystopien noch vom Staat drohte. Nicht mehr die geheime Staatspolizei verängstigt, sondern ein abstrakter Code. Als einfache Chiffre nackter Rationalität findet er in einer ungehinderten, alles durchdringenden Effizienz seinen Ausdruck.
Diese Form der Entgrenzung zeigt jedoch eine durchgängige Ambivalenz, die sich als erzählerisches Spiel mit »Gefahren«, »neuen Chancen« oder »Ängsten« alleine schlecht begreifen läßt. Indem die künftigen Welten über das Kontinuum der Menschen hin zu Maschinen eigentlich entstellt werden, ist auch jener Zusammenhang ad absurdum geführt, der die SF immer wieder auf die Gegenwart zurückwirft und die Vorstellung von radikal Differentem verwehrt. Womöglich äußert sich der Diskurs des Anderen nun als bloß negativer, als eine Art Schweigen: Die Vorstellung einer menschlichen Identität hat sich irgendwo zwischen entgrenzten Körpern, Androiden und endlos vernetzten Computern verloren. Je konsequenter das Mensch-Maschinen-Kontinuum gedacht wird, desto unmöglicher erscheint es, Menschen nach einer bestimmten Zeit, nach einem bestimmten gesellschaftlichen Ort zu bezeichnen. Denn das, was ehemals definier- oder festschreibbar war, ist nicht mehr erkennbar - Metapher für die verlorene Utopie oder schlicht: Utopie?