SABINA BRÄNDLI

NAH AM WASSER (MARC OTTIKER)

SELECTION CINEMA

„Irgendwie am Rand“ fühlte er sich, bevor er sie kennengelernt hat. Seit Günther Franziska liebt, lebt er im Zentrum. Um ihr zu imponieren, klaut er ein Cabriolet und chauffiert sie ans Meer. Für Momente herrscht Leinwandfreiheit: Wind im Haar, Tempo, Meer und die traute Zweisamkeit der Ausreißer. Dann zerbricht das Idyll. Als Franziska klar wird, daß er den Schlitten geklaut hat, wendet sie sich ab: Sie will einen Mann, der sie beschützt, mit dem sie eine Familie gründen kann, keinen Kriminellen.

Marc Ottiker nähert sich einer ganz und gar unsympathischen Figur: Günther ist ein Mann fürs Grobe. Der auf den Transport von Klavieren spezialisierte Angestellte ist ein Unterhund, mit dem wir uns anfangs weder identifizieren noch solidarisieren wollen. Sein bulliger Bierkörper wirkt bedrohlich, seine sexistischen Sprüche widerlich, seine ungeschickte Anmache peinlich. In der Freizeit hängt er meist einsam am Tresen, obwohl er eigentlich Anschluß sucht. Ein Kollege, den er noch von der Schule her kennt, schleust ihn bei den Republikanern ein, eine Gruppe unternehmungslustiger Frauen schleppt ihn in eine Karaoke-Kneipe mit. Wenn er einmal selbst die Initiative ergreift, vermasselt er alles.

Durch Verfremdung gekennzeichnete Träume, Schwärmereien und Ängste des Protagonisten zeigen uns seine subjektive Perspektive. Langsam entwickeln wir so etwas wie Mitleid mit dem ungehobelten Fleischberg. Wenn Günthers Isolation am Schluß aufbricht und er seine Unfähigkeit, Kontakte aufzunehmen und zu pflegen, zumindest betrauert, haben wir ihn sogar ein bißchen liebgewonnen.

Marc Ottiker hat es sich mit dem Psychogramm des unsympathischen Außenseiters nicht einfach gemacht. Er konfrontiert uns direkt und konkret mit einer unschönen Realität, ohne uns den Ausweg einer distanzierten Verurteilung des lieblosen Milieus offenzulassen. Ottiker schafft es, die Figur in ihrer ganzen Unappetitlichkeit zu zeigen, ohne sic dem FI aß des Publikums auszuliefern. Lediglich bei der Darstellung der Republikaner schummelt der Filmemacher. Als ob er dem Publikum nicht Zutrauen würde, den Rassismus der Figur wahrzunehmen, ohne dadurch der Ideologie auf den Leim zu gehen, verzerrt Ottiker die Republikaner zu blut- geilen Dämonen und gibt diese Karikatur als subjektive Wahrnehmung des Protagonisten aus. Wohl aus Angst, falsch verstanden zu werden, kneift der Filmemacher in einem brisanten Moment der Entwicklung seiner Figur. Schade.

Doch es bleibt ihm hoch anzurechnen, daß er nicht um die Gunst des Publikums buhlt, sondern den steinigen Weg der Auseinandersetzung mit einem häßlichen Zeitgenossen wählt. Das Thema des Rechtsextremismus läßt sich freilich nicht mit dem Porträt eines Außenseiters bewältigen.

Sabina Brändli
geb. 1963, lic. phil. I, Filmwissenschaftlerin und Historikerin, Assistentin und Lehrbeauftragte an der Universität Zürich, dissertiert über Männer-Leitbilder im 19. Jahrhundert, Mitherausgeberin und -autorin von Sowjetischer Film heute, Baden 1990.
(Stand: 2019)
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