THOMAS SCHÄRER

RUHE UND UNORDNUNG (ANDREAS BERGER)

SELECTION CINEMA

Einen „Dokumentarfilm um Poesie, Gewalt und verschiedene Formen des (Über-)Lebens in einem reichen Land“ nennt Andreas Berger seine Bestandesaufnahme selbstbestimmter Existenz. Vier Jahre sind vergangen seit Berner beben, seiner Chronik der Berner Unruhen in den achtziger Jahren.

Berger porträtiert fünf Personen - die Pianistin Sandra Ryf, den Handwerker Werner Däpp, die Sekretärin Ottilia Hänni, die Gefängnisbetreuerin Susanne Marti und den Software-Entwickler Kerim Volkoviski. Sie alle verbindet eine kritische Haltung gegenüber der real existierenden Schweiz. Berger interessiert sich für ihren Alltag, für ihre Ideale und Utopien, für ihre Konzessionen. Die sechste Person - als „Gast“ angekündigt - ist der Berner Lyriker Kurt Marti, der aus seinem Buch Högerland vorliest.

Mit Absicht stellt Berger die ihn interessierenden Personen beim Pilze- und Beerensuchen, beim Gießen einer Topfpflanze und bei der Gartenarbeit vor. Diese Idylle ist trügerisch: Der Abriß einer Villa, rauchende Schlote im Gegenlicht, Betonorgien, Verkehrslawinen und eine Demonstration gegen Smog und den „Irrsinn der Normalität“ bilden das Kontrastprogramm. Sandra fragt sich, wie sie politisches Engagement und persönliche Verwirklichung zusammenbringen kann: „Es passieren so viele Schweinereien, daß ich fast ein schlechtes Gewissen habe, stundenlang hinter dem Klavier zu sitzen.“ Werner ist auf der Straße und in der Hausbesetzerszene kaum mehr aktiv. Viel wichtiger sind ihm jetzt, neben dem Pflegen der Gemeinschaft in der WG, die Verwirklichung von persönlichen Projekten. Seine Ideale versucht er nicht mehr global, sondern lokal zu verwirklichen. Susanne hat als Betreuerin im Frauengefängnis Hindelbank keinen leichten Stand. Für die Insassinnen verkörpert sie das „System“. Immer wieder hinterfragt sie ihre Rolle und versucht trotz den schwierigen Umständen, eine Vertrauensbasis zu den Frauen herzustellen. Kerim und Ottilia sind auf den ersten Blick am stärksten in die Gesellschaft integriert. Aber auch sie - Ottilia als autonome Gassenarbeiterin und Kerim als Homosexueller - geraten regelmäßig mit ihr in Konflikt.

Ruhe und Unordnung zeigt eine verbale Radikalität, die weitgehend in der Bewegung der achtziger Jahre verhaftet ist. Die Unruhe ist historisch und wird mit Videosequenzen aus vergangenen bewegten Zeiten heraufbeschworen. Heute ist es ruhig, nicht nur auf den Berner Straßen. Die Probleme, die zur Unruhe Anlaß gegeben haben, bestehen aber weiter. Werners Stillerwerden ist einigermaßen repräsentativ für viele engagierte Menschen. Leider thematisiert Berger dieses Phänomen nicht, obwohl er Kühe und Unordnung ausdrücklich als Fortsetzung von Berner beben bezeichnet.

Die Qualität des Films liegt in der Offenheit der Porträtierten, vor der Kamera grundsätzliche Fragen zu Lebensglück, Solidarität und Selbstverwirklichung zu erörtern. Es entsteht ein Puzzle, das aufzeigt, wie mit Lust Wege zu einem eigenbestimmten Leben begangen werden. Stellenweise erinnert Kühe und Unordnung an ein Glanzlicht des neueren Schweizer Dokumentarfilms: Reisen ins Landesinnere von Matthias von Gunten, ohne aber dessen Poesie und Eindringlichkeit zu erreichen.

Thomas Schärer
geb. 1968, studierte Geschichte und Film-/Theaterwissenschaft in Zürich und Berlin, seit 1991 freie (film)journalistische Arbeiten, ab 1992 Programmgestaltung an der Filmstelle der Zürcher Hochschulen.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]